Stand und Zukunft des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP)

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 1-2023: Europäische Stabilitätspolitik (am Ende?): Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)

Europäische Stabilitätspolitik (am Ende?): Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)

Roland Sturm

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 2-2023, S. 163-167.

 

Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird der gegenwärtige Stand sowie die Zukunft des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) der EU diskutiert. Ausgehend von der Historie des SWP, den Gründen seiner Entwicklung und erfolgter Reformversuche widmet sich der Autor der Frage, ob der SWP in der Bedeutungslosigkeit versinke und wie seine Zukunft politisch gestaltet werden könne.

Schlagwörter: EU, Finanzpolitik, Währungsunion, europäischer Binnenmarkt

 

1. Warum gibt es den SWP?1

Die Einführung des Euro 1999 (als allgemeines Zahlungsmittel 2002) wurde in den Ländern mit starker Währung (in Deutschland die DM) kontrovers diskutiert1. Für Deutschland bedeutete die Einführung des Euro einen finanziellen Verlust. Kredite mussten nun mit höheren Zinsen bedient werden. Für Bundeskanzler Helmut Kohl war das politische Ziel der Vertiefung der europäischen Integration, gestützt auch auf die Präferenzen Frankreichs, vorrangig. Der Verlust an Stärke der gemeinsamen Währung sollte dadurch möglichst geringgehalten werden, dass der Euro das Stabilitätsniveau der DM erreichen würde (also mit entsprechend niedrigen Zinsen für Kredite). Symbolisch wurde dieser Wunsch umgesetzt durch die der Wahl des Bundesbankstandortes Frankfurt am Main als Standort der Europäischen Zentralbank (EZB). Ökonomisch leisteten vier Bestimmungen des Vertrags von Maastricht 1992 „Hilfestellung“, von denen allerdings nur zwei sich auf nachprüfbare Zahlenwerte beziehen. In einem Protokoll (heute: Lissabon Vertrag, Protokoll Nr.12, Artikel 1) nennt der Maastrichter Vertrag konkrete Referenzwerte, die anzustreben seien: „3 Prozent für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen Defizit und dem Bruttoinlandprodukt zu Marktpreisen und 60 Prozent für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandprodukt zu Marktpreisen.“ Den Euro sollten nur jene Länder einführen, die durch die Beachtung dieser Grenzwerte „übermäßige“ Defizite vermeiden.

Bei der Einführung des Euro sah man in einer Reihe von EU-Staaten aus politischen Gründen allerdings großzügig vor allem über das 60 Prozent-Ziel hinweg. Die erforderliche Konvergenz der Wirtschaftsentwicklung war 1999 nur unzureichend erreicht. Von Beginn an wurden die Maßstäbe für noch akzeptable Defizite kritisiert. Die Werte von jährlich drei Prozent des BIP beim Jahreshaushalt und sechzig Prozent des BIP beim Schuldenstand seien zu beliebig: eine Defizitbegrenzung würde zu einer wachstumsfeindlichen Ausgabenbegrenzung führen, und Haushaltspolitik sei doch weiter eine nationale Angelegenheit, trotz gemeinsamer Währung – ein Paradox, wie sich in den Folgejahren zeigen sollte. Die Überlegung der Befürworter der Maastricht-Kriterien war, dass, wenn Eurostaaten durch die Defizitbegrenzung nicht mehr der bequeme Weg der Staatsverschuldung zur Verfügung stünde, um staatliche Aufgaben oder auch nur Wahlgeschenke zu finanzieren, dann würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als ihre Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben und das Niveau ihrer Wirtschaftserfolge zu verbessern.

Eine solche Argumentation zur Verteidigung der Maastricht-Kriterien warf aber mindestens zwei Fragen auf: 1. Waren die Defizitkriterien ernst gemeint? Nicht nur für die Deutschen, die ihre stabile Währung aufgeben mussten und deren Wahrnehmung der Geldwertstabilität von historischen Währungskrisen (1923, 1948) geprägt war, war das eine wichtige Frage. Der französische Kommissionspräsident Jacques Delors prägte das geflügelte Wort: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle an die Deutsche Bundesbank.“2. Wer garantiert die Einhaltung der Defizitkriterien, wenn die Kompetenz zu deren Durchsetzung nicht europäisch wird, wenn also haushaltspolitische Angelegenheiten weiterhin in die Kompetenz nationaler Regierungen fallen?

Die einzig mögliche Antwort auf das Problem, dass beispielsweise drei Prozent jährliche Nettoneuverschuldung auch drei Prozent meint, wie der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel betonte, war ein Rückgriff auf Mechanismen der klassischen zwischenstaatlichen Vertragspolitik. Der Europäischen Kommission blieb bei der Implementation von Stabilitätspolitik bloß die Rolle der Hilfestellung. Der Europäische Rat verabschiedete 1996 einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, der das Ziel verfolgte, die Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung in den Euro Ländern zur Daueraufgabe zu machen.

