Energiewende in Deutschland: Konflikte und Lösungsansatzpunkte

dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 2-2023: Das Ringen um die Infrastruktur in der Energiewende: Konfliktkulturen verstehen und gestalten

Das Ringen um die Infrastruktur in der Energiewende: Konfliktkulturen verstehen und gestalten

Jörg Radtke

dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, Heft 2-2023, S. 440-462.

 

Zusammenfassung: Die Energiewende in Deutschland steht unter Druck wie noch nie: Sie soll so schnell wie möglich vorangetrieben werden, um die Abhängigkeiten von fossilen Energien zu reduzieren. Ein wesentliches Regime hierbei: Nutzung von Windkraft gekoppelt an den Netzausausbau. Dafür sind massive Eingriffe erforderlich, der Widerstand dagegen nimmt tendenziell zu. In der Forschung sind die Herausbildung spezifischer Akteurskoalitionen und Vetoplayer-Konstellationen einschließlich der konkreten Strategien von kritischen Akteuren, die für die Verhinderung der Energiewende-Maßnahmen kämpfen, analytisch noch unterbelichtet. Der Beitrag analysiert deshalb – basierend auf umfangreichem empirischen Datenmaterial – fünf Windkraft- und zwei Netzausbaukonfliktfälle in Deutschland. Eingebettet wird die Analyse in die gegenwärtige Diskussion um die Streitfähigkeit der Demokratie: Braucht die Energiewende mehr offen ausgetragene Auseinandersetzungen? Die These lautet, dass „mehr Streit“ keine Lösung für Energiewendekonflikte darstellt. Stattdessen braucht es mehr Wissen über das Wie der Konfliktaustragung und die Defizite bzw. geeignete Beteiligungsformate, weil hierin wesentliche Faktoren für das Gelingen der zukünftigen Energiewende erkannt werden.

Schlagworte: Energiewende, Konflikte, Akteure, Vetoplayer, Demokratie

 

Struggles over Infrastructure: Understanding and Nurturing Conflict Cultures within the Energiewende

Abstract: The Energiewende in Germany faces unprecedented challenges as policymakers pursue a rapid expansion of renewables. However, the massive interventions call for are spurring opposition in regions across Germany. The specific constellations of veto players, the formation of actor coalitions and the strategies pursued by key actors in their efforts to thwart energy transition projects are under-researched topics. Drawing on extensive empirical data, this paper analyses conflicts around five wind power and two grid expansion projects in Germany. The analysis is embedded in the current discussion about the contestability of democracy: Could efforts to accelerate the Energiewende benefit from more debate and more conflict? The thesis of this paper is that more debate and more friction are unlikely to help resolve energy transition conflicts, and that the way in which conflicts are handled (combined with suitable participation formats and models) will be essential in determining the success of the future Energiewende.

Keywords: energy transition, conflicts, actors, veto players, democracy

 

1. Einleitung: Energiewende-Konflikte verstehen

Grundsätzlich ein Vorhaben mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung, findet die Energiewende in ihren konkreten Manifestationen vielerorts Kritiker:innen. Sie engagieren sich in Bürger:inneninitiativen und Protestgruppen, die oft in bundesweite Netzwerke eingebunden sind (Bues, 2020; Neukirch, 2020). Handelt es sich auf den ersten Blick um Proteste, die vornehmlich auf die konkrete Verhinderung von Windrädern und Stromtrassen vor Ort ausgerichtet sind (Winkelmann, 2022; Winkelmann & Birner, 2022), zeigt sich bei näherem Hinsehen eine große Heterogenität der Konflikte hinsichtlich ihrer Verläufe, der beteiligten Akteure und der zentralen Themen und Anliegen (Colell et al., 2022). So wird gefordert, Windenergieanlagen anderswo zu bauen oder gleich gar nicht, neue und aufgerüstete Stromtrassen gelten den einen als notwendiges Übel, das einen gewissen Abstand zur Wohnbebauung nicht unterschreiten sollte, während andere die neuen Höchstspannungsleitungen als im krassen Widerspruch zur Idee einer dezentralen Energiewende stehend beschreiben (Gailing&Röhring, 2015; Kühne&Weber, 2018a). Mancherorts brechen im Streit um das geplante Windrad oder den anstehenden Kohleausstieg jahrzehntealte Konfliktlinien erneut auf. Bei dem Protest gegen Windrad & Co greift die häufig bemühte „Not in my backyard“(NIMBY)-Metapher mithin viel zu kurz: Zwar sind die Konflikte durch den Eingriff in die unmittelbare Wohnumgebung gekennzeichnet, die Motivation speist sich jedoch aus weitaus tiefer reichenden komplexen Einstellungsmustern, Interessenlagen und Angst vor Identitätsverlust (Fettke, 2021).

