Krise? Welche Krise? Eine Analyse von Krisenwahrnehmung und -verhalten von Fans des deutschen Fußballsports
Martin Kaden, Axel Faix, Sebastian Björn Bauers und Gregor Hovemann
FuG – Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, Heft 1-2023, S. 37-54.
Abstract: In jüngerer Zeit mehren sich Stimmen, die den deutschen Fußball in einer Krise sehen. Fraglich ist bisher allerdings, ob die Krisenwahrnehmung aus Sicht der Fans breitere Gültigkeit beanspruchen kann und welche Entwicklungen hierfür ursächlich sind. Offen ist auch, welche Reaktionen der Fans aus einer Krisenwahrnehmung folgen. Im Rahmen einer Online-Erhebung unter 1.697 Fußballfans in Deutschland nimmt sich der vorliegende Beitrag diesen Fragestellungen an. Hierbei werden mögliche Ursachen für eine Krisenwahrnehmung (starke Kommerzialisierung, geringe Integrität des sportlichen Wettbewerbs und der Interessenberücksichtigung bzw. Partizipationsmöglichkeiten von Fans) sowie Verhaltensweisen der Fans (Widerspruch und Bereitschaft zu einer Abwanderung) in ihren empirischen Zusammenhängen untersucht. Im Ergebnis liegt aus Fansicht eine recht starke Krise vor, wobei diese Wahrnehmung durch die angeführten Fehlentwicklungen nicht (Integrität) oder lediglich mittelbar (Kommerzialisierung und Partizipation) beeinflusst wird. Weiterhin fördert die Wahrnehmung einer Krise systematisch sowohl das empfundene Erfordernis zu Widerstand wie auch die Tendenz zum Exit vom Fußball.
Keywords: Loyalität, Abwanderung, Widerspruch, Anspruchsgruppen, Unzufriedenheit
1. Einleitung
Befindet sich der deutsche Profifußball in einer Krise? Folgt man einschlägigen Medienberichten, ließe sich die Vermutung bestätigen, denn dort findet der Begriff der Krise (Merten 2008; Naglo/Porter 2020) regelmäßig Verwendung.1 Fraglich ist jedoch, inwieweit die Wahrnehmung einer Krise aus Sicht der Fans, als eine der wichtigsten Stakeholdergruppen im Fußballsport (Senaux 2008), breitere Gültigkeit beanspruchen kann und welche Entwicklungen hierfür ursächlich sind. Es ist zu untersuchen, inwieweit die häufig kritisierte überzogene Kommerzialisierung, eine geringe Integrität des sportlichen Wettbewerbs sowie die schwache Berücksichtigung der Faninteressen (durch fehlende Partizipationsmöglichkeiten) hierbei maßgeblich sind. Offen ist auch, welche Reaktions- und Verhaltensweisen der Fans aus einer Krisenwahrnehmung systematisch folgen.
Dieser Artikel ist wie folgt gegliedert: Ausgehend vom aktuellen Literaturstand werden zunächst das Forschungsdesiderat aufgezeigt sowie die zugrundeliegenden Forschungsfragen abgeleitet. Die Herleitung der zur Beantwortung erforderlichen Hypothesen schließt sich unter Einbezug theoretischer Hintergründe an. Hiernach wird das methodische Vorgehen im Rahmen einer empirischen Online-Erhebung unter Fans nachgezeichnet und die akquirierte Stichprobe charakterisiert. Nachfolgend werden die ermittelten Resultate aufgezeigt und weiterführend diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit, das sowohl Implikationen für Theorie und Praxis als auch Ansatzpunkte für künftige Forschung beinhaltet.
