Inklusionspädagogik und die ‚inklusive Gesellschaft‘

Pädagogische Korrespondenz 66 (2-2022): Die Gesellschaft der Inklusionspädagogik. Reflexionen zu dem normativen Leitziel einer ‚inklusiven Gesellschaft‘

Die Gesellschaft der Inklusionspädagogik. Reflexionen zu dem normativen Leitziel einer ‚inklusiven Gesellschaft‘

Grischa Stieber

Pädagogische Korrespondenz, Heft 66 (2-2022), S. 30-64.

 

Die ‚inklusive Gesellschaft‘ als normative Programmatik

Seit Beginn des pädagogischen Inklusionsdiskurses erfährt der Begriff der Inklusion häufig Zuschreibungen, welche ihn explizit als eine gesellschaftliche Vision und Zielvorstellung charakterisieren (vgl. Hilpert et al. 2021; Feuser 2018, S. 141). Im pädagogischen Inklusionsdiskurs geht es nicht nur um einen inklusiven Unterricht (Interaktionsebene) und die Idee einer „Schule für alle“ (Organisationsebene), sondern um das Streben nach einer inklusiven Gesellschaft. Inklusion wird verstanden als ein „pädagogische[r] Reformprozess von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß“ (vds 2016, S. 4). Die inklusive Pädagogik zeichnet in normativer Absicht eine künftige Gesellschaftsform, die frei von Barrieren und Systemzwängen ist und allen Menschen ein Höchstmaß an Partizipationschancen ermöglicht. Zentrale normative Referenzen sind hier die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 und die Salamanca-Erklärung (1994). In der UN-Behindertenrechtskonvention geht es an zentraler Stelle darum, allen Menschen die „wirksame[.] und gleichberechtigte[.] Teilhabe an der Gesellschaft“ (Artikel 1) zu ermöglichen – und dies nicht nur in pädagogischen Institutionen, sondern in der Gesamtgesellschaft. Veränderungen im Bereich des Bildungssystems werden lediglich als Teilaspekte eines gesellschaftsübergreifenden Wandlungsprozesses begriffen. In der Salamanca-Erklärung (1994) werden inklusive Schulen als entscheidende Elemente sozialer Transformation hervorgehoben:

„Die Herausforderung an inklusiven Schulen ist es, eine kindzentrierte Pädagogik zu entwickeln, die in der Lage ist, alle Kinder, auch jene, die schwere Benachteiligungen und Behinderungen haben, erfolgreich zu unterrichten. Der Wert solcher Schulen liegt nicht nur darin, dass sie alle Schüler und Schülerinnen mit qualitätsvoller Bildung versorgen können; ihre Einrichtung ist ein wesentlicher Schritt dahin, dass diskriminierende Haltungen verändert und Gemeinschaften geschaffen werden, die alle willkommen heißen, und dass eine inklusive Gesellschaft entwickelt wird“ (UNESCO 1994; Herv. durch Verf.).

Aber nicht nur in den Schlüsseldokumenten des Menschenrechtsdiskurses findet man jene Referenzen auf eine ‚inklusive Gesellschaft‘, sondern auch in bildungspolitischen Kampagnen und Programmatiken. Für die Ebene der Bildungspolitik kann exemplarisch Nordrhein-Westfalen angeführt werden: Im Jahr 2012 wurde von der rot-grünen Landesregierung ein Aktionsplan mit dem Titel „Eine Gesellschaft für alle“ veröffentlicht (vgl. MAIS NRW 2012). Die Gesellschaftsreferenz wird hier nicht nur im Titel bereits hervorgehoben, sondern durchgehend als Metaziel pädagogischer Maßnahmen markiert. Auf nationaler Ebene kann exemplarisch der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebene Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention angeführt werden; er trägt ebenfalls die Gesellschaftsreferenz im Titel: „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ (BMAS 2011). Dieser im Jahr 2016 erneuerte Aktionsplan zeichnet Inklusion als „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe [aus], zu der alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag leisten müssen“ (BMAS 2016, S. 237).

Obwohl die Verweise auf eine inklusive Gesellschaft im Diskurs sehr präsent sind, lassen sich kaum inklusionspädagogische Arbeiten finden, die sich explizit mit der Beschreibung und Theoretisierung der Gesellschaftsreferenz befassen. Deshalb spricht Geldner von der „Gesellschaftsvergessenheit der inklusionspädagogischen Debatten“ (Geldner 2020, S. 158). Die ‚inklusive Gesellschaft‘ kann in Anlehnung an Speck (2011) als Phantombegriff bezeichnet werden, weil er sich einer inhaltlichen Bestimmung weitgehend entzieht. In den folgenden Reflexionen soll ein Schlaglicht auf diesen „blinden Fleck“ des Inklusionsdiskurses geworfen und nach der Gesellschaft der Inklusionspädagogik gefragt werden, d.h. nach der Gesellschaftskonzeption, die in der erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung explizit entfaltet oder implizit vorausgesetzt wird. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis zwischen der bestehenden Gesellschaftsform und der normativ postulierten künftigen ‚inklusiven Gesellschaft‘. Inklusion steht von ihrem eigenen Anspruch her immer im Kontext sozialer Transformation, da nicht bezweifelt wird, dass die bestehenden Gesellschaftsstrukturen maßgeblich auf Differenzlogiken und „selektive Mechanismen“ (Dreher 2018, S. 370) basieren und damit konträr zu den inklusionspädagogischen Vorstellungen stehen. Es geht stets darum, „Inklusion in einer nicht inklusiven Gesellschaft“ (Dorrance/Dannenbeck 2013) zu reflektieren. Wenn in den folgenden Überlegungen von Inklusion gesprochen wird, ist stets der „weite“ Inklusionsbegriff gemeint. Während der „enge“ Inklusionsbegriff sich in der Tradition der Integrationspädagogik auf die Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung bzw. einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf bezieht, geht es im „weiten“ Begriff um alle Heterogenitätsmerkmale von Menschen, wie z.B. Geschlecht, Religion, Sprache oder soziales Milieu (vgl. II).

