Ethnografie als Forschungsprogramm in der Gesundheitsforschung

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 2-2022: Mittendrin statt nur dabei: Die ethnografische Erforschung von Gesