Die Zirkulation von Fluchtnarrationen. Über die Erzählungen von Fluchtwegen und deren Thematisierung in sozialpädagogischen Beratungskontexten
Jana Posmek, Pascal Bastian
Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM), Heft 1-2022, S. 59-73.
Zusammenfassung: Der Fluchtweg und dessen Erzählung ist ein noch wenig erforschtes Feld. Basierend auf problemzentrierten Interviews mit Geflüchteten und teilnehmenden Beobachtungen von Asylberatungen geht der Beitrag der Untersuchung von Fluchtnarrationen und den Thematisierungen des Fluchtweges in der sozialpädagogischen Beratung nach. Die Analysen geben nicht nur Aufschluss darüber, was bzw. wie über ‚die Flucht‘ berichtet wird, sondern offenbaren darüber hinaus, dass sozialpädagogische Berater:innen, ebenso wie weitere Akteur:innen, an diesen Narrationen beteiligt sind. Theoretisch durch den von Bruno Latour herausgearbeiteten Begriff der Zirkulation gerahmt, folgen wir den Verschiebungen der Fluchtnarrationen, die nicht nur zwischen Professionellen und Adressat:innen zirkulieren; vielmehr treten auch verschiedene nicht-menschliche Akteure, Institutionen sowie die untersuchenden Wissenschaftler:innen selbst als Akteur:innen in Erscheinung, welche die Bedeutung der migration journeys bearbeiten, übersetzen und verändern. Die Ergebnisse werden im Hinblick auf die Reflexion der eigenen Eingebundenheit von Forschenden in solchen Zirkulationsprozessen sowie bezüglich der Relevanz einer Weiterführung solcher Untersuchungen diskutiert.
Schlüsselwörter: Fluchtweg, Fluchtnarrationen, Zirkulation, Reflexion
Title: The circulation of the flight narration. On the narrations of migration journeys and how they are addressed in social pedagogical counseling contexts
Summary: The migration journey and its narrations are still little examined. Based on problem-centered interviews with refugees and participant observations of asylum counseling sessions, this article investigates narrations and the addressing of the migration journey in social pedagogical counseling. The analyses not only shed light on what is reported on ‘the flight’ and how, but also reveal that social pedagogical counselors, as well as other actors, are involved in these narrations. Theoretically framed by Bruno Latour’s concept of circulation, we follow the shifts of the narrations that circulate not only between professionals and clients. Rather, various non-human actors, institutions and the investigating scholars themselves emerge as actors who edit, translate and change the meaning of the migration journeys. The results are discussed with regard to the reflection of the researchers’ own involvement in such circulation processes as well as concerning the relevance of further research.
Keywords: migration journey, migration narrations, circulation, reflection
1 Einleitung
„[R]efugee journeys are powerful life-changing events that greatly influence whoever experiences them“ (BenEzer/Zetter 2015: 297). Die Flucht, also die Bewegung von einem (Herkunfts‐)Land zu einem anderen Land, ist eine folgenreiche Erfahrung. Sie ist folgenreich, insofern sie biografisch als einschneidend, gar traumatisierend erlebt werden kann; aber auch, insofern sie selbst konstitutive Voraussetzung dafür ist, dass Menschen zu ‚Flüchtlingen‘ werden. Nicht nur der Prozess des Fliehens selbst, sondern gerade auch die Fluchtnarration, d. h. das retrospektive Erzählen von und Sprechen über die ‚Fluchtreise‘1, ihre Darstellung, Rezension, (Re)Produktion und ihr Glaubwürdigmachen in institutionellen machtvollen Zusammenhängen des Ankunftslandes markiert Menschen auf bestimmte Weise als Geflüchtete. Umso verwunderlicher ist es, dass der Flucht als biografisch bedeutsamer Prozess und als soziale Konstruktion in der Migrationsforschung bislang nur wenig Aufmerksamkeit zukommt.
Diesem Desiderat nimmt sich der vorliegende Artikel an, der nicht den Prozess des Fliehens als solchen ethnografisch begleitet und analytisch rekonstruiert, sondern den Blick auf die Fluchtnarrationen lenkt. Anhand empirischer Analysen von Interviews mit Geflüchteten (Projekt A) und teilnehmender Beobachtungen von Asylberatungen (Projekt B) möchten wir der Frage nachgehen, wie über Flucht gesprochen wird, d. h. wie die ‚Fluchtreise‘ retrospektiv gerahmt, (re‐)präsentiert, (re‐)produziert und thematisiert wird. Diese Analyse wird zunächst in einen bislang noch überschaubaren Forschungsstand von Studien eingebunden, welche die Fluchtnarrationen von Geflüchteten oder Migrant:innen in den Blick nehmen. Anschließend wird sie durch den von Bruno Latour herausgearbeiteten Begriff der Zirkulation gerahmt, da sich aus unserer Sicht dadurch die in der Analyse zunächst als Irritation erlebten Verbindungen zwischen den Ergebnissen der Interviews und Beobachtungen nachzeichnen lassen, indem wir die Fluchtnarration als etwas herausstellen, das ständig zirkuliert. In der empirischen Rekonstruktion der Daten erarbeiten wir dann sukzessive, wie in den unterschiedlichen Materialien über die ‚Fluchtreise‘ gesprochen wird und wie deren Bedeutung u. a. von Formen, Akteur:innen und Adressat:innen transportiert und transformiert wird.