Literaturübersicht und Forschungsfragen
Eine durchgeführte Literaturrecherche zur Thematik Fußball und Krisen bestärkt zunächst den Eindruck einer „inflationäre[n] Nutzung“ (Naglo/Porter 2020: 45) des Krisenbegriffs, wobei dieser zwar oft im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, nicht aber als fachlich spezifizierter Bezugspunkt wissenschaftlicher Arbeiten Verwendung findet (Merten 2008; Naglo/Porter 2020). Studien, die sich im Kontext des Fußballsports differenziert mit Krisen auseinandersetzen, liegen dagegen nur in moderater Zahl vor (vgl. auch Burk/Grimmer 2016 sowie Manoli 2016). Hierbei fehlt eine systematische Aufarbeitung des Krisenbegriffs aus Sicht des Fußballs unter Beachtung einer intensitätsbezogenen Ebene, da nicht bereits jede kleinere (subjektive) Problemwahrnehmung die Beurteilung einer Krise durch die Beteiligten mit entsprechenden Konsequenzen zur Folge haben dürfte (Coombs 2007). Unter den möglichen Stakeholdern fokussiert dieser Beitrag die Fans, welche nicht nur „längerfristig eine leidenschaftliche Beziehung [zum Fußballsport] haben und in die emotionale Beziehung zu diesem Objekt Zeit und/oder Geld investieren“ (Roose et al. 2017: 4), sondern in der Rolle der value co-creators aktiv zur Wertschöpfung von Sportveranstaltungen beitragen (Woratschek et al. 2020). Dies macht sie zu einer der wichtigsten Stakeholdergruppen für den Fußballsport (Senaux 2008).
Weiterhin zeigt die Literaturübersicht, dass vereinzelt einschlägige Studien existieren, welche das Konzept der Krise fundierter verwenden und sich nicht nur auf eine bloße Nutzung des Begriffs beschränken. Anzuführen ist hier die Arbeit von Naglo und Porter (2020) zum Wandel im Amateurfußball. Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung in der Literatur ist die Vermittlung von Informationen im Verlauf einer Krise, z. B. zur Beeinflussung von Stakeholdern. Beispiele für Krisenkommunikation durch Fußballorganisationen bieten Manoli (2016; englische Premiere League Clubs), Frederick et al. (2023; National Women’s Soccer League in den USA) Burk und Grimmer (2016; Fußball-Weltmeisterschaft 2014). Zudem richtet sich das Augenmerk auf die Krisenursachenforschung, die sich neben der namensgebenden Erklärung von Ursachen auch mit Verlaufstypen, Ausgängen und Wirkungen von Krisen befasst (Druker 2021). Im Fokus stehen dabei vornehmlich Proficlubs, die sportliche oder wirtschaftliche Krisen durchlaufen. Für den deutschen Profifußball können die Schriften von Druker (2021) und Faulstich (2022) angeführt werden. Druker (2021) nimmt sich der Entstehung und des Verlaufs von Krisen sowie ihrer Bewältigung auf Clubebene an. Faulstich (2022) fokussiert Faktoren, die sportliche und wirtschaftliche Krisen verursachen. Weiter befragen Benz und Gehring (2012: 284) Proficlubs aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, welche sich „in einer nachhaltigen finanziellen Krise befanden“, zu ursächlichen Entwicklungen. Terrien et al. (2023) setzen sich mit ökonomischen Krisen im Fußballsport auseinander, fokussieren dabei aber Clubs aus dem französischen Amateurbereich.
Unter Erfassung von Krisen als „Brüche in Routinen, die die Legitimität sozialer Welten bedrohen und […] nicht selten essentieller Stimulus und Handlungsmotivation“ (Naglo/Porter 2020: 45) sind, muss eine hohe Komplexität und Diversität relevanter Literatur konstatiert werden. So lassen sich aus Sicht der Fans verschiedenste Fehlentwicklungen im Kontext des Fußballsports identifizieren, welche den Charakteristika von Krisen entsprechen, auch wenn betreffende Studien keinen unmittelbaren Bezug zum Begriff bzw. Konzept der Krise herstellen. Präsent tritt dabei die Entwicklung einer fortschreitenden Kommerzialisierung hervor, wobei Werte und Verhaltensweisen von Fans mitunter annihiliert werden, so z. B. angestammte Stadionbesuche infolge gestiegener Ticketpreise (Tinson et al. 2023). In Konsequenz einer zunehmenden Kommerzialisierung führen Studien neben einem vehementen Widerstand vonseiten der Fans (Merkel 2012; Kaden