Feministische Kritik in fiktiven Briefen an das jugendliche Selbst

GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3-2024: Von der Betroffenheit zur Befreiung? Such-Bewegungen feministischer Kritik

Von der Betroffenheit zur Befreiung? Such-Bewegungen feministischer Kritik

Iris Mendel

GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Heft 3-2024, S. 12-26.

 

Zusammenfassung

Persönliche Erfahrung war und ist umstrittener Einsatzpunkt feministischer Kritik. Im Beitrag diskutiere ich anhand theoretischer und autobiografisch inspirierter feministischer Texte das Verhältnis von Betroffenheit und Befreiung, Erfahrung und Kritik. In einer Analyse einer Sammlung fiktiver Briefe von Aktivist*innen verschiedener Generationen an sich selbst als Jugendliche gehe ich dem subjektiven Kritisch-Werden im gesellschaftspolitischen Kontext nach. Dabei geht es auch um die Frage, welches theoretische und methodologische Verständnis feministischer Kritik in den Briefen artikuliert wird und inwiefern dieses für eine (Selbst-)Reflexion der Geschlechterforschung relevant ist, nicht zuletzt im Hinblick darauf, wie diese geschrieben werden kann. Folgende Momente feministischer Kritik werden herausgearbeitet: Bewegung, Entfremdung, Un/Glück, Theorie, (Selbst-)Sorge, Risiko und Community. Abschließend diskutiere ich die Prekarität und das Potenzial eines solchen in persönlichen Erfahrungen und alltäglicher Praxis verankerten Kritikverständnisses.

Schlüsselwörter
Consciousness Raising, Erfahrung, Feministische Kritik, Storytelling

 

On being affected. Personal experience and feminist critique

Summary

Personal experience was and still is a controversial point of departure for feminist critique. In this article, I draw on theoretical and autobiographically inspired feminist texts to discuss the relationship between being affected and liberation. I analyze a collection of fictional letters that activists of different generations wrote to their teenage selves and explore their subjective processes of becoming critical in the socio-political context. I also examine which theoretical and methodological understanding of feminist critique is articulated in these letters and to what extent this is relevant for a (self-)reflection of gender studies, not least when it comes to how research can be written differently. The following aspects of feminist critique are identified: movement, alienation, un/happiness, theory, (self-)care, risk and community. Finally, I discuss the precariousness and potential of such an understanding of critique that is anchored in personal experience and everyday practice.

Keywords
consciousness raising, experience, feminist critique, storytelling

 

1 Einleitung

„Das Persönliche ist politisch“ lautet ein viel zitierter feministischer Slogan. Er verweist auf den feministischen Ansatz, ausgehend von der kollektiven Bearbeitung von Erfahrungen, gesellschaftliche Strukturen zu erkennen und zu verändern. Betroffenheit war und ist ein umstrittener Einsatzpunkt feministischer Kritik. In meinem Beitrag diskutiere ich durch das Ineinander-Lesen theoretischer und autobiografisch inspirierter feministischer Texte das Verhältnis von Betroffenheit und Befreiung, Erfahrung und Kritik.

Dafür ziehe ich eine Sammlung fiktiver Briefe von Aktivist*innen an sich selbst als Jugendliche heran und gehe dem subjektiven Kritisch-Werden und Ver-Suchen der Befreiung von Herrschaftsverhältnissen im gesellschaftspolitischen Kontext nach. Das Ziel des Beitrags ist zu zeigen, was aus diesen Erzählungen über feministische Kritik, insbesondere in Bezug auf eine theoretische und methodologische Standortbestimmung der Geschlechterforschung, gelernt werden kann. Dabei begreife ich diese Briefe an das jugendliche Selbst als narrative Konstruktionsakte der Erinnerung und der Selbstverständigung: Erinnerungen werden geordnet und in Zusammenhang gebracht, bestimmte Momente werden erzählt und hervorgehoben, andere treten in den Hintergrund oder werden ausgelassen. Was und wie erzählt wird, hat auch damit zu tun, was unter Feminismus und feministischer Kritik individuell und gesellschaftlich verstanden wird. Denn Erinnern und Erzählen prägen die Erfahrung der Gegenwart und können alternative feministische Zukünfte eröffnen. In diesem Sinne geht es in dem Text auch um ein Nachdenken, Erzählen und Schreiben von Feminismus, das der Komplexität und Vielfalt feministischer Kämpfe kaum gerecht werden kann (vgl. z. B. Guest 2016; Hemmings 2011), und das dann auch immer mit der Frage verbunden ist, wer erzählt und wer unter welchen Bedingungen Gehör findet – oder auch nicht.

