Gendersensible Ökonomische Bildung

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management 2-2021: Förderung einer geschlechtergerechten schulischen Ökonomischen Bildung im Rahmen der Kategorialen Wirtschaftsdidaktik

Förderung einer geschlechtergerechten schulischen Ökonomischen Bildung im Rahmen der Kategorialen Wirtschaftsdidaktik

Ann-Kathrin Beckmann

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management, Heft 2-2021, S. 124-137

 

Zusammenfassung
Zahlreiche, meist quantitative Studien attestieren Schülerinnen ein geringeres Interesse an und Wissen in der Domäne Wirtschaft. Vermeintliche Defizite werden jedoch selten hinterfragt. Dies führt zu der Frage, wie geschlechtsspezifischen Disparitäten in der schulischen Ökonomischen Bildung begegnet werden kann. Dabei wird eine Untersuchung zugrunde gelegt, in der sich Schüler*innen der Oberstufe forschend mit Ökonomie auseinandersetzen. Ein Ergebnis der qualitativen Untersuchung zeigt, dass die gendersensible Auswahl von Inhalten bedeutsam ist. Dabei stellen im Rahmen der Untersuchung insbesondere wirtschaftliche Themen mit Bezug zu sozialer Nachhaltigkeit für Schülerinnen Zugänge dar, sich Ökonomische Bildung forschend zu erschließen.

Schlagwörter: Gender, Geschlechtergerechtigkeit, Ökonomische Bildung, Forschendes Lernen

 

Promotion of a Gender‐Equitable Economic Education in Schools Within the Framework of Categorical Business Didactics

Abstract
Many, mostly quantitative studies attest that female pupils are less interested in and knowledgeable about the domain of economics. Supposed deficits are not questioned, however, and therefore contribute to the establishment of gender-related power relations. This leads to the question of how to counter gender-specific disparities in the field of economic education. One result of the underlying study shows that the selection of content is of central importance. Thus, the topic of social sustainability turns out to be a relevant didactic subject that offers female pupils occasions to participate in economic education.

Keywords: Gender, Economic Education, Inquiry‐based learning

 

1. Einleitung

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat es sich unter anderem zum Ziel gemacht, eine inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung für alle zu gewährleisten (vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015). Dabei wird insbesondere im vierten Ziel darauf verwiesen, dass bis zum besagten Jahr 2030 sichergestellt werden soll, „dass alle Mädchen und Jungen gleichberechtigt eine kostenlose und hochwertige Primar- und Sekundarschulbildung abschließen, die zu brauchbaren und effektiven Lernergebnissen führt“ (Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015: 38). Sicherlich lassen sich zunehmend Möglichkeiten für Frauen in den letzten Jahren ausmachen, wie die Teilhabe am Arbeitsmarkt, höhere Bildungsabschlüsse, der Zugang zu universitärer Ausbildung sowie eine geringere Anzahl an Schulabbrüchen zeigen (vgl. Rendtorff 2016: 78; Hadjar/Lupatsch 2010: 599ff.; Nyssen 2004: 398). Daraus folgt in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck der gefühlten Gleichberechtigung und damit ein „abnehmender Problematisierungswille“ (Budde/Blasse 2014: 14) sowie die „Zurückweisung eines Benachteiligten-Status“ (ebd.). Dennoch eröffnet sich mit Blick in die einzelnen fachlichen Disziplinen der schulischen Allgemeinbildung mitunter ein differenzierteres Bild. Im schulischen Kontext ist dies u.a. der Fall, wenn bestimmten Schulfächern eine Geschlechteraffinität zugesprochen wird. Dies geschieht so unter anderem in der Ökonomischen Bildung, indem Schülerinnen als „wirtschaftsavers“ (Würth/Klein 2001: 138) bezeichnet werden, ohne dies umfassend weiter zu hinterfragen oder gar Implikationen zum Abbau solcher Konstrukte zu entwickeln.

Zahlreiche Studien attestieren Frauen und Mädchen Defizite im Rahmen Ökonomischer Bildung. Immer wieder wird auf ein zum Teil signifikant geringeres Wirtschaftswissen von Frauen hingewiesen (vgl. u.a. Oberrauch/Kaiser 2020; Erner et al. 2016; Brückner et al. 2015; Walstad 2013; Förster et al. 2012; Beck 2000; Heath 1989; Bach/Saunders 1965). Hierfür wird oftmals der Test of Economic Literacy (Soper/Walstad 1987) oder im deutschsprachigen Raum dessen Adaption, der Wirtschaftskundliche Bildungstest, (Beck/Krumm 1998) herangezogen.

