Fremdheitserfahrungen und Passungsprobleme von Bildungsaufsteiger*innen

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1-2021: „Aber wir finden das doch einfach immer wieder!“ Fremdheit und Passungsprobleme von Bildungsaufsteiger*innen als methodisches Problem

„Aber wir finden das doch einfach immer wieder!“ Fremdheit und Passungsprobleme von Bildungsaufsteiger*innen als methodisches Problem

Ingrid Miethe

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1-2021, S. 19-41.

 

Zusammenfassung

„Aber wir finden das doch einfach immer wieder!“ ist eine häufige Reaktion von Kolleg*innen auf meine inzwischen öfter vorgebrachte These der Relativierung von Fremdheitserfahrung bei Bildungsaufsteiger*innen (Miethe 2017; Käpplinger/Miethe/ Kleber 2019). „Ja. Ich habe das auch in meinem Material“, so meine Antwort, „aber eben nicht nur das. Wir müssen genauso nach gegenläufigen Befunden suchen und vor allem die Fremdheitserfahrungen im biographischen Gesamtkontext interpretieren.“ Meine Antwort verweist auf ein methodisches Grundproblem, nämlich in welchem Maße in einer qualitativen Forschung theoretische Annahmen eine Interpretation bestimmen (dürfen) und wie offen methodisch gearbeitet werden kann/muss. Die These des Beitrags ist von daher, dass die seit Jahrzehnten beschriebenen Fremdheitserfahrungen und Passungsprobleme (auch) Folge einer zu starken Fokussierung auf die Konzeption Bourdieus ist – eine theoretische Vorprägung, die methodisch nicht ausreichend berücksichtigt wird. Diese theoretische Vorprägung hat Auswirkungen auf Datenerhebung, Sampling und Auswertung und führt im Ergebnis zu einer Überwertung möglicher Passungsprobleme.

 

1. Das Ausgangsproblem

„Aber wir finden das doch einfach immer wieder!“ ist eine häufige Reaktion von Kolleg*innen auf meine inzwischen öfter vorgebrachte These der Relativierung von Fremdheitserfahrung bei Bildungsaufsteiger*innen (Miethe 2017; Käpplinger/Miethe/ Kleber 2019). „Ja. Ich habe das auch in meinem Material“, so meine Antwort, „aber eben nicht nur das. Wir müssen genauso nach gegenläufigen Befunden suchen und vor allem die Fremdheitserfahrungen im biographischen Gesamtkontext interpretieren.“ Die These von der „Fremdheit“ der Bildungsaufsteiger*innen1 bzw. deren „Passungsproblemen“ dominierte lange Zeit den wissenschaftlichen Diskurs um dieses Themenfeld, der auch international als „deficit thinking paradigm“ (Valencia 2010) kritisiert wurde. Diese Defizit-Perspektive zieht sich wie ein roter Faden seit dem Beginn dieser Forschungen in den 1970er Jahren bis zu aktuellen Studien. In den älteren Forschungen wurden vor allem psychologische Erklärungsmuster bemüht, indem im Kontext dieses Personenkreises auf „Identitätskrisen“ (Haeberlin/Niklaus 1978), eine „stark beschädigte Identität“ (Theling 1974: 120) oder auch auf „narzisstische Krisen“ (Streeck 1981) hingewiesen wurde. „Entfremdung gegenüber der Familie, partielles Fremdbleiben in der neuen Umgebung“ (Albrecht-Heide 1974: 81) seien der Preis für den Erfolg. Einflussreiche Studien mit Buchtiteln wie Ich gehörte irgendwie so nirgends hin… (Bublitz 1982) oder Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden (Theling 1986) zeigen eindrücklich die Richtung der damaligen Argumentationen.