Die transdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Betroffenheit und Befreiung, Erfahrung und Kritik am Beispiel von Selbsterzählungen feministischer Aktivist*innen soll auch einen konzeptionellen Beitrag zu aktuellen Debatten um (feministische) Kritik leisten. Als „foundational characteristics of feminist, gender and queer studies“ betrifft Kritik das epistemologische und methodologische Selbstverständnis der Geschlechterforschung, die Bedingungen feministischer Wissensproduktion sowie die Frage, wie feministisch über „questions of transformation, emancipation, and of social justice“ (Liljeström/Peltonen 2017: 1) nachgedacht wird. In meinem Beitrag greife ich das in aktuellen Debatten artikulierte Unbehagen am „negativen“ Modus von Kritik auf, ohne diese zugunsten „affirmativer“ Kritik zu verabschieden. Bezugnehmend auf die in fiktiven Briefen beschriebenen Erfahrungen von Aktivist*innen sowie theoretische feministische Texte arbeite ich sieben Aspekte feministischer Kritik heraus: feministische Kritik und/als Bewegung, Entfremdung, Un/Glück, Theorie, (Selbst-)Sorge, Risiko und Community. Dabei argumentiere ich, dass gerade Alltagsbezogenheit und politische Handlungsfähigkeit im Zentrum feministischer Kritik standen und stehen und eine klare Grenzziehung zwischen „negativer“ und „affirmativer“ Kritik infrage zu stellen ist. Der Beitrag zur Standortbestimmung und (Selbst-)Reflexion der Geschlechterforschung ist also in feministischen Bewegungen verortet. Insbesondere geht es mir um die alltags- und bewegungspolitischen Impulse zur epistemologischen Entwicklung der Geschlechterforschung, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, wie diese geschrieben wird.

2 Das Persönliche ist politisch, das Persönliche ist theoretisch: Erfahrung, Kritik und Befreiung

Inwiefern können Erfahrungen – von Sexismus, von Rassismus, von Ausbeutung – ein Zündfunke von Kritik, ein Schritt in Richtung Befreiung von Herrschaftsverhältnissen sein? Die Politisierung von Erfahrung, und das heißt auch, wie ich argumentiere, das Infragestellen und Theoretisieren von Erfahrungen, ist im Kontext der Zweiten Frauenbewegung zu verstehen. Anlässlich der Ignoranz von „Frauenfragen“ sowie des Sexismus in den sozialen Bewegungen der Zeit, insbesondere der Studierendenbewegung, entstanden in den 1960er- und 1970er-Jahren Consciousness-Raising-Gruppen (in den USA vor allem im Kontext des radikalen Women’s Liberation Movement). Dabei wurden Räume geschaffen, in denen Frauen zusammenkamen und ihre Erfahrungen teilten, um das Politische im vermeintlich rein Individuellen, Persönlichen, Privaten zu erkennen. Es ging um das Herausarbeiten kollektiver Betroffenheiten von Macht- und Herrschaftsverhältnissen mit dem Ziel, diese zu begreifen und zu verändern. Sowohl politische Praxis als auch politische Theorie als Selbstzweck wurden abgelehnt, wie Carol Hanisch (2006) in ihrem bekannten Text „The personal is political“ schreibt.

In ihrem Fokus auf die vernachlässigten Erfahrungen von Frauen, ihrer Herausforderung überkommener epistemischer Autoritäten sowie der Verortung feministischer Wissensproduktion in aktivistischen Zusammenhängen waren Selbsterfahrung und Consciousness Raising wichtig für die Entwicklung feministischer Forschung. So formuliert Maria Mies in ihren „Methodischen Postulaten der Frauenforschung“, dass die „Entwicklung einer feministischen Gesellschaftstheorie nicht in den Forschungsinstituten entstehen kann, sondern in der Teilnahme an den Aktionen und Kämpfen der Bewegung, in der theoretischen Auseinandersetzung über Ziele und Strategien und der dauernden Diskussion mit den ehemaligen Forschungsobjekten“ (Mies 2017: 70, Hervorh. im Original); für Catherine MacKinnon (1989) war Consciousness Raising die Methode feministischer Forschung und Sara Ahmed schreibt mehrere Jahrzehnte später in Bezug auf ihre philosophisch-aktivistische Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen und Gefühlen: „The personal is theoretical“ (Ahmed 2017: 10).