Besonders hervorstechend: Auch Studienanfängerinnen in wirtschaftlichen Studiengängen, die bereits durch ihre Studienwahl eine Affinität zu Wirtschaft aufzeigen, schneiden bei Wuttke/Beck schlechter ab (vgl. Wuttke/Beck 2002).

Trotz der deutlichen Befunde können mit Hilfe der überwiegend quantitativen Erhebungsinstrumente diese Differenzen bislang nicht abschließend erklärt werden (vgl. Happ et al. 2019; Asarta et al. 2014). So wird häufig lediglich ein geringeres Interesse an Wirtschaft für diese Differenz verantwortlich gemacht (vgl. Förster/Happ 2019; Lührmann et al. 2015; Würth/Klein 2001). Eine Ausnahme stellt die Untersuchung von Rudeloff et al. dar, aus welcher gefolgert werden darf, dass Schülerinnen den Bereich der Financial Literacy anders als Schüler erwerben. So hinterfragen die Autor*innen diesbezüglich unterschiedliche Lerngelegenheiten (Rudeloff et al. 2019: 139).

Die Frage nach einer geschlechtergerechten Ökonomischen Bildung ist insbesondere relevant, da diese schließlich auch einen wesentlichen Beitrag zu der wirtschaftlichen Emanzipation von Frauen und Mädchen und einer gleichberechtigten Berufsorientierung leisten kann. So bereitet die Ökonomische Bildung insbesondere auf zukünftige wirtschaftsbezogene Rollen, wie die des oder der Verbraucher*in sowie des oder der Arbeitnehmer*in, um nur einige Beispiele zu geben, vor (vgl. Schiller 2001: 65ff.). Nicht weiter hinterfragte Differenzen in Bezug auf Schülerinnen können somit perpetuiert werden und Benachteiligungen manifestieren. Wer die Anforderungen der ökonomischen Welt, welche die Ökonomische Bildung anzubahnen ersucht, nicht erfüllen kann, muss damit Nachteile erwarten (vgl. Schiller 2001: 67).

Somit muss auch die geschlechtergerechte Teilhabe in der Ökonomischen Bildung auf dem Prüfstand stehen. In dem Zusammenhang bedarf es auch der Reflexion geeigneter Inhalte in der Ökonomischen Bildung. So erhält die Fachdidaktik ihre fachliche Legitimation insbesondere durch die Inhalte der Bezugswissenschaft(en) (vgl. Speth 2018: 20ff.).

Dies führt zu der Fragestellung:

Wie kann geschlechtsspezifischen Disparitäten im Bereich der schulischen Ökonomischen Bildung durch Inhaltsauswahl im Rahmen der Kategorialen Wirtschaftsdidaktik begegnet werden?

Der folgende Beitrag möchte mit Überschneidungen zum sozialen Nachhaltigkeitsziel 5 „Geschlechtergerechtigkeit und Selbständigkeit für alle Frauen und Mädchen erreichen“ verdeutlichen, wie Diversität bzw. Geschlechtergerechtigkeit in Bildung gelebt bzw. erreicht werden kann. Dies soll am Beispiel einer empirischen Studie (Beckmann 2020) im Bereich der Ökonomischen Bildung stattfinden, welche unter anderem die unterschiedlichen geschlechtsbezogenen Interessenlagen von Schüler*innen herausarbeitet. Bemerkenswert hieran ist, dass ein Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass das Thema der sozialen Nachhaltigkeit sich hierbei als ein relevanter Inhalt herausstellt. Im Folgenden wird daher skizziert, wie es zu diesem Ergebnis kam und was dies für eine geschlechtergerechte Ökonomische Bildung an Schulen bedeutet.

Dazu soll zunächst im zweiten Kapitel der zugrunde liegende theoretische Rahmen aufgezeigt werden. Dabei wird zum einen eine rekonstruktive gendertheoretische Perspektive herangezogen und diese um den fachdidaktischen Ansatz der Kategorialen Wirtschaftsdidaktik ergänzt, um der fachlichen Ausrichtung Rechnung zu tragen.