Neuen Schub bekam die Forschung durch die Arbeiten Bourdieus (zum Beispiel Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1983, 1987) und seiner Rezeption in Deutschland. Mit dieser theoretischen Konzeption erfolgte die Abkehr von psychologisierenden Problemzuschreibungen und das Bildungssystem selbst mit seinen impliziten Normen geriet in die Kritik. Allerdings wurde die Defizit Perspektive auf die Bildungsaufsteiger*innen nicht aufgelöst, denn der Fokus verschob sich lediglich von einer psychologisch definierten „Fremdheit“ in Richtung soziologisch definierter „Passungsprobleme“. In dieser theoretischen Ausrichtung ist die Grundargumentation die, dass Studierende der ersten Generation aufgrund der großen Distanz zwischen ihrer sozialen Herkunft und den damit verbundenen habituellen Prägungen sowie den Anforderungen einer intellektuell-bildungsbürgerlich geprägten Hochschule (vgl. z. B. Möller 2015) zu „Bildungsaußenseitern“ (Lange-Vester 2009) werden und dadurch mehr Probleme haben als Studierende aus bildungsnahen Elternhäusern. Ausgehend von dieser theoretischen Prämisse wurden in verschiedenen Studien „Habitus-Struktur-Konflikte“ (Sch-mitt 2010), „Passungsprobleme“ (Alheit 2005) oder „Passungsprobleme und Spannungsverhältnisse“ (Lange-Vester/Sander 2016) beschrieben. Derartige Passungsprobleme sind keinesfalls neutral, sondern es wird unterstellt, dass diese negativ erlebt werden und einen erfolgreichen Hochschulabschluss zumindest erschweren. „Der Konflikt zwischen Habitus und Struktur“, so kritisiert Spiegler (2015: 302), wurde „im Zusammenhang mit Bildungsaufstiegen in der nationalen und internationalen Forschung der vergangenen Jahrzehnte“ zum „dominierende[n] Befund“.

Erst in jüngster Zeit kam hier einiges in Bewegung. Vor allem im Zusammenhang mit der Untersuchung bildungserfolgreicher Migrant*innen (vgl. z. B. Raiser 2007; Hummrich 2009; Tepecik 2011; El-Mafaalani 2012; Carnicer 2017) kamen verstärkt Ressourcen und Habitustransformationen in den Blick. Auch in der allgemeinen Ungleichheitsforschung wurde die Defizit-Orientierung zunehmend kritisch hinterfragt (Spiegler 2015; Miethe et al. 2014; Miethe 2017; Käpplinger/Miethe/Kleber 2019). Trotz dieser relativierenden Befunde ist die These der Passungsprobleme nach wie vor sehr dominant im Diskurs, was nicht zuletzt damit begründet wird, dass derartige Perspektiven sich empirisch nachweisen lassen.

An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag ein, in dem aufgezeigt werden soll, dass es sich dabei um ein methodenimmanentes Problem handelt, rücken doch in einer inhaltsanalytisch oder habitushermeneutisch orientierten Forschungsperspektive notwendigerweise die in der Tradition Bourdieus stehenden theoretisch unterstellten Passungsprobleme stärker in den Fokus als andere möglicherweise relevante Passungen. In einer rekonstruktiven Perspektive ist es demgegenüber sehr viel besser möglich (1) offen danach zu schauen, welche Aspekte Bildungsaufstiege befördern oder verhindern und (2) den Stellenwert möglicher Passungsprobleme im Kontext der Gesamtbiographie und damit auch des Bildungswegs zu erfassen. So wird in einer solchen Perspektive nachvollziehbar, dass benannte Passungsprobleme innerhalb eines Gesamtbildungsweges eher „Nebenschauplätze“ für den Bildungsweg sein können und ganz andere Faktoren strukturbildend sind – Faktoren, die leicht übersehen werden, wenn der Analysefokus von vornherein auf habituelle (Nicht-)Passungen gerichtet wird.

2. Methodische Antworten

Qualitative Forschung steht zumeist in der Tradition der Grounded Theory (GT) (Glaser/Strauss 1967) und beansprucht prinzipiell ein offenes, das heißt induktives Vorgehen. Trotzdem spielen theoretische Konzepte auch in der GT eine Rolle. Für die GT werden zwei verschiedene Positionen beschrieben, nämlich einerseits die „Emergenz-Metapher“, also die Annahme, Theorie emergiere im Forschungsprozess von selbst aus dem empirischen Material, und zum anderen das Konzept der „theoretischen Sensibilität“, das davon ausgeht, dass die Generierung von Kategorien vom theoretischen Vorwissen der Untersuchenden abhängig ist (Kelle 1996: 24). Diese beiden Positionen stellen nicht unbedingt einen „Widerspruch“ (ebd.) innerhalb der GT dar, sondern können als „zwei (gleichwertige) Möglichkeiten der Theoriebildung betrachtet werden“ (Miethe 2012: 154), auch wenn, wie Kelle (1994) kritisiert, dieser Gedanke in der GT methodisch und methodologisch wenig ausgearbeitet ist und die Frage damit auch offenbleibt, wie theoretisch sensibilisierte Forschende ihr empirisches Material strukturieren können.2 Durch letzteres ergibt sich dann das Problem, dass sich ein relativ breiter Interpretationsrahmen eröffnet, wie stark theoretische Grundannahmen einen qualitativen Forschungsprozess beeinflussen dürfen.