Zu Energiewendekonflikten in Deutschland wurden bereits einige Untersuchungen vorgelegt (Reusswig et al., 2016; Hoeft et al., 2017; Weber et al., 2017; Kühne&Weber, 2018b; Bues, 2020; Arifi & Winkel, 2021; Marg & Radtke, 2022). Hierbei steht allerdings eine fundierte Analyse für ein näheres Verständnis der Rolle von Akteuren speziell hinsichtlich der Ausbildung von Vetoplayerkonstellationen (z. B. im Rahmen spezifischer Akteurskoalitionen) noch aus. Die zentrale Forschungsfrage dieses Beitrages lautet deshalb: Wie beeinflussen lokal agierende Akteure in unterschiedlichen Konstellationen und Koalitionen Konfliktdynamiken in der Energiewende? Analyseleitend ist dabei die These, dass ein „Mehr an Streit“, der oft durch lokal agierende Akteure in unterschiedlichen Konstellationen und Koalitionen evoziert wird, in den meisten Fällen nicht zur gütlichen Lösung von regionalen und lokalen Energiewendekonflikten im Sinne von mehr Akzeptanz entsprechender Kompromisse beiträgt. Denn vielmehr scheinen Defizite bzw. das Fehlen geeigneter Beteiligungsformate und Teilhabemodelle – also unzureichendes Wissen über das Wie der Konfliktaustragung – einen wesentlichen Faktor dafür darzustellen, dass das Gelingen der Energiewende vor Ort behindert wird.

Orientiert an den Kriterien der Konfliktfeldanalyse nach Bornemann und Saretzki (2018) werden drei zentrale Untersuchungsdimensionen abgeleitet: neben den Akteuren sind dies der Konfliktgegenstand und -kontext sowie die Konfliktdynamik. Hierzu werden sieben Energiewendekonfliktfälle in Deutschland vergleichend untersucht, die Gegenstand eines abgeschlossenen Forschungsprojektes waren. Ergänzend werden Ergebnisse von benachbarten Teilprojekten herangezogen, welche sich mit der Rolle der Unbeteiligten in den Konflikten, Einstellungen der Gesamtbevölkerung zur Energiewende (quantitative Befragungen) sowie der Erprobung von Beteiligungsformaten und -verfahren zur Förderung einer demokratische Konfliktkultur beschäftigt haben.1

Neben der empirischen Akteursanalyse in den sieben Untersuchungsfällen reflektiert dieser Beitrag mögliche Konfliktlösungsansatzpunkte im Sinne der agonistisch orientierten radikalen Demokratie und diskutiert Aspekte der Energiedemokratie und -gerechtigkeit (Jenkins et al., 2016; Cuppen, 2018; van Veelen & van der Horst, 2018; Krüger, 2021). Als theoretisch-konzeptioneller Bezugspunkt wird im Folgenden auf die sozialwissenschaftliche Konfliktfeldanalyse zurückgegriffen (Feindt & Saretzki, 2010).

2 Theoretischer Rahmen: Konfliktfeldanalyse

Zur Erklärung von Konfliktdynamiken wird in dieser Untersuchung auf verschiedene Theoreme und Ansätze der Konfliktforschung zurückgegriffen, um daraus einen groben Analyserahmen inklusive diverser Analysekriterien abzuleiten. Diese Vorgehensweise knüpft damit an die breite Forschung zu Energiewendekonflikten an, die verschiedenste Ausrichtungen unter Rückgriff multipler Konzepte aufweist und sich dabei auf vier grobe Perspektiven herunterbrechen lässt, die spezifische Zugänge zur Empirie bieten:

1. Energiewendekonflikte verstanden als Raumverteilungsproblem: Fokus auf Governance und Management von Flächen und Nutzungsformen. Bsp.: Rolle der Raumplanung.
2. Energiewendekonflikte verstanden als Gemeinschafts-Interessen-Problem: Fokus auf Dynamiken in sozialen Gemeinschaften. Bsp.: Streitigkeiten in einer Kommune.
3. Energiewendekonflikte verstanden als Technik- bzw. Infrastruktur-Ökonomie-Hegemonieproblem: Fokus auf Praktiken der Technokratie. Bsp.: Implementationen durch Unternehmen und Staat.
4. Energiewendekonflikte verstanden als demokratisches Aushandlungsproblem: Fokus auf Formen der Verhandlung und Prinzipien der Deliberation. Bsp.: Bürger:innenversammlungen.