Neben der individualistischen Vereinnahmung und zunehmenden Entpolitisierung und Professionalisierung von Selbsterfahrung sowie der durchaus ambivalenten Akademisierung eines Teils feministischer Wissensproduktion ist allerdings auch grundlegendere Skepsis gegenüber der mitunter anzutreffenden Absolutheit und Verallgemeinerung „der Erfahrungen von Frauen“ angebracht. Kritik daran wurde schon sehr bald in innerfeministischen Auseinandersetzungen laut, denn die Erfahrungen von Frauen sind verwoben in rassistische, kapitalistische und ableistische Machtverhältnisse, in denen Frauen unterschiedlich positioniert sind. Eine weitere mögliche Schwierigkeit liegt in der Tendenz, den Erfahrungen von Frauen epistemische Autorität zu garantieren, wie es in Teilen des Consciousness Raising der Fall war (z. B. MacKinnon 1989: 105; vgl. kritisch Wylie 1994). Wenn Frauen zudem auf ihren Opferstatus festgelegt werden, versperrt dies die Einsicht, dass Frauen selbst an ihrer Unterdrückung beteiligt sind, indem sie die Logik der Macht zu ihrer gemacht haben und davon mitunter auch profitieren, dies aber auch kollektiv ändern können (vgl. kritisch z. B. Haug 2003 und ihre Methode der feministischen Erinnerungsarbeit sowie hooks 2000 in Bezug auf intersektionale Machtverhältnisse). Genau dies war der Punkt von Consciousness Raising, nämlich die Beziehung zwischen Erfahrung, Machtverhältnissen und Widerstand darzustellen, wie Teresa de Lauretis (2007: 190) betont, und zwar im Zusammenhang kollektiver feministischer Kämpfe.

Aber nicht nur die Auseinandersetzung mit Erfahrung ist feministisch umstritten. Seit einigen Jahren entspinnt sich auch eine Debatte um „negative“ und „affirmative“ Kritik, die über feministische Forschung hinausweist, aber von dieser wichtige Impulse erhalten hat. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Eve Sedgewicks Unterscheidung von „paranoiden und reparativen kritischen Praktiken“ (Sedgewick 1997: 8, Hervorh. im Original [Übers. I. M.]) sowie Karen Barads (2007) Konzept der „diffraction“, das im New Materialism eine wichtige Rolle spielt und Differenz, Dialog und Verantwortung betont. Während die paranoide Kritik von Verdacht und negativen Gefühlen gekennzeichnet sei, sich auf die Suche nach verborgenen Wahrheiten mache und dabei immer wieder dasselbe finde (Sedgewick 1997: 9), stehe die reparative Kritik für Offenheit, für Überraschungen und Hoffnung, die eine andere Zukunft denkbar machen (Sedgewick 1997: 24). Sowohl Sedgewick als auch Barad kritisieren zudem die vermeintlich distanzierte, vom Alltag der Subjekte losgelöste Haltung von Kritik (Bargetz/Sanos 2020: 505), und es lässt sich in den affirmativen Ansätzen des New Materialism eine „Sehnsucht nach Handlungsfähigkeit“ (Bargetz 2019 [Übers. I. M.]) erkennen. Während ich den Einsatzpunkt der „reparativen“, „affirmativen“ Kritik nachvollziehen kann – z. B. beim Lesen eines literarischen Werks nicht sofort nach Machtverhältnissen und Komplizenschaft zu suchen, sondern bei der Wahrnehmung und den Gefühlen der Subjekte anzusetzen (Felski 2009), sowie politisch nicht nur gegen, sondern auch für etwas zu kämpfen (Bunz 2012) –, denke ich, dass diese mitunter „karikaturistische“ Kritik (Barnwell 2015: 12) an Kritik der Vielstimmigkeit, Ungleichzeitigkeit und den Spannungen feministischer Kritik nicht gerecht wird. In diesem Sinne stellen auch Sverre Raffnsøe, Dorthe Staunæs und Mads Bank in ihrem differenzierten und mehrstimmigen Text über „Affirmative Critique“ fest, dass „negative“ und „affirmative“ Kritik zwar unterschiedlich operieren, aber keine inkompatiblen Gegensätze darstellen (Raffnsøe/Staunæs/Bank 2022: 197).

In meinem Beitrag verstehe ich die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen auch als kritische Praxis in Marxʼ Verständnis von Kritik „als Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ (Marx 1976: 346). Gerade in Zeiten, die ausweglos erscheinen, ist eine solche Selbstverständigung zentral und schwierig zugleich. In diesem Zusammenhang schlug Kornelia Hauser bereits vor über zehn Jahren vor, sich im Sinne der Kritik wieder stärker den konkreten Erfahrungen zuzuwenden, wie sie auch in biografischen Texten über Frauen zu finden sind: „Sammelt die vielen klugen konkreten Negationen zu den gesellschaftlichen Bedingungen ein. Sie sind kompetent formuliert, zusammen ergäben sie ein Netz von Widerspruch und Veränderungswillen“ (Hauser 2013: 747). In alltäglichen Erfahrungen steckt also kritisch-feministisches Wissen, das es zu explizieren gilt, was ich im Folgenden versuchen werde.

* * *

Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in Heft 3-2024 unserer Zeitschrift GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft erschienen.

 

 

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Unsplash 2024, Foto: Kelly Sikkema