Geschlechtliche Selbstbestimmung, ‚Mensch-Sein‘ und koloniale Gewalt

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2-2023: Menschenrechte, ‚biologische Fakten‘ und binäre Geschlechter: Koloniale Geschichten der transantagonistischen Gegenwart

Menschenrechte, ‚biologische Fakten‘ und binäre Geschlechter: Koloniale Geschichten der transantagonistischen Gegenwart

Jonah I. Garde, Yv E. Nay

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 2-2023, S. 38-50.

 

Aktuell wird im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus kontrovers darüber debattiert, ob der Zugang zu medizinischer und rechtlicher Selbstbestimmung des Geschlechts erleichtert werden soll. An dieser Diskussion sind unterschiedliche Akteur_innen beteiligt: Politiker_innen, die Rechtsentwürfe vorlegen, diskutieren und verwerfen, trans* Verbände und Aktivist_innen und ihre Verbündeten, die auf der Straße und im Parlament mehr Rechte einfordern, sowie geschlechteressentialistische Feminist_innen, rechte, rechtsextreme und klerikale Akteur_innen, die an der Vorstellung einer ‚biologischen‘ und damit ‚objektiven‘ Zweigeschlechtlichkeit festhalten (Pearce/Erikainen/Vincent 2020; Bassi/LaFleur 2022). Diese sehr unterschiedlichen Akteur_innen und ihre Positionen prägen die öffentliche Debatte rund um geschlechtliche Selbstbestimmung.

In unserem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie diese aktuellen Aushandlungen im Rahmen von trans* Aktivismus zu verstehen sind und erörtern deren historische Verfasstheit. Dazu untersuchen wir zunächst, wie politische Bestrebungen zur Entpathologisierung medizinischer und rechtlicher Regulierung geschlechtlich vielfältiger Lebensweisen auf der Vorstellung geschlechtlicher Selbstbestimmung als Menschenrecht gründen. Darauf aufbauend widmen wir uns der Rolle, die der Biologie in diesen Diskussionen zukommt, analysieren die historische Verfasstheit der Vorstellung ‚biologischer Zweigeschlechtlichkeit‘ und setzen uns kritisch mit dem Konzept des ‚Mensch-Seins‘ auseinander. Wir zeigen, wie all diese aktuellen Auseinandersetzungen über die Definition von Geschlecht und geschlechtlicher Selbstbestimmung eine Fortführung der Kämpfe um die Kategorie ‚Mensch‘ darstellen und wie diese durch historisch geformte koloniale Gewalt geprägt sind. Schließlich fragen wir danach, welche Konsequenzen diese Auseinandersetzung und deren historische Verfasstheit für das Wissenschaftsfeld der Trans Studies hat und plädieren für ein Verständnis von Trans Studies, welches eben jene Grenzziehungen und deren Gewalt kritisch analysiert.

Trans* Rechte als Menschenrechte – Trans* aktivistische Forderungen nach medizinischer und rechtlicher Selbstbestimmung von Geschlecht

Politischer Aktivismus, der von trans* Personen und ihren Verbündeten initiiert wurde, hat insbesondere im vergangenen Jahrzehnt die Aufmerksamkeit von Politiker_innen, Gesetzgeber_innen und der allgemeinen Öffentlichkeit für die zahlreichen Diskriminierungen geschärft, denen trans* Personen gegenüberstehen (Balzer/Hutta 2014; Nay 2019; Vidal-Ortiz 2020). Politische Kämpfe von und für trans* Personen haben in den Bereich der medizinischen Regulierung transgeschlechtlicher Identifikation und Verkörperung interveniert. Ein Schwerpunkt trans*aktivistischer Bekämpfung geschlechtlicher Diskriminierung liegt auf der Forderung nach medizinischer und rechtlicher Selbstbestimmung von Geschlecht. Das führte durchaus, wie wir nachfolgend zeigen, zu Bedeutungsverschiebungen und Neubezeichnungen für nicht norm-konforme geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen in den international anerkannten und angewandten Diagnosesystemen International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie im international einflussreichen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association (APA).

Auf globaler Ebene wurden sowohl sexuell als auch geschlechtlich vielfältige Lebensweisen erstmals im Jahr 1952 im DSM als ‚Homosexualität‘ pathologisiert. Nach Interventionen von internationalen LGBT*IQ Bewegungen und verbündeten Mediziner_innen und Wissenschaftler_innen wurde diese Diagnose 1973 durch eine abgemilderte Kategorie ‚Sexual Orientation Disturbance‘ ersetzt und schließlich 1986 gänzlich gestrichen. Parallel dazu wurde 1968 die Klassifikation ‚Transvestismus‘ eingeführt, die 1980 durch eine Ausweitung der Pathologisierung der Geschlechtsidentität durch die Diagnosen ‚psychosexuelle Störung‘, ‚Transsexualismus‘ und ‚Geschlechtsidentitätsstörung bei Kindern‘ ergänzt wurde. Im aktuell gültigen DSM-V, das seit 2013 in Kraft ist, werden geschlechtliche Identifizierung und Ausdruck unter der Kategorie ‚gender dysphoria‘ diagnostiziert (APA 2013).

Im zweiten international angewandten Diagnosesystem ICD erfolgte die Einführung von Diagnosen spezifisch zu Geschlechtsidentität durch die Klassifikation ‚Transvestismus‘ im Jahr 1965, die 1975 durch ‚Transsexualismus‘ ersetzt wurde. Während ‚Homosexualität‘ im Jahr 1990 als psychopathologische Kategorie aus dem ICD-10 gestrichen wurde, fand zeitgleich eine Erweiterung der Psychopathologisierung der Geschlechtsidentität statt. So wurde 1993 die sogenannte ‚Ich-dystone sexuelle Orientierung‘ sowie die erweiterte Diagnosekategorie der Geschlechtsidentitätsstörung im Kapitel zu ‚Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen‘ in den Diagnosekatalog eingeführt (WHO 1993). Dieser verstärkten Psychopathologisierung haben international und lokal organisierte trans* Aktivist_innen und ihre Verbündete mit jahrzehntelangem politischem Druck wirksam entgegengewirkt. Neuerdings werden im ICD-11 von 2022 transgeschlechtliche Identifikation und deren Ausdrucksformen nicht mehr als psychische Erkrankung katalogisiert, sondern unter dem Kapitel „Sexual Health“ als „gender incongruence of adolescence and adulthood“ definiert (WHO 2022). Letzteres wird von vielen trans* Aktivist_innen als herausragende Errungenschaft in ihren Bestrebungen hin zu einer Entpathologisierung von nicht norm-konformer geschlechtlicher Identifikation und Verkörperung betrachtet (ebd.; Suess Schwend 2020). Allerdings wird die Psychopathologisierung von Geschlechtsidentität und -ausdruck bei Kindern auch im aktuellen ICD-11 beibehalten.

In diesem Wandel von Vorstellungen von und Wissensproduktionen über Geschlecht in den Diagnosesystemen über die Jahrzehnte hinweg zeigt sich, wie mittels der Einführung, Neubezeichnung, Umdefinition und Ausdifferenzierung der medizinisch-psychiatrischen Pathologisierung von Geschlecht und Sexualität heteronormative Zweigeschlechtlichkeit hergestellt und gefestigt wird. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die Diagnosesysteme auf kolonialen Logiken basieren. So ist die Diagnose ‚Transsexualismus‘ historisch mit weitverbreiteten Verboten von Crossdressing im Zuge der Kolonisierung durch europäische Mächte verknüpft. Wie das Projekt Transrespect versus Transphobia des Dachverbandes trans*aktivistischer Organisationen in Europa und Zentralasien Transgender Europe (TGEU) festgehalten hat, beruht die Pathologisierung und Kriminalisierung von Crossdressing unter der Diagnose ‚Transsexualismus‘ auf Gesetzen der Kolonialmächte in den Kolonien beispielsweise in Nigeria, Samoa und Tonga (Balzer/Hutta 2012). Mit derartigen Verboten von Crossdressing – und darüber hinaus auch mit der Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen (Somerville 2000) sowie der Verweigerung von Heirats-, Familien- und Verwandtschaftsrechten (Spillers 1987; Spillers et al. 2007) – wurden kolonisierte Personen nach zweigeschlechtlichen, heteronormativen und weiß-zentrierten Normen diszipliniert und kriminalisiert mit dem Ziel, Bevölkerungs- und Reproduktionspolitik zum Zwecke der Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft zu betreiben. Die Herstellung und Institutionalisierung von weiß-dominierter heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit wurde zum gesellschaftlichen Ordnungsprinzip sowohl in den Kolonien als auch in den sich bildenden europäischen Nationalstaaten. Dieses koloniale Ordnungsprinzip diente dazu, die Bevölkerung für die rassisierte kapitalistische Produktion und die biologische und ökonomische Reproduktion nutzbar zu machen (McClintock 1995).

Die hier deutlich werdende biopolitische Verquickung von medizinisch-psychiatrischer Pathologisierung und der (Nicht-)Erlangung von Rechten für ein selbstbestimmtes Leben entlang von Geschlecht und Race lässt sich in den aktuellen Debatten rund um die Forderungen von trans* Personen nach dem Recht auf Anerkennung eines selbstbestimmten Geschlechtseintrags durch Nationalstaaten wiederfinden. Zahlreiche nationale Regulierungen gründen auf die erwähnten Diagnosen des ICD und DSM als notwendige Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung von trans* Lebensweisen. Mitunter verlang(t)en diese zwingend eine medizinische Veränderung des Körpers oder gar die Entfernung von Reproduktionsorganen (Suess Schwend 2020; TGEU 2022; de Silva 2018; Baumgartinger 2019). Diese Verknüpfung von medizinischer und rechtlicher Regulierung von Transgeschlechtlichkeit greift tief in die Selbstbestimmung von trans* Personen ein. Dementsprechend stellt das Council of Europe fest: „Severe violations of human rights occur in relation to legal gender recognition” (Council of Europe 2015, 1). In einigen Staaten1 wurden deshalb mittlerweile neue rechtliche Regulierungen für trans* Personen ausgearbeitet oder sind in Vorbereitung, die auf der Selbstdeklaration von Geschlecht basieren und keine komplizierten, pathologisierenden, gesundheitsgefährdenden und kostspieligen Verfahren verlangen (Council of Europe 2022).