Dies zeigt bei der Untersuchung von Bildungsaufsteiger*innen Folgen, denn der Großteil der qualitativen Studien arbeitet mit der theoretischen Konzeption Bourdieus. Wie Spiegler feststellt, wird in der bildungssoziologischen Forschung aber primär die „ungleichheitsstabilisierende Wirkung“ (Spiegler 2015: 242) der habituellen Prägungen in den Blick genommen. Die dominante Perspektive eines großen Teils der bildungssoziologischen Arbeiten nimmt in der Tradition Bourdieus die Frage der (Nicht-)Passung zwischen Habitus und Stellung im sozialen Raum in den Blick, wobei „die Beschreibung des Konfliktes, der sich aufgrund mangelnder Passung zwischen Habitus und Struktur ergeben kann“ (ebd.: 250), im Fokus steht. Fragen der Passung oder der Habitustransformation werden deutlich seltener und erst in jüngster Zeit verfolgt.

Eine Nicht-Passung der Bildungsaufsteiger*innen im akademischen System scheint somit theoretisch und empirisch gesetzt. Untersucht werden muss so nicht, ob eine Passung besteht oder nicht, sondern der Schwerpunkt liegt darauf aufzuzeigen, wie genau sich die Nichtpassung zeigt. Dieser Fokus dominiert von vornherein die Fragestellung mancher Arbeiten und damit natürlich auch die Analyserichtung. Bereits hier liegt ein methodisches Argument im Sinne einer self-fulfilling prophecy: Wenn ich bereits theoretisch von Barrieren und Nicht-Passungen ausgehe, werde ich empirisch auch genau danach suchen und diese letztlich auch finden. So ist ein spezifischer Fokus gesetzt, bevor überhaupt mit der eigentlichen Forschung begonnen wird.

Ich möchte keinesfalls bestreiten, dass die Konzeption Bourdieus einschließlich des auf ihn zurückgehenden Gedankens der Passungsverhältnisse bezüglich des Zusammenhangs von Bildung und sozialer Ungleichheit eine große Erklärungskraft hat. Forschungen in dieser Tradition haben sehr wichtige Ergebnisse über Passungsverhältnisse von Bildungsaufsteiger*innen aufgezeigt und waren wichtige Wegbereiter für einen Perspektivwechsel weg von „vereinfacht subjektive[n] Lebensweisen im Sinne eines Sein-Bewusstseins-Schemas durch sozioökonomische Rahmungen“ (Bremer/Teiwes-Kügler 2009: 200) hin zur Erfassung der „Vielschichtigkeit von Lebensweisen und deren Zustandekommen“ (ebd.: 201) unter Einschluss herrschaftskritischer Mechanismen des Ausschlusses. Für ein offen rekonstruktives Verfahren ist eine solche ex ante Fokussierung jedoch nur begrenzt hilfreich, ist die Analyserichtung doch von vornherein auf die Untersuchung der Passungsverhältnisse beschränkt, womit die Gefahr besteht, nicht für diesen Fokus relevanten Aussagen der Interviewten weniger Beachtung zu schenken. Diese Gefahr besteht vor allem auch deshalb, da in der Regel qualitatives Material so umfangreich und komplex ist, dass notwendigerweise eine Reduzierung und Konzentration erfolgen muss. Das Ergebnis ist somit bereits in der Anlage der Studie vorgeprägt: Dass Passungsprobleme bestehen, ist theoretisch gesetzt, und es geht in der Studie nur noch darum aufzuzeigen, wie sich dies konkret ausbuchstabiert. Gesetzt ist dabei auch, dass Passungsprobleme von der sozialen Schicht abhängig sind – genau dies wird auch die Analyserichtung bestimmen, womit die Gefahr besteht, andere Differenzierungskriterien, wie zum Beispiel Entfernung vom Studienort oder Stadt-Land-Gefälle, die auch quer zu schichtspezifischen Befunden stehen können (vgl. Käpplinger/Miethe/Kleber 2019), weniger in der Analyse zu berücksichtigen.

Um von daher einer einseitigen Überinterpretation habitueller Nicht-Passungen entgegenzuarbeiten, ist es notwendig, derartige Nicht-Passungen nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern diese lediglich als eine unter vielen Erklärungsmöglichkeiten zu betrachten. Die Frage muss sein, ob und nicht wie Passungsprobleme der zentrale Punkt der Deutung sein können. Die Konsequenz daraus ist ein prinzipiell offenes Vorgehen sowohl in der Datenerhebung als auch in der Auswertung.

