„Wir brauchen eine auf Evidenz und Solidarität fußende Abwägungskultur.“ – Interview mit Ortwin Renn, Autor von „Gefühlte Wahrheiten”

Cover "Gefühlte Wahrheiten"

Gefühlte Wahrheiten
Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung

von Ortwin Renn (3., aktualisierte und erweiterte Auflage)

 

Über das Buch

Wir befinden uns in einem Zeitalter überlappender Krisen: Corona-Pandemie, die Invasion Russlands in die Ukraine, steigende Inflationsraten, sich verschärfender Klimawandel, Gasknappheit. Wie sollen wir mit diesen Krisen umgehen? Wie können wir entscheiden, was stimmt, welche Maßnahmen wirkungsvoll und gerechtfertigt sind und was moralisch geboten ist? Wo werden wir Opfer von „Fake News“ und wo nutzen Populisten und Populistinnen die Angst der Menschen aus? In diesen unübersichtlichen Zeiten wächst das Misstrauen in die Politik. Die Fairness der Wirtschaft wird bezweifelt und die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Frage gestellt. Über vertiefende Einblicke in die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft und in die intuitive Wahrnehmung von komplexen Zusammenhängen veranschaulicht der Autor Wege aus Überforderung, Angst und Verunsicherung. Zudem soll mit diesem Buch mehr Zutrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit bei der Bewältigung kollektiver Herausforderungen geweckt werden.

 

Lieber Ortwin Renn, worum geht es in Gefühlte Wahrheiten?

Wir leben in einer Welt voller Zweifel und Widersprüche, wenn es um die Fragen nach dem Grad der Bedrohlichkeit und Gefährdung von technischen, gesundheitlichen oder sozio-politischen Bedrohungen geht. Gerade erleben wir eine Vielzahl von Krisen: der Krieg gegen die Ukraine, die Klimakrise, die Energiekrise, hohe Inflationsraten und die noch immer grassierende Pandemie. Wie gefährlich sind alle diese Bedrohungen und wie kann man sich selber als Bürgerin oder Bürger dagegen schützen? Wie sollte man mit den vielen Risiken, denen wir ausgesetzt sind, klug umgehen? Wie steht es mit den Nebenwirkungen von Impfungen? Wie gefährlich sind Pestizidrückstände in Lebensmitteln? Sollte man gentechnisch veränderte Lebensmittel essen? Sind Flüchtlinge eine Bedrohung für die Gesellschaft oder vielmehr eine Bereicherung?

Alle diese Fragen bewegen Menschen. Dabei sind sie für die eigene Orientierung auf Informationen durch Fachleute, vor allem aus der Wissenschaft, angewiesen. Hier erleben sie aber häufig ein Wirrwarr an Behauptungen und Erklärungen, die zwischen Untergangsprophezeiungen und Verharmlosungen hin- und herschwanken. Wem kann man noch glauben? Zudem gibt es auch in der Wissenschaft wenig Gewissheiten, viele Aussagen sind auf Wahrscheinlichkeiten beschränkt. Was können Menschen tun, um dem Bedürfnis nach unparteiischer und problemgerechter Information zu entsprechen? Wie kann man fake news von wahrheitsgemäßen Aussagen unterscheiden?

Auf all diese Fragen geht das Buch ein. Es zeigt die Potenziale, aber auch Grenzen und Unsicherheiten wissenschaftlicher Beweisführung auf und erklärt die psychischen und sozialen Mechanismen, die unsere Wahrnehmung prägen, aber uns auch oft in die Irre führen. Das Buch gibt Orientierung, für alle die, die sich nicht von gefühlten Wahrheiten, populistischen Vereinfachungen und Verschwörungserzählungen, sondern vom aktuellen Stand des Wissens und einer klugen, ausgewogenen Urteilsfindung leiten lassen wollen.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, die 1. Auflage dieses Buches zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Hauptanstoß für die erste Auflage war die im Jahre 2015 einsetzende Einwanderung von geflüchteten Personen nach Deutschland. Hier prallten die Meinungen diametral aufeinander: Für die einen bedeutete dies eine Bedrohung durch fremde Kultureinflüsse bis hin zur Angst vor kriminellen Machenschaften durch die Geflüchteten, für die anderen war es ein Akt der Barmherzigkeit und der Ausdruck einer weltoffenen Willkommenskultur, die traumatisierten Menschen eine neue geographische, aber auch emotionale Heimat anbieten wollte. Die Frage war: Begehen Geflüchtete wirklich mehr Straftaten in Deutschland als einheimische Bürgerinnen und Bürger? Liegen sie den Deutschen nur auf der Tasche oder tragen sie zu Wirtschaft und Kultur in Deutschland bei? Über diese Fragen konnte ich auch die allgemeineren Themen wie „Was ist Wahrheit“ und „Wie können wir sie erkennen“ ansprechen.