Zur Beantwortung der Leitfrage wird auf die empirische Untersuchung von Beckmann (2020) verwiesen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, geschlechtsbezogene Erschließungsprozesse in der Ökonomischen Bildung im Rahmen schulischen Forschenden Lernens aufzuzeigen. Diesbezüglich wird im dritten Kapitel das Forschende Lernen als situativer Rahmen dargestellt bevor im vierten Kapitel das methodische Vorgehen beschrieben wird. Es folgt im fünften Kapitel die Darstellung zentraler Erkenntnisse, die als Implikationen zur Gestaltung geschlechtergerechter Ökonomischer Bildung dienen sollen. Im sechsten Kapitel endet der Beitrag schließlich mit einem Fazit und Ausblick.

2. Theoretischer Rahmen

2.1 Rekonstruktion als eine gendertheoretische Perspektive auf Geschlechterungleichheit in der Ökonomischen Bildung

In einem konstruktivistischen Sinne wird Geschlecht als sozial überformt betrachtet.1 So wird Zweigeschlechtlichkeit nicht als unwiderruflich gegeben angesehen, sondern es wird davon ausgegangen, dass Geschlecht als Gender vielmehr performativ immer wieder hergestellt wird. Diesbezüglich prägen West und Zimmermann (1987) den Begriff des „doing gender“. Damit rücken zunehmend die Herstellungsmodi von Geschlecht in den Fokus von  Geschlechterforschung und somit auch der Prozess der Konstruktion von Geschlechterdichotomien.

Diesem Gedankengang folgend, können auch Differenzen, wie sie auch in der Ökonomischen Bildung anzutreffen sind, als sozial geformt betrachtet werden. Ausgehend von der Annahme der Konstruktion von binären Geschlechterkonstruktionen, folgt in dekonstruktivistischen Ansätzen die Annahme, dass so hergestellte, natürlich erscheinende dichotome Geschlechterdifferenzen potenziell veränderlich seien (vgl. Villa 2003: 68; Rendtorff 2000: 47). Als Vorreiterin dekonstruktiver Ansätze kann hierbei Judith Butler genannt werden. Butler kritisiert im Rahmen ihres Performativitätskonzeptes die unentwegte Wiederholung von tradierten Geschlechterkonstrukten (vgl. Butler 1995: 133f.; Butler 1991: 190ff.). Dekonstruktive Ansätze hinterfragen somit natürlich erscheinende Geschlechterdichotomien und forcieren dabei tradierte Macht- und Ungleichheitsverhältnisse.

Bei der erkenntnisleitenden Fragestellung zur Begegnung geschlechtsspezifischer Disparitäten in der Ökonomischen Bildung geht es damit auch um eine Dekonstruktion des Status Quo von Ökonomischer Bildung als Männerdomäne sowie den Abbau von defizitorientierten Zuschreibungen von Schülerinnen in Wirtschaft. Faulstich-Wieland, die sich mit Genderkonstruktionen im Kontext von Schule beschäftigt, merkt jedoch auch an, dass das Wissen um Konstruktionen und somit auch um die Konstruktion von Differenzen nicht automatisch zum Abbau dieser im Sinne einer dekonstruktiven Sicht führe (vgl. Faulstich-Wieland 2003: 112). Demnach bedarf es hier des Zwischenschritts der Rekonstruktion dieser tradierter Zweigeschlechtlichkeit und somit einer Bestimmung zweigeschlechtlicher Phänomene (vgl. Degele 2008: 104). Binäre, über lange Zeit gewachsene Typisierungen, „die auf der Ebene der Alltagswelt produziert und als institutionalisierte Formen tradiert werden“ (Dausien 2000: 98), werden somit nicht übergangen, sondern zum Ausgangspunkt „reflexive[r], kritisch- analytische[r] Rekonstruktion“ (Dausien 2000: 97) gemacht, die damit den Weg für Dekonstruktionen ebnen kann. Dazu kann es erforderlich sein, Ausprägungen solch alltagsweltlicher Dichotomien in einem sozial-situativen Setting (vgl. Dausien 2006: 27f.) zu untersuchen. Dies bildet die Grundlage für die empirische Untersuchung, die in Kapitel 4 dargelegt wird.

Geschlechterbezogene Konstrukte als Ursprung von Geschlechterdifferenzen in der schulischen Ökonomischen Bildung sollen somit im Rahmen der Untersuchung zunächst offengelegt werden, um Implikationen für den Umgang mit diesen herzuleiten. Da fachliche Spezifika betrachtet werden sollen, werden im Folgenden Inhalte der Ökonomischen Bildung forciert.

1 Dieser Beitrag sowie die herangezogene Untersuchung kann einem konstruktivistischen Grundverständnis von Gender zugeordnet werden. Eine umfassendere Auseinandersetzung ist bei Beckmann 2020 zu finden.

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