Die Analyse der inklusionspädagogischen Gesellschaftsreferenz erfolgt aus der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns (unter Einbezug ihrer Erweiterungen, u.a. durch Armin Nassehi, Peter Fuchs und Rudolf Stichweh). Diese Theoriewahl hängt eng mit der Annahme zweier Leerstellen des pädagogischen Inklusionsdiskurses zusammen, welche mit den analytischen Mitteln der Systemtheorie sinnvoll ausgeleuchtet werden können.

Erstens gehe ich davon aus, dass die Inklusionspädagogik zwar die Vielfalt auf der Sozialdimension ausgiebig behandelt – d.h. die gerade benannten Heterogenitätsmerkmale von Menschen –, aber die gesellschaftliche Vielfalt auf der Sachdimension konsequent dethematisiert. Gemeint ist hier die „sachliche Vielfalt“ der modernen Gesellschaft im Rahmen ihrer Ausdifferenzierung in spezifische Funktionssysteme, die ein konkretes Sachproblem exklusiv für die Gesamtgesellschaft bearbeiten (z.B. das Rechtssystem, Wirtschaftssystem, Erziehungssystem etc.).1 Wenn in den folgenden Überlegungen von sachlicher Differenzierung gesprochen wird, ist stets diese gesellschaftstheoretische Ebene der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen gemeint. Dies ist bedeutsam, weil die verschiedenen Funktionssysteme im Luhmannschen Verständnis eigenständige Inklusions- und Exklusionsmodi aufweisen: Das Wirtschaftssystem inkludiert oder exkludiert Individuen ausschließlich nach dem Schema Zahlender/Nicht-Zahlender bzw. Eigentümer/Nicht-Eigentümer, während z.B. das Erziehungssystem nach dem Schema vermittelbar/nicht-vermittelbar bzw. besser/schlechter inkludiert oder exkludiert. Wenn jene sachlich verschiedenen Modi des Ein- und Ausschlusses in der Inklusionspädagogik kaum behandelt werden, besteht unweigerlich ein „blinder Fleck“ im Verständnis der Inklusionsfähigkeit der modernen Gesellschaft. Denn das Erziehungssystem endet im systemtheoretischen Verständnis nicht mit dem Besuch der Schule, sondern hat „den Erziehungsbedarf in ein immer höheres Alter verlängert, es hat die Universitäten geschluckt, es beansprucht Zuständigkeit für Weiterbildung, für Erwachsenenbildung, selbst für Bemühungen Senioren »geragogisch« zu betreuen“ (Luhmann 2002, S. 92). Es unterhält damit Verbindungen (strukturelle Kopplungen) in nahezu alle anderen Funktionssysteme der Gesellschaft. Deshalb ist eine konsequente gesellschaftstheoretische Kontextualisierung pädagogischer Kommunikationen notwendig.

Zweitens gehe ich davon aus, dass die postulierte Vorstellung sozialer Transformation – der Weg in die inklusive Gesellschaft – ebenfalls nicht kompatibel ist mit der strukturellen Architektur der modernen Gesellschaft. Denn die oben skizzierte Vorstellung einer Inklusion als einem pädagogischen Reformprozess von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß gründet meist in der Vorstellung, dass der gesellschaftliche Wandel von einem Funktionssystem ausgehend realisiert werden kann – hier vom Erziehungssystem. Auch wenn die große Bedeutung des Erziehungssystems als Selektions- und Legitimationsinstanz der Gesellschaft nicht bezweifelt wird, widerspricht dieses Bild sozialer Transformation grundlegend den systemtheoretischen Annahmen einer modernen Gesellschaft, welche polyzentral strukturiert ist und aufgrund autonomer Teilsysteme nicht mehr von einer Stelle der Gesellschaft koordiniert oder gesteuert werden kann. Die Organisation der Schule als zentrales Element sozialer Transformation (wie in der Salamanca-Erklärung emphatisch proklamiert) ist aus dieser Perspektive kaum plausibilisierbar.

1 Luhmann unterscheidet in erster Linie zwischen acht verschiedenen Funktionssystemen: Das Wirtschaftssystem, Rechtssystem, Wissenschaftssystem, Erziehungssystem, Politiksystem, Kunstsystem, Religionssystem und die Massenmedien der Gesellschaft. Diese Funktionssysteme unterscheiden sich primär von anderen sozialen Systemen dadurch, dass sie ein spezifisches, symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und einen Code ausbilden und dadurch eine Funktion für die Gesamtgesellschaft wahrnehmen (vgl. Krause 2001, S. 40). Weil die vorliegenden Überlegungen jener Theorieperspektive folgen, wird dementsprechend durchgehend vom Erziehungssystem und nicht vom Bildungssystem gesprochen. Beim Erziehungssystem handelt es sich um ein global ausgerichtetes Funktionssystem der Gesamtgesellschaft, welches sich von der familiären Früherziehung bis hin zum Ende des menschlichen Lebensalters (im Kontext geragogischer Praktiken) vollzieht – und damit deutlich vom (häufig national gerahmten) Begriff des Bildungssystems abweicht. Es operiert nach der Erstcodierung vermittelbar/nicht-vermittelbar und der Zweitcodierung besser/schlechter. Letztere wird auch als Selektionscode bezeichnet, da die Bewertung nach dem Schema besser/schlechter als Grundlage der Zertifikation und Schulformentscheidung dient (vgl. Luhmann 2002, S. 73; Kade 1997).

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