2 Migration journey – aktueller Forschungsstand
Dem eigentlichen Prozess des Fliehens, der ‚Fluchtreise‘, wird in der Geflüchteten- und Zwangsmigrationsforschung bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt (BenEzer/Zetter 2015). Dies verwundert bereits insofern, als der Prozess des Fliehens aufgrund besonders gefährlicher oder extremer Situationen und Erlebnisse, die sich während der Flucht ereignen (Crepet et al. 2017: 6; Mangrio/Zdravkovic/Carlson 2018: 3), oft als sehr prekär, psychisch und gesundheitlich belastend oder gar traumatisierend erlebt wird (BenEzer/Zetter 2015; Ben Farhat et al. 2018; Mangrio/Zdravkovic/Carlson 2018; Crepet et al. 2017). Neben Studien, welche die leidvollen Erlebnisse der Flucht und die Geflüchteten als vulnerable Gruppe in den Blick nehmen, lenkt eine Reihe anderer empirischer, mehrheitlich qualitativer Untersuchungen die Perspektive stärker auf die Agency der Akteur:innen, wenn sie die Rolle von digitalen (sozialen) Technologien wie Smartphones (Überblick hierzu vgl. Alencar 2020), die während der Flucht als wertvolle, empowernde Ressource fungieren, herausarbeiten (Gillespie/Osseiran/Cheesman 2018; Richter/Emmer/Kunst 2018; Zijlstra/van Liempt 2017).
Ein weiterer Forschungszweig betrachtet die ‚Fluchtreise‘ – bzw. deren (retrospektive) (Re‐)Präsentationen – in Hinblick auf dynamische Prozesshaftigkeiten. Kritisiert wird die Simplifizierung und Vereinheitlichung, die Politik, Medien und auch Wissenschaft vornehmen, indem sie die ‚Fluchtreise‘ als einen linearen, bipolaren Prozess fassen und darstellen, der einen eindeutigen Start- und Endpunkt aufweist (Mainwaring/Brigden 2016). Empirische Studien, welche die ‚Fluchtreise‘ selbst zum Gegenstand nehmen, insofern sie die Methode der „trajectory ethnography“ (bspw. Zijlstra/van Liempt 2017; Schapendonk/Steel 2014) anwenden bzw. die Fluchtnarrationen von Geflüchteten oder Migrant:innen analysieren (Yıldız/Sert 2019; Kaytaz 2016), machen demgegenüber deutlich, dass deren Mobilität selten lineare, stringente, dichotome Logiken im Sinne eines „uprooting-movement-regrounding“ (Schapendonk/Steel 2014: 268) birgt. Im Gegenteil: Migrant:innen können oft weder den Beginn der ‚Reise‘ noch deren Ende genau bestimmen – aus Zielländern werden im Verlauf etwa oft Transiträume (Mainwaring/Brigden 2016). Vielmehr offenbare sich die ‚Reise‘ empirisch als ein Bündel heterogener, dynamischer, non-linearer, fragmentierter, zirkulärer, komplexer sowie transformativer Prozesse und solle auch in der theoretischen Betrachtung als ebensolches konzeptualisiert werden (Crawley/Jones 2020; Yıldız/Sert 2019; Kaytaz 2016; Mainwaring/Brigden 2016; BenEzer/Zetter 2015; Collyer 2010).
Damit einher geht die Forderung, Migrant:innen eine Stimme zu geben und damit die Möglichkeit „to construct/narrate their own meanings and experiences about their own journeys“ (Crawley/Jones 2020: 14) zu eröffnen. Begründet wird dieser akteurszentrierte Ansatz zum einen damit, dass die Repräsentation bzw. Konzeptualisierung der migrant journey durch andere Akteur:innen immer auch ein machtvoller Akt sei, der nicht selten mit politischen Interessen korreliere (Mainwaring/Brigden 2016). Diesbezüglich sei es auch notwendig, die wissenschaftliche Beforschung der ‚Fluchtreise‘ beständig zu hinterfragen, da diese das Verständnis der und den Blick auf die ‚Reise‘ (mit)formt (Crawley/Jones 2020). Zum anderen seien Narrationen der Migrant:innen ein wichtiger Zugang für Außenstehende, um die Erfahrungen der Menschen zu verstehen (Kaytaz 2016; BenEzer/Zetter 2015). Die narrative Konstruktion der ‚Fluchtreise‘ sei eine „agentic action as it imbues the journey with meaning and constitutes the present“ (Kaytaz 2016: 294). Das Erzählen über Flucht bzw. die Fluchterzählung diene Migrant:innen dazu, ihren Erfahrungen Sinnhaftigkeit, Bedeutung, Struktur und Kohärenz zu verleihen (Crawley/Jones 2020; Kaytaz 2016; Gardner 2002). Chamakalayil et al. (2020) machen zudem darauf aufmerksam, dass das biografische Erzählen der Fluchtgeschichte in machtvolle migrationsgesellschaftliche, neoliberale Kontexte eingebettet ist, welche reglementieren, was auf welche Weise „erzählbar oder auch nicht erzählbar“ (ebd.: 1) ist.