 

Inwiefern unterscheidet sich die 3. Auflage konkret von der vorherigen?

Mit den neuen Bedrohungen durch Krieg, Pandemie und Energieknappheit sind neue Risiken in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gelangt. Vor allem die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Bedrohung durch Covid hat die Gesellschaft weitgehend polarisiert und zum Teil gespalten. Deshalb habe ich auf dieses Thema in der dritten Auflage einen besonderen Schwerpunkt gelegt. War es z.B. sachlich richtig und ethisch geboten, Schulen zu schließen, Abstandsgebote aufzustellen, Freiheitsrechte einzuschränken, Impfungen zu forcieren und das öffentliche Leben weitgehend lahmzulegen? Aber neben dem zentralen Thema der Pandemie habe ich auch die anderen parallel auftretenden Krisen behandelt, vor allem die Klimakrise. Die Abschnitte zur Kriminalitätsrate bei Geflüchteten habe ich nochmals auf den neusten Stand gebracht, denn dieses Thema ist mit dem Zustrom ukrainischer Flüchtlinge erneut aktuell geworden.

 

Hat sich seit der 1. Auflage Ihres Buchs geändert, wie Menschen auf Krisen reagieren?

Grundsätzlich nicht, denn die psychologischen und sozialen Mechanismen der Verarbeitung von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit verändern sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Aber eines hat sich grundlegend geändert: Bis vor wenigen Jahren waren ernsthafte kollektive Bedrohungen für Deutschland wenig greifbar: der Klimawandel war kaum spürbar, Krieg gab es nur woanders und pandemische Zustände kannte man nur aus Korrespondentenberichten aus Asien oder Afrika. Das hat sich jetzt grundlegend geändert. Wir leben jetzt mitten in den Krisen und müssen lernen, mit ihnen wirksam und solidarisch umzugehen.

 

Was ist aus Ihrer Sicht das wichtigste „Werkzeug“, um mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen?

Das lässt sich am besten mit dem Begriff „kluge Urteilskraft“ beschreiben. Bei allen Handlungsoptionen, die wir haben, geht es darum, das bestmögliche Folgewissen (was ist an Konsequenzen zu erwarten, wenn ich Option A statt Option B wähle) mit einer von Verantwortungsbewusstsein getragenen Abwägung der Argumente für oder gegen jede Option zu kombinieren. Wir brauchen eine auf Evidenz und Solidarität fußende Abwägungskultur, denn unabhängig davon, wie wir uns entscheiden, im individuellen wie im sozialen Umfeld, werden wir Zielkonflikten ausgesetzt, die wir mit Sachverstand und kluger Urteilskraft bewältigen müssen.

 

Kurzvita in eigenen Worten

Ortwin Renn © IASS Potsdam/Lotte OstermannIch bin Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (Institute for Advanced Sustainability Studies, IASS) in Potsdam und emeritierter Professor für Umwelt und Techniksoziologie an der Universität Stuttgart. Gemeinsam mit Dr. Rainer Kuhn und Agnes Lampke leite ich das gemeinnützige Forschungsinstitut Dialogik gGmbH zur Erforschung und Umsetzung innovativer Formen der Wissenschaftskommunikation und Partizipation. Ich habe Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Sozialpsychologie in Köln studiert. Ich war als Wissenschaftler und Hochschullehrer in Deutschland, den USA und der Schweiz tätig und bekleide heute noch Gastprofessuren in Norwegen und China. Für meine wissenschaftlichen Arbeiten und Aktivitäten bin ich mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse, dem Ehrendoktor der ETH Zürich und der Mid-Sweden University sowie der Ehrenprofessur der Technischen Universität München ausgezeichnet worden. Ich bin Mitglied zahlreicher Kommissionen und Gremien zur Politikberatung, unter anderem habe ich den Vorsitz des Nachhaltigkeitsbeirates des Landes Brandenburg inne. Thematische Schwerpunkte sind bei mir Risiko, Nachhaltigkeit und Bürgerbeteiligung.

 

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Cover "Gefühlte Wahrheiten" 3. AuflageOrtwin Renn:

 

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com; Autorenfoto: IASS Potsdam / Lotte Ostermann