et al. 2024), auch eine Beeinträchtigung der emotionalen Beziehung zu den favorisierten Clubs an (Busse/Damiano 2019; Kaden et al. 2023). Gleichsam darf eine Beeinträchtigung der Integrität sportlicher Wettbewerbe aus Sicht der Fans mit dem Konzept der Krise in Verbindung gebracht werden, geben doch annehmbare „Mindestniveaus von Wettbewerbsintegrität“ (Thieme/Lammert 2013: 573) grundsätzlich den Ausschlag einer werthaltigen Nachfrage vonseiten der Zuschauer. Zuletzt haben Lammert et al. (2023) auf eine mögliche Beeinträchtigung der Integrität durch (stärkere) Investorenbeteiligungen (und nachfolgende Beeinflussungen der Marktmacht) hingewiesen, wobei sportlicher Erfolg nicht mehr allein auf gutes Wirtschaften zurückgeführt werden kann. Auch Studien, welche sich im Kontext des deutschen Fußballsports mit einer Vernachlässigung von Faninteressen sowie Beschränkungen von Partizipationsmöglichkeiten befassen, können ersichtlich mit dem Konzept der Krise in Verbindung gebracht werden. So konstatieren Adam et al. (2020) exemplarisch anhand von Ausnahmen und Umgehungen der 50+1-Regel eine erhebliche Schwächung der Einflussmöglichkeiten, welche sich respektiven Vereinsmitgliedern bieten. Restriktionen dieser Möglichkeiten können auch als Abkehr von einer traditionellen Berücksichtigung bzw. Beteiligung von Fans und insofern auch als Bruch mit hergebrachten Routinen im Sinne einer Krise erachtet werden (Adam et al. 2020; Kaden et al. 2023; Naglo/Porter 2020). Studien, welche Erhalt und Befürwortung jener Möglichkeiten vonseiten der Mitglieder/Fans belegen (u. a. Bauers et al. 2020; Brandt et al. 2023), unterstreichen nochmals nachdrücklich den Bezug zur Krisenthematik.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass in der Literatur sowohl Krisenwahrnehmung als auch das mögliche Reaktionsverhalten von Fans nicht unmittelbar oder nur am Rande thematisiert werden (z. B. bei Frederick et al. 2023 oder Burk/Grimmer 2016). Ausführungen wie: „The sports industry in general and the football industry in particular have faced numerous crises of various nature and size. From individual players’ and managers’ personal and family scandals to clubs’ financial problems and organizational-structure issues, the industry has experienced unexpected events with high frequency“ (Manoli 2016: 343f.) und Studien zur Krisenursachenforschung legen den Schluss nahe, dass der Fußball gerade auch in jüngerer Zeit anhaltend von verschiedensten Krisen betroffen ist. Auch diverse Studien zu Fehlentwicklungen im Kontext des Fußballsports, welche sich begründet und eingehend mit dem Konzept der Krise in Verbindung bringen lassen, unterstreichen diesen Umstand. Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwieweit die im Fokus dieses Beitrags stehenden Fans aktuell eine Krise wahrnehmen und welche Entwicklungen hierbei ursächlich sind. Weiter ist zu klären, welche Verhaltensweisen der Fans aus einer Krisenwahrnehmung folgen (können). Statements wie: „Multiple crises may be enough to cause fans to rethink their support for a team“ (Coombs 2018: 19) weisen auf ernstzunehmende Konsequenzen hin. Zusammenfassend lässt sich ein Forschungsdesiderat in Hinblick auf eine differenzierte Krisenursachenforschung, in Verbindung mit der Wahrnehmung und in dem nuancierten Verhalten von Fußballfans identifizieren, das anhand der aktuellen Situation im deutschen Profifußball aufgearbeitet werden soll.
Die Forschungsfragen dieser Studie lauten wie folgt:
1) Wird der Fußball in Deutschland von Fans gegenwärtig als in einer Krise befindlich wahrgenommen und wenn ja, welche Entwicklungen sind ursächlich für diese Krisenwahrnehmung?
2) Welche Verhaltensweisen von Fans folgen aus einer wahrgenommenen Krise des deutschen Fußballs?
1 Um nur zwei Beispiele zu nennen: Savignano (2023) „Bringen unsere Talente nicht auf den Platz“ – Meinungen zur Krise des deutschen Fußballs; Suchsland (2023) Was die Krise des deutschen Fußballs über den Zustand unserer Gesellschaft verrät.
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