Auch wir betrachten im Folgenden nicht die ‚Reise‘ als solche genauer, sondern ihre Narration, ihre Konzeptualisierung und Strukturierung und fragen danach, wie die Fluchtnarration selbst zwischen unterschiedlichen Akteur:innen zirkuliert und transformiert wird.
3 Zirkulationen – ein relationaler Blick auf Fluchtnarrationen im Kontext sozialpädagogischen Handelns
Die Beschäftigung mit der Zirkulation der Fluchtnarrationen entstand vor allem durch eine Irritation bei der Analyse der Interviews (Projekt A) sowie der Protokolle aus den teilnehmenden Beobachtungen von Asylberatungssituationen (Projekt B). Bei den beiden hier fokussierten Projekten handelt es sich um zwei unabhängige, aus Eigenmitteln finanzierte Vorstudien für einen Forschungsantrag über professionelle Handlungsansätze in der sozialpädagogischen Arbeit mit Geflüchteten. In der einen (A) wurden junge minderjährige Geflüchtete zu ihren Bedarfen in der Sozialen Arbeit befragt, in der anderen (B) wurden unabhängige Asylberatungen teilnehmend beobachtet. Obwohl es sich um zwei eigenständige Projekte handelt, in denen verschiedene (menschliche) Akteur:innen scheinbar unabhängig voneinander agieren (es wurden z. B. nicht speziell die Beratungen der Geflüchteten beobachtet, die interviewt wurden), zeigten sich starke Verbindungen zwischen den Fluchtnarrationen und den Beratungsinhalten. Um diesen Verbindungen gezielt nachzugehen, erwies sich die von Bruno Latour entworfene relationale Perspektive als äußerst fruchtbar.
Eine wichtige Prämisse von Latour besteht darin, den Akteur:innen zu folgen („follow the actors“), d. h. den Blick nicht auf große Kontexte und Erklärungen zu richten (Latour 2017), sondern auf konkrete Akteur:innen, die an konkreten Orten Verknüpfungen schaffen.
Alles, was „eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht“ (ebd.: 123), ist ein:e Akteur:in. Wenn wir zum Beispiel Interviews mit Geflüchteten führen, wird diesen offensichtlich ein Akteurstatus verliehen, denn sie sind es zunächst, die erzählen, also handeln. Gleichzeitig handeln Akteur:innen nie alleine, vielmehr ist ein solches Handeln eingewoben in ein Netzwerk vieler unterschiedlicher Akteur:innen, die sich an der Handlung beteiligen. Die Liste der Akteur:innen muss also durch die sozialpädagogischen Fachkräfte, die beraten, aber auch die Wissenschaftler:innen, die befragen und beobachten, erweitert werden, wodurch diesen Akteur:innen eine Stimme verliehen wird, um sich an der Artikulation (der Fluchtnarration) zu beteiligen und zu dessen Zirkulation beizutragen (Latour 2018: 147). Aus Latours Sicht sind es gerade die nicht-menschlichen Entitäten, die einen Unterschied machen und als sogenannte Mittler fungieren, die Bedeutung „oder die Elemente, die sie übermitteln sollen“, „übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren“ (Latour 2017: 70) und damit mit-handeln. Sowohl Handeln als auch Bedeutung, Wissen, Fähigkeiten oder Seinszustände sind nicht statisch oder lokal, sondern dislokal (ebd.: 82) und zirkulierend. Zirkulation wird vor allem durch nicht-menschliche Wesen ermöglicht, die als sogenannte Formen, „etwas anderes von einem Ort an einen anderen […] transportieren“ (ebd.: 386) und so Bedeutung transformieren und übersetzen. Dies können ein einfaches Schriftstück, ein Pass oder geografische Karten sein. Zu jedem Akteur gehört ein „große[s] Netzwerk von Verknüpfungen, […] das ihn handeln macht“ (ebd.: 376).
Der vorliegende Beitrag versucht nun den Blick auf die Relationen, Verbindungen und Assoziationen zwischen den in den Daten der beiden Projekte sich offenbarenden Fluchtnarrationen zu richten. Entsprechend interpretieren wir Fluchtnarrationen als etwas, das nicht lokalisiert werden kann oder statisch und stabil, sondern vielmehr in der „Umgebung verteilt“ (ebd.: 365) ist. Uns geht es darum, solche Verknüpfungen empirisch offen zu legen, ohne vorschnell Rollen – im Sinne von handelnden Subjekten und verfügbaren Objekten – zu vergeben, sondern die Liste der Akteur:innen, der Beteiligten an einer Handlung, zu erweitern (Latour 2018). Dadurch müssen die Mittler und Formen identifiziert werden und ihnen zu lokalen und somit ganz konkreten anderen Orten gefolgt werden.
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