Die partielle Entpathologisierung von Transgeschlechtlichkeit wurde hauptsächlich von trans* Aktivist_innen initiiert, indem sie das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Geschlechts eingefordert haben und weiterhin einfordern. Diese selbstbestimmte Entscheidung über die rechtliche geschlechtliche Zuordnung und der gegebenenfalls gewünschten medizinischen Unterstützung wird – wie im oben aufgeführten Zitat des Council of Europe deutlich wird – als Menschenrecht beschrieben, das auf dem Grundsatz der Erklärung der Menschenrechte basiert, demzufolge „all human beings are born free and equal in dignity and rights” (United Nations 1948, Article 1). Dieses Verständnis von trans* Rechten als Menschenrechte ist eine aktuelle Reaktion auf das gewaltvolle Regime der Zuordnung in ein normativ verengtes Verständnis von Geschlecht als heteronormative Zweigeschlechtlichkeit (Balzer/LaGata 2014). Trans* Aktivist_innen greifen damit in die Definition von Geschlecht und geschlechtlicher Selbstbestimmung ein, indem sie sich in die Kategorie ‚Mensch‘ einschreiben.

Damit geht eine Vorstellung eines selbstbestimmten trans* Subjekts einher, die sich in die hegemoniale Definition von ‚Mensch-Sein‘ einschreibt. Diese Vorstellung gründet allerdings auf verschiedenen problematischen Momenten. So wird in den Diskursen auf ein Verständnis eines autonomen und kohärenten Subjekts zurückgegriffen, das nur für gewisse trans* Personen erreichbar ist. Denn die selbstbestimmte trans* Person als ein staatlich anerkennbares Subjekt, das staatlich legitimierte Rechte und medizinisch institutionalisierte Gesundheitsversorgung erlangen kann, ist eine normativ aufgeladene Figur. Wie Adrian de Silva (2018) sowie Tamás Jules Joshua Fütty (2019) für den bundesdeutschen Kontext und Persson Perry Baumgartinger (2019) für Österreich herausgearbeitet haben, erweitert die Forderung nach Menschenrechten die gesellschaftliche Teilhabe gewisser trans* Personen, während sie zugleich Ausschlüsse von trans* Personen, die diesen normativen Vorstellungen eines selbstbestimmten Subjekts nicht entsprechen können oder wollen, (re-)produziert. Als nicht selbstbestimmte und folglich nicht anerkennbare trans* Personen gelten diejenigen trans* Personen, die den neoliberalen Anforderungen nicht entsprechen, d.h. die finanziell nicht für das eigene Leben aufkommen können, keine oder nicht die ‚richtige‘ Staatsbürger_innenschaft besitzen, mental und körperlich nicht leistungsfähig sind oder kriminalisiert werden. Diese Ausführungen zeigen, dass trans* politische Kämpfe um Menschenrechte paradoxe Effekte haben. Der partielle Einschluss geht einher mit gleichzeitig trans*normativen Ausschlüssen von ungleich positionierten trans* Personen.

Eine weitere Strategie im Kampf um rechtliche Anerkennung, die darauf abzielt, dem transantagonistischen Argument der vermeintlichen natürlichen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen zu begegnen, ist der Verweis auf (biologische) Studien, die die geschlechtliche Diversität des Menschen betonen. Indem trans* Aktivist_innen und ihre Unterstützer_innen wie beispielsweise die Aktion Transsexualität und Menschenrecht (2013) auf andere, ‚bessere‘, oder ‚richtigere‘ biologische Studien verweisen, die darlegen, dass der menschliche Organismus keineswegs zweigeschlechtlich organisiert ist, versuchen sie, transantagonistischen Argumenten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dies führt jedoch nicht nur zu einer paradoxen Rezentrierung der Biologie als ‚objektiver‘ Wissenschaft, sondern ruft darüber hinaus eine universelle Figur ‚des Menschen‘ auf, die durch eine bis heute währende koloniale Gewalt hergestellt wurde. Um besser zu verstehen, wie aktuelle Auseinandersetzungen um trans* Rechte als Menschenrechte mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben sind, zeichnen wir im Folgenden die Verflechtung der Vorstellungen einer scheinbar klar abgegrenzten Geschlechterbinarität und einer vermeintlich ,zivilisierten weißen Rasse‛ als Grundlage für die Konstruktion der universellen Figur des Menschen nach.

Anmerkungen
1 Beispielsweise in Portugal, Spanien, Finnland, Norwegen oder in der Schweiz.

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