2. Reformversuche

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt startete bereits als Kompromiss. Er konnte nicht Stabilitätspakt heißen, weil seine Gegner die Tür zur Staatsverschuldung offenhalten wollten, mit dem Argument, zugunsten von Ausgabenpolitik zur Wachstumsförderung seien strikte Defizitgrenzen zu vermeiden. Über die Ausnahme von Naturkatastrophen hinaus wurde eine Öffnungsformel geprägt, die besagt, dass sich die Eurostaaten auch bei außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle eines Mitgliedstaates entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die Finanzlage eines Eurolandes haben, nicht mehr an die Maastricht-Kriterien halten müssen. Ein Automatismus von Strafzahlungen beim Ignorieren der Defizitgrenzen wurde abgelehnt. Der Beschluss über Sanktionen wurde aus dem europäischen Kontext ausgelagert und dem Europäischen Rat übertragen, also an die zwischenstaatliche Willensbildung gebunden. Bis heute liegt kein einziger Sanktionsbeschluss vor. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erwies sich in der Praxis als zahnlos.

Die bisherigen Reformversuche haben vor allem versucht, unterhalb der Schwelle von Konflikt und durch Überzeugungsarbeit der Europäischen Kommission, moralischen Druck aufzubauen. Die Kommission formuliert jährlich Empfehlungen zu nationalen Haushalten. Hinzu kamen Formelkompromisse, wie eine Ausweitung der Politikfelder, die nicht vom Stabilitäts- und Wachstumspakt erfasst werden, was die Einhaltung des SWP erleichtern sollte. All dies, um die Idee der Defizitkontrolle und damit die Stabilität des Euro zu retten. Herausgefordert wurden europäische Strategien aber immer wieder durch nationale Haushaltspolitiken, die die Defizitgrenzen des SWP ignorierten. Zwischen 2002 und 2019 lag deren Einhaltungsquote im Durchschnitt aller Euroländer nur bei ca. 60 Prozent.3 Die Deutsche Bundesbank urteilt: „Die europäischen Fiskalregeln haben sich unbefriedigend entwickelt. Ihre Anwendung ist kaum noch nachvollziehbar. Gerade sehr hohe Schuldenquoten sanken auch in den günstigen Zeiten der letzten Jahre vielfach kaum. Die Haushaltsüberwachung wirkte offenbar nicht auf weitere Konsolidierungsschritte hin, und sogar strukturelle Lockerungen blieben ungeahndet. Es besteht Reformbedarf.“4

Der SWP wurde schon in der Vergangenheit mehrfach reformiert. 2005 war der Anlass der Reform, dass wichtige Euroländer, wie Deutschland (von 2002 bis 2006) und Frankreich das drei-Prozent-Ziel der jährlichen Neuverschuldung nicht einhielten. Unter dem Vorwand, den SWP „einfacher und transparenter zu machen“, wurden die Ausnahmen, die ein Überschreiten der Defizitgrenzen erlauben, massiv erweitert. So zählten nun zum Beispiel jegliches Schrumpfen der Wirtschaft, unterdurchschnittliche Wachstumsraten, die Verwirklichung der Reformen des Lissabon-Vertrags, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die Qualität der öffentlichen Finanzen, Ausgaben für internationale Solidarität („Entwicklungshilfe“), Ausgaben für Verteidigung und europäische Integrationsziele oder die Kosten für Rentenreformen zu den Ausnahmetatbeständen.

2010 schlug als Reaktion auf die Finanzkrise von 2007/8 das Pendel in die Gegenrichtung aus. Der SWP sollte nun gehärtet werden. Finanzkrisen, die sich aus der mangelnden Solidität nationaler Haushaltspolitiken entwickeln können, sollten vermieden werden. Sanktionen bei Nichtbeachtung des SWP wurden aber 2010 umgehend bei einem deutsch-französischen Spitzentreffen in Deauville von Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgeschlossen. Die Eurofinanzminister, die gleichzeitig an Vorschlägen zur Überarbeitung des SWP arbeiteten, mussten die eigenmächtigen deutsch-französischen Vorgaben nachträglich akzeptieren.

1 Zum Folgenden vgl. Roland Sturm/ Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem, 3. Auflage, Wiesbaden 2012, S. 215ff.
2 Wilhelm Hankel/ Wilhelm Nölling/ Karl-Albrecht Schachtschneider/Joachim Starbatty: Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, Reinbek 1998.
3 Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2022/23: Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten, Wiesbaden 2022, S. 182.
4 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, April 2019, S. 79-93, hier S. 89.

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