Hierin lassen sich eine Top-down- und Bottom-up-Perspektive voneinander unterscheiden: Nach ersterer ist der Konflikt ein Symptom der Defizite der Energiewendesteuerung (Annahme eines „harten“ Konfliktkerns“), nach zweiter Auffassung ist der Konflikt eine Projektionsfläche spezifischer Erwartungen, Interessen und Werten der Beteiligten (Annahme eines Stellvertreterkonfliktes). Hieraus folgen nicht nur unterschiedliche Analyseausrichtungen, sondern auch Lösungsperspektiven: Von der verbesserten Governance (z. B. partizipativ, reflexiv, inklusiv, kollaborativ) über Aushandlungsmodi bis zur Mediation. In allen Zugängen wird den Akteuren die Rolle als „Game Changer“ zugeschrieben – eine akteurszentrierte Policy- und Governanceperspektive ist jedoch nicht erkennbar.

In der vorliegenden Analyse soll deshalb der Fokus auf die Akteure in den verschiedenen „Konfliktarenen“ gerichtet werden: Existieren hier passgenaue Konzepte der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung, die in Anschlag gebracht werden können? Die Akteursperspektive ist grundlegend für die Policy-Forschung (Knoepfel et al., 2011), da sie das Zustandekommen bestimmter Policy-Outputs, Outcomes und Impacts immer unter Berücksichtigung spezifischer Akteurskonstellationen analysiert. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf spezifische Interaktionsmodi und Konfliktdynamiken als Ausfluss von Vetoplayerkonstellationen und sogenannten „Windows of Opportunities“ gerichtet – ein Ansatz, auf den hier auch im Kontext von Energiepolitiken zurückgegriffen werden soll (Elgin&Weible, 2013).

Zwei spezifische Konzepte der Forschung können für die folgende Fallanalyse dabei in besonderer Weise anknüpfungsfähig sein: Die Konfliktfeldanalyse nach Bornemann und Saretzki (2018) sowie der hieran angelehnte Analyserahmen für lokale energiepolitische Konflikte nach Becker, Bues und Naumann (2016). Der Konfliktanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass spezifische Konfliktfelder in Gesellschaften existieren, die in „sachlich, sozial und prozessual dimensionierten Konstellationen“ zusammenwirken – komprimiert in insgesamt fünf Kategorien (Bornemann & Saretzki, 2018, S. 567 ff.):

− Konfliktkontext: Wo findet der Streit statt? (zeitlicher, räumlicher, gesellschaftlicher Kontext)
− Konfliktgegenstand: Um was dreht sich der Streit? (Einordnung, Typen, Konkretionsebene)
− Konfliktakteure: Wer ist am Streit beteiligt? (Rollen, Konstellationen, Strategien)
− Konfliktmodus: Wie wird der Streit ausgetragen und beigelegt? (Austragung und Regelung)
− Konfliktdynamik: Wie verläuft der Konflikt? (Entstehung, Entwicklung, Beendigung)

Bornemann und Saretzki betonen grundsätzlich die hohe Bedeutung, die den handelnden Akteuren beigemessen werden muss: „Die Analyse der Akteurdimension ist zentral, weil sie Einsichten in die formalen und informellen Machtverhältnisse und Interaktionsbeziehungen gibt, die in einem Konfliktfeld bestehen. Diese Einsichten ermöglichen Rückschlüsse auf die Konfliktaustragung und -regelung, die sich in einem Konfliktfeld vollzieht oder zu erwarten ist“ (ebd., S. 574). Sie unterscheiden verschiedene Rollen (Konfliktbeteiligte, -betroffene und -vermittler), Akteurskoalitionen, Konfliktaustragungsebenen (mehrere Handlungskorridore im Mehrebenensystem: horizontal und vertikal), Konfliktstrategien (Ziel-Mittel-Umweltkalkulationen) und Aktionen (tatsächliche Handlungen).

Die Kategorien von Bornemann und Saretzki werden der folgenden empirischen Fallanalyse zugrunde gelegt, wobei diese um einzelne Kriterien des Analyserasters von Becker, Bues und Naumann (2016, S. 47) erweitert werden (materielle, räumliche, zeitliche und Akteursdimension). Mit Fokus auf das Akteurshandeln resultieren aus dem Verschnitt für die Analyse in Abschnitt 4 die drei Kategorien Konfliktgegenstand und Kontext, Konfliktakteure (Rollen, Konstellationen, Strategien) und Konfliktdynamik. In Abschnitt 5 werden die Ergebnisse anhand der Kriterien Rollen im Konflikt (Aktive/Passive), Akteurshandeln im Konflikt (Koalitionsbildung, Strategien, Kalküle) sowie Konfliktmodus (Vetoplayer-Konstellationen und Reaktionsweisen) diskutiert.

1 Nähere Informationen zum Forschungsprojekt „DEMOKON – Eine demokratische Konfliktkultur für die Energiewende“ (gefördert von der Stiftung Mercator von 2019 bis 2022) und Projektpublikationen können unter demokon.de abgerufen werden.

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