Bildungsversprechen, Integration und Widerständigkeit im Migrationskontext
Banu Çıtlak
PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, Heft 171+172 (2-2023), S. 327-346.
Zusammenfassung
Immer wenn es um die Bildungsbeteiligung von Migrant:innen in Deutschland geht, wird der binäre Code des formalen Bildungssystems, der aus Bildungserfolg/-misserfolg besteht, als Synonym für den migrationspolitischen Code von Integration/Desintegration gelesen. Diese Gleichsetzung wird meritokratisch weiter legitimiert, in dem der soziale Aufstieg durch Bildung für Migrant:innen als einziger (legitimer) Weg nach oben beschrieben wird und dabei sämtliche Restriktionen, die sie im Bildungs-, Arbeits- und Ausbildungsmarkt vorfinden, ignoriert werden. Dieser Widerspruch zwischen den realen Möglichkeiten und dem Bildungsversprechen, der sich im dominanten Imperativ von „Aufstieg durch Bildung“ äußert, führt zum Widerstand. Unter diesen Bedingungen stellt das Familiensystem ein Gegenkonzept mit eigenen Werten und Anerkennungsstrukturen dar, die sich ablehnend gegen medial vermittelte Narrationen von Integration und ihre symbolischen Vertreter:innen stellt.
Schlagwörter: Migration, Eltern mit Migrationshintergrund, othering, Bildung, Anerkennung der Familie
Promise of Education, Integration and Resistance within the Migration Context
Summary
The paper examines the notion of integration through formal education by focusing on immigrant families in Germany. The article focuses on the predominant discourse that persists in reiterating the binary code of the formal education system, which encompasses educational success or failure as a synonym for the migration policy code of integration or disintegration. This equation is made even stronger by a meritocratic philosophy that doesnʼt consider the othering processes and ignores all the restrictions that migrant youth face in education, the labour market, and the market for vocational training. The ambiguity between the actual possibilities and the attainable goals, embodied in the predominant imperative of “social mobility through education”, creates resistance within the group of immigrant parents and youth. The article argues that under these conditions, the family system may provide alternative ways of recognition for young people, which can be taken as a counter-concept with its own values that reject media-mediated narratives of integration and their symbolic representatives. By utilizing empirical data, the article provides insight into the past and present experiences of family members and the factors that contribute to the resistance of immigrant families.
Keywords: migration, immigrant parents, othering, education, family recognition
Das Bildungsversprechen, das den entwicklungspolitischen Diskurs auf globaler Ebene dominiert, weist interessante Analogien zum migrationspolitischen Diskurs in Deutschland auf, in dem die „Integration durch Bildung“ die Lösung aller Probleme zu sein scheint. Während in Entwicklungsdiskursen das, was unter „Entwicklung“ zu verstehen ist kaum zufriede nstellend definiert ist, wird im Migrationsdiskurs der Integrationsbegriff in seiner Bedeutung maßlos überfrachtet und doch nie klar abgegrenzt. Integration wird vielmehr als politischer Kampfbegriffe eingesetzt, wobei die formale Bildung als die wirkungsvollste Waffe gegen die Herausforderungen der Integration angepriesen wird. Dabei bleibt der Integrationsbegriff im politischen und öffentlich-medialen Diskurs mit voller Absicht unklar. Der Referenzrahmen und der Raum, in dem Integration vollzogen werden soll, ist selten deutlich abgesteckt, und die Ziele, die durch die Integration erreicht werden sollen, sind – bis auf die Doktrin der Sprachfähigkeit – konturlos.
Heute ist die Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem immer noch unbestreitbar. Der ihnen und ihren Familien versprochene soziale Aufstieg durch Bildung ist angesichts ihrer faktischen Position auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt unglaubwürdig (Diefenbach 2010; Beauftragte der Bundesregierung 2021: 67f; Scherr 2022). Es ist daher erstaunlich, welcher große Zauber formalen Bildungsabschlüssen im öffentlichen Diskurs nachgesagt wird. Das Heilsversprechen, das mit dem Bildungsabschluss verknüpft ist, geht über Individuation, Emanzipation bis hin zur Integration und stellt somit für alle Migrant:innen unbestreitbar die einzige Eintrittskarte in die Gesellschaft1 dar. Besonders überzeugend sind dabei über alle Kanäle neuer und alter Medien präsentierte, biographische Erzählungen von sozial aufgestiegenen Migrationssubjekten, die eben diese Eintrittskarte erworben haben und nicht zufällig auch weitere Merkmale tragen, welche sie zu positiven Vorbildern qualifizieren.
Im Gegensatz zu diesen vorgeführten Migrationssubjekten haben Bildungsverlierer:innen im deutschen Bildungssystem keine Gesichter und treten nur im Plural in Form von Anteilswerten auf, wie etwa die hohen Anteile von Schulabbrecher:innen, von Schüler:innen in Haupt- und Förderschulen oder von solchen, die die Schullaufbahn ohne Abschluss verlassen2 (OECD 2019). Gesichtslos sind auch diejenigen Migrationssubjekte, die ohne formale Bildungsabschlüsse durch unternehmerische Aktivitäten vom Einzelhandel bis zu größeren Unternehmen ihren Lebensunterhalt verdienen und oftmals als erste Anlaufstelle für Migrant:innen und Geflüchtete dienen, welche auf der Suche nach einer Erwerbsmöglichkeit sind. In der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sind aber gerade diese Erfolgskarrieren sowohl immer häufiger anzutreffen, wie Auswertungen des Mikrozensus belegen (Sachs 2020), als auch in den Zukunftsvorstellungen vieler Eltern deutlich manifester als der Typus des Bildungsaufsteigers, der vom deutschen Bildungssystem versprochen und von der Migrationspolitik angepriesen wird. Anders als der Aufstieg durch Bildung ist der durch wirtschaftliche Aktivitäten erreichte finanzielle Wohlstand als Zukunftsentwurf kompatibel mit familienbezogenen Werten und wird daher im Familiensystem eher als funktional betrachtet. Daher halten Familien mit Migrationserfahrungen den Anrufungen des Bildungssystems und dem migrationspolitisch vorgegeben Pfad zur Integration die Anerkennung des Familiensystems entgegen, die familiensolidarisch-kollektivistische Qualitäten betont (Çıtlak 2022: 8). Denn insbesondere im transnationalen Kontext spielen formale Bildungsabschlüsse oftmals nur eine nachrangige Rolle. Hingegen sind finanzielle und praktische Ressourcen, die durch selbständige (wirtschaftliche) Tätigkeiten erzielt werden, besser geeignet, andere Familienmitglieder zu unterstützen und dadurch Anerkennung und Respekt innerhalb des Familiensystems zu erlangen. Diese Diskrepanz zwischen den Anrufungen des formalen Bildungssystems und den Anerkennungsstrukturen des Familiensystems, die bislang weder hinreichend reflektiert noch gesellschaftlich ausgehandelt wurde, gilt es offenzulegen.
Das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung
Die Diskussion über den Aufstieg durch Bildung wird unter Ausschluss derjenigen geführt, um die es geht. Sowohl migrantische Kinder und Jugendliche als auch ihre Eltern sind in diesem Diskurs „subalterne Subjekte“, d.h. sie werden nicht-erhört und nicht-gesehen. Dabei wird unentwegt über sie gesprochen, ihre Leistungen gemessen, ihre Neigungen analysiert, ihr Glauben bewertet und basierend auf diesen Vermessungen werden Mutmaßungen bezüglich ihrer Präferenzen aufgestellt. Selbst wenn sie immer wieder neue Sprachkanäle ausprobieren, wie z.B. postmigrantische Eltern, die versuchen ihren Wunsch nach einer bilingualen Bildung im deutschen Schulsystem gemeinschaftlich zu artikulieren, wird das Zuhören selbst hegemonial strukturiert und ihre Bemühungen ignoriert. Dieser Zustand zeigt aber auch, dass die Narrationen über migrantische Bildungsaufsteiger:innen für „das Publikum“ ohne Migrationshintergrund gemacht sind und dem Zweck dienen, Bildung als einzigen Aufstiegsweg in der Migrationsgesellschaft zu markieren. Für die Migrationssubjekte sind diese Erzählungen kaum glaubwürdig. Die Darstellungen von Einzelnen, die die soziale Leiter erklimmen, und die ständige Affirmation von Problemen, die Gruppen von Menschen, als deren Mitglieder sie gelesen werden, verursachen, ruft Widerstand sowohl bei den Heranwachsenden als auch ihren Eltern hervor. Die Ambivalenz dieser Anrufungen, die sowohl medial als auch über verschiedene gesellschaftliche Systeme an sie herangetragen wird, greift sowohl ihre personelle als auch ihre soziale Identität an.
Die Migrationsforschung der letzten Jahrzehnte betont die Vielfalt der Migrationsgesellschaft. Daran angelehnt findet eine ambivalente Auseinandersetzung mit herkunftsspezifischen Ungleichheitsverhältnissen im Bildungssektor statt, die sich auf allen Ebenen einerseits um eine einheitliche Ansprache bemüht und andererseits strukturelle Problemlagen wiederholt einzelnen Sprach- und Herkunftsgruppen zuweist. Auch sind Argumente, die sich auf eine religiöse Vereinheitlichung beziehen und den Erziehungsstil im Islam als Erklärung für den geringeren Bildungserfolg nahelegen, heute genauso prominent wie vor vierzig Jahren und unterliegen dabei der gleichen Vereinfachung. Auf die negativen Zuschreibungen reagieren „als muslimisch markierte Subjekte“ mit unterschiedlichen Strategien, die alle mit der Tatsache einhergehen, dass „die Religion des Islam […] als Ausgangspunkt für die eigene Identitätsbeschreibung (wieder) relevant“ wird „und sei es nur wegen der aktiven Distanzierung von ihr“ (Foroutan 2020a: 31). Breit angelegte repräsentative Befragungen zu Einstellungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft untermauern den Grad der Anders-Machung von Muslim:innen, während empirische Untersuchungen zu Einstellungen in der Migrationspopulation ihre unzureichende symbolische Integration belegen (ebd.: 23f). Die Forschung der letzten zwanzig Jahre weist außerdem im Bildungssektor auf strukturelle und individuelle Diskriminierung hin, die sich u.a. in Einstellungen von Lehrer:innen nachweisen lassen, die „[…] stereotypisierende, ablehnende und feindselige Haltungen und Einstellungen zum Islam und zu Muslim*innen“ haben (Karakaşoğlu 2020: 99).
Nicht nur die pauschale Kategorisierung als Muslim:innen, die seit den 1990er Jahren europaweit vollzogen wurde, sondern auch die Stigmatisierung bestimmter Herkunftsgruppen führt zu Diskriminierung im Schulkontext. Es ist daher festzuhalten, dass heute Kinder aus z.B. vietnamesischen Familien im deutschen Bildungssystem andere Bedingungen vorfinden als Kinder aus türkeistämmigen Familien. Die Andersmachung türkeistämmiger Menschen hat im deutschen Migrationsdiskurs eine lange Geschichte, die sich anfangs auf den Arbeitsmarkt (Bommes & Scherr 1991) bezog, später auf den Bildungssektor übertragen wurde (Radtke 2004) und dort bis heute fortwährend reproduziert wird. Es ist daher angemessen eine rassismustheoretische Auseinandersetzung mit dem Thema anzugehen, die nicht auf die zugeschriebenen „Gruppenmerkmale“ türkeistämmiger Eltern und Kinder fokussiert, sondern auf die Motivationen, die sich hinter dem Festhalten an eigenen Privilegierungen der Mehrheitsgesellschaft verstecken (Leiprecht 2016). Denn
„Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft dreht sich nur an der Oberfläche um Migration – tatsächlich geht es um die Aushandlung von Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe, die als umkämpfte Güter auch von Migrant*innen, ihren Nachkommen sowie anderen zu lange marginalisierten Gruppen beansprucht werden“ (Foroutan 2020b: 18).
Reformversuche im Bildungssektor, die die Privilegierungen von Gymnasien angehen, ebenso wie lokale Bemühungen, die Segregation im Schul- und Vorschulkontext aufzulösen, stoßen daher auf Gegenwehr und lassen sich – trotz empirischer Belege ihrer nachteiligen Wirkungen auf die Bildungschancen von insbesondere mehrsprachigen Kindern – nicht durchsetzen (Mannitz & Schneider 2014: 74f).
Auf der individuellen Ebene weisen neuere Forschungsergebnisse zu der Frage, wie Diskriminierungserfahrungen im Bildungskontext von Schüler:innen mit Migrationshintergrund verarbeitet werden, darauf hin, dass rassistische Erfahrungen sowohl von außen individualisiert und abgewertet werden, als auch von den Schüler:innen selbst mit dem Ziel bagatellisiert werden, das eigene Selbstwertgefühl und das Gefühl der Zugehörigkeit zu bewahren (Leiprecht 2016: 237). Wenn es für Schüler:innen schamhaft ist, über ihre eigene Diskriminierung zu sprechen und wenn Eltern die strukturellen Mechanismen der Andersmachung im Bildungssystem nur dann umgehen können, wenn sie den negativen Zuschreibungen über ihre eigene Sprachgruppe zustimmen und wenn neben alldem ihre eigene Bildungsbenachteiligung noch als Hauptargument dafür hinhalten muss, dass ihre Kinder benachteiligt werden, ist Widerstand eine naheliegende Reaktion.
1 Der systemtheoretische Ansatz in der Migrationssoziologie, der Integration als die allgemeine Problematik jedes Individuums in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft entlang der Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Systemen beschreibt (Bommes 2011: 243f) bleibt hier gänzlich unberücksichtigt.
2 Im bevölkerungsstärksten Bundesland NRW hatten im Schuljahr 2020/21 mehr als 42 % der Schüler:innen einen Migrationshintergrund, ihr Anteil lag an Hauptschulen bei 64,1 %, an Förderschulen (Grund- und Hauptschulen) bei 31,1 %, in Realschulen bei 51 % und an Gymnasien bei 33 % (IT-NRW).
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