2.1 Datenerhebung und Sampling

Qualitative Forschung beansprucht prinzipiell keine Repräsentativität, sondern es geht ihr um Theoriegenerierung und Strukturgeneralisierung. Dies erfordert gezielte Samplingstrategien die nach dem Prinzip „minimalen“ und „maximalen“ Vergleichs (Glaser/Stauss 1967: 45 ff.) gegenläufige Befunde miteinander kontrastieren, um auf diese Weise theoretisch neue Annahmen zu finden (theoretisches Sampling). Dabei ist die Trennung zwischen Erhebung und Auswertung aufgehoben, da sich erst im Forschungsprozess theoretisch relevante neue Erkenntnisse herausbilden, die gegebenenfalls neue Erhebungen nach sich ziehen können. Der Erhebungsprozess gilt als abgeschlossen, „wenn keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden“, durch welche „die Aussagekraft der Kategorie weiterentwickelt werden kann“, womit eine „theoretische Sättigung“ erreicht sei (ebd.: 61).

Dieses Prinzip bedeutet, dass bereits bei der Samplebildung gezielt nach gegenläufigen Fällen gesucht werden muss. Wenn mich also Passungsprobleme interessieren, dann darf mein Sample keinesfalls darauf gerichtet sein, primär nach Personen zu suchen, bei denen diese zu vermuten sind, sondern im Sinne maximalen Vergleichs muss gezielt auch nach Personen gesucht werden, bei denen diese vermutlich nicht zu finden sind. Bereits diese Forderung ist in vielen Studien nicht umgesetzt, sondern der Fokus bleibt auf die Beschreibung problematischer Passungen reduziert. Auch werden häufig gerade Problemgruppen untersucht, zum Beispiel Studienabbrecher*innen oder Personen mit Beratungsbedarf, womit bereits im Sampling ein Defizit-Bias angelegt ist.

Auch sind die möglicherweise relevanten Faktoren für Bildungswege sehr komplex. Neben der sozialen Schicht können Geschlecht und Migrationshintergrund, aber auch Behinderung oder Krankheit etc. eine Rolle spielen. Ebenso spielt die Art des Hochschulzugangs (erster, zweiter, dritter Bildungsweg), die Art der schulischen Bildung (Gymnasium versus andere Formen), die Hochschulform selbst (Universität versus Fachhochschule) genauso wie die fachkulturelle Prägung (zum Beispiel bildungsbürgerliche Fächer wie Medizin versus „Aufsteigerfächer“ wie Erziehungswissenschaft) eine Rolle. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Deutlich wird hier, dass es bei der Vielzahl der relevanten Faktoren kaum möglich ist, eine theoretische Sättigung zu erreichen. Von daher müssen notwendigerweise Reduktionen der Auswahlkriterien getroffen werden.

1 Die in der Literatur genutzten Begrifflichkeiten sind nicht einheitlich. In der älteren Literatur wird noch die Kategorie der „Arbeiterkinder“ genutzt, aktuellere Studien sprechen eher von „Studierenden der ersten Generation“. Der Begriff „Bildungsaufsteiger*innen“ ist breiter und umfasst nicht nur Aufstiege in das akademische Milieu. In meinem Beitrag werden unter Bildungsaufsteiger*innen Personen verstanden, die Bildungswege in das akademische Milieu einschlugen und sogenannte „weite Aufstiege“ machten. Dieser Begriff wird in Anlehnung an Pollak (2010: 20) genutzt, der Aufstiege dann als „weit“ definiert, wenn aus intergenerationaler Perspektive ein Berufsaufstieg erfolgt ist, der eine „benachbarte Hierarchiestufe“ übersprungen hat. Mit dieser Eingrenzung des Samples sollte vermieden werden, Bildungsaufstiege zu erfassen, die sich lediglich aus der Notwendigkeit der Statussicherung der Familie durch graduelle Höherqualifikation in Reaktion auf sich verändernde Sozialstruktur im Zuge der Modernisierung ergaben (sogenannter „Fahrstuhleffekt“) (vgl. Vester 2004).
2 Aktuellere Versionen der GT bieten zwar neue Interpretationsmöglichkeiten empirischen Materials, haben aber diese methodologische Grundfrage auch nicht weiter ausgearbeitet (siehe zum Beispiel Clarke 2005).

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