Über das Buch
Seit einiger Zeit werden in Deutschland zunehmend die Begriffe Femizid oder Feminizid benutzt, um auf strukturelle Ursachen von Tötungsdelikten an Frauen und Queers zu verweisen. In Lateinamerika hingegen haben schon in den frühen 2000er Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen und feministische Wissenschaftler*innen damit begonnen, den Zusammenhang von tödlicher Gewalt gegen Frauen und einer hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit zu betrachten und zu kritisieren. Sozialwissenschaftler*innen, Anthropolog*innen und Jurist*innen von Mexiko bis Argentinien haben sich genauer mit den Erscheinungsformen, Ausmaßen, Ursachen und Kontexten von Feminiziden auseinandergesetzt und politische Antworten gesucht. Die Herausgeberinnen machen in diesem Band eine Auswahl an übersetzten Texten zugänglich, die von oft zitierten Standardwerken zum Feminizid-Begriff bis hin zu aktuellen Debatten mit einer stärker intersektionalen Perspektive reichen.
Liebe Merle Dyroff, liebe Sabine Maier, worum geht es in Feminizide?
Das Buch gibt eine Einführung in die Debatten um tödliche geschlechtsbezogene Gewalt gegen cis und trans Frauen, die in Lateinamerika schon seit Anfang der 2000er Jahre geführt werden. Es versammelt einige Texte (latein)amerikanischer Autor*innen, die nun bis auf eine Ausnahme erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen. Die ausgewählten Arbeiten stellen teils grundlegende theoretische Überlegungen zur Konzeptualisierung von Feminiziden und Transfeminiziden an, teils beleuchten sie aktuellere Diskussionen. Sie analysieren das Geschlechterverhältnis, aber auch dessen Zusammenspiel mit Rassismus, Kapitalismus und Kolonialität als Ursachen von Gewalt.
Die Textauswahl wird von einem Glossar und einer Einleitung begleitet, in der die Debatten soweit möglich kontextualisiert werden. Anhand dieser Zusammenstellung sollen auch die Geschichte und konzeptionellen Weiterentwicklungen des Femi(ni)zid-Begriffs nachvollziehbar werden. Hier sei noch anzumerken, dass die ersten beiden Texte von Diana Russell und Jill Radford nicht aus einer lateinamerikanischen Perspektive, sondern auf Englisch geschrieben wurden. Da diese Texte jedoch bis heute einen zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt für weitere Arbeiten darstellen, haben wir sie aufgenommen.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Trotz der mittlerweile Jahrzehnte andauernden politischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen insbesondere in Lateinamerika zu Feminiziden und trotz der Tatsache, dass diese auch in Deutschland ein relevantes gesellschaftliches Problem darstellen, ist das Thema hier bislang noch weitgehend unbearbeitet. Die Arbeiten von Autor*innen wie Julia Monárrez, Marcela Lagarde oder Rita Segato sind in den spanischsprachigen Debatten zentrale Referenzpunkte, waren bisher aber nicht auf Deutsch zugänglich und werden im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert. Das mag einerseits an einem gewissen Eurozentrismus liegen, der Wissensproduktion aus dem Globalen Süden als weniger relevant erachtet oder dieser Anschlussmöglichkeiten an andere Kontexte abspricht. Andererseits bestehen aber auch konkrete Sprachbarrieren, wenn Texte nicht auf Deutsch oder Englisch verfügbar sind.
Die Idee, ein Buch mit zentralen Texten der Feminizidforschung aus Lateinamerika herauszugeben, entstand vor diesem Hintergrund und aus dem Anliegen, zur Überwindung der Rezeptionsbarrieren beizutragen und die Debatte und die Auseinandersetzung mit dem Konzept im deutschsprachigen Raum weiter zu bestärken.
Für wen ist Feminizide gedacht?
Der Begriff des Femi(ni)zids wurde seit seiner ersten Verwendung nicht nur in akademischen Debatten, sondern ebenso durch soziale Bewegungen geprägt. Die in dem Band versammelten wissenschaftlichen Arbeiten sind für alle gedacht, die sich mit dem Thema auseinandersetzen möchten.
Der Fokus des Buchs liegt auf Lateinamerika. Was kennzeichnet die Situation in Bezug auf Feminizide dort? Was sind die gravierendsten Unterschiede zu anderen Weltregionen?
Die Amerikas, insbesondere Zentralamerika, sind eine der Regionen mit den höchsten Mordraten (außerhalb bewaffneter Konflikte) weltweit. Zugleich findet beispielsweise in Mexiko kaum effektive Strafverfolgung statt, wobei der Zugang zum Rechtssystem für manche Bevölkerungsgruppen aufgrund von sexistischen, klassistischen und rassistischen Diskriminierungen zusätzlich erschwert ist.
Das wirkt sich auch auf die Formen und das Ausmaß der geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen aus. Zu Feminiziden in heterosexuellen (Ex-)Paarbeziehungen, die ein globales Phänomen darstellen, kommen Tötungsdelikte an Frauen, die in einem Zusammenhang mit organisiertem Verbrechen und anderen bewaffneten Akteuren (Paramilitärs, teils aber auch staatliche Kräfte) stehen und teils durch besondere Brutalität und Misogynie gekennzeichnet sind. Paradigmatisch waren hier die Feminizide in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, in der vor allem junge, migrantische Arbeiter*innen entführt, sexuell gefoltert und ermordet wurden. Deren leblose, (halb)nackte, teils verstümmelte Körper wurden im öffentlichen Raum deponiert bzw. geradezu „ausgestellt“ – diese Zurschaustellung der Gewalt und insbesondere deren Straflosigkeit hat die Politisierung des Themas maßgeblich angetrieben und starke Proteste hervorgerufen.
Hier findet sich aus unserer Sicht der wichtigste Unterschied: Über den ganzen Kontinent verteilt organisiert sich massiver feministischer Widerstand, der die Gewalt nicht länger akzeptieren will. Hervorzuheben ist auch, dass die Analysen geschlechtsbezogene Gewalt nicht als individuelles Problem verstehen, sondern ihren Zusammenhang mit strukturellen Ungleichheitsverhältnissen thematisieren. Dazu gehören die prekären Lebensbedingungen in Gesellschaften, in denen es quasi keinen Sozialstaat gibt, Wohlstand extrem ungleich verteilt ist und die zudem von Rassismus und Marginalisierung indigener und afrodeszendenter Bevölkerungsgruppen als Nachwirkungen der europäischen Kolonisierung geprägt sind. In der Auseinandersetzung mit diesen komplexen Zusammenhängen sehen wir wichtige Denkanstöße für die Analyse von Feminiziden in deutschen und europäischen Kontexten.
Darum sind wir Autorinnen bei Budrich
Wir haben im Prozess der Buchveröffentlichung die Zusammenarbeit mit Budrich sehr zu schätzen gelernt, vor allem aufgrund der guten Kommunikation.
Kurzvitae in eigenen Worten
Merle Dyroff hat Soziologie und Erziehungswissenschaften in Erlangen und Halle (Saale) studiert und ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg im Fachbereich Sozialökonomie, wo sie zu männlicher Gewalt und Feminiziden forscht. Sie ist Mitübersetzerin des feministischen Manifests Abbiamo un piano der Bewegung Non Una Di Meno aus Italien (2018) und Mitautorin der Broschüre #keinemehr – Femizide in Deutschland (2020).
Sabine P. Maier hat Sozialwissenschaften, Lateinamerikastudien/Gender Studies in Düsseldorf, Berlin und Mexiko-Stadt studiert und sich insbesondere mit den Strafrechtsreformen zu Feminiziden in Mexiko aus aktivistischer Perspektive beschäftigt. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im tifs – Tübinger Institut für gender- und diversitätsbewusste Sozialforschung und Praxis e.V. sowie am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen im Projekt Femizide in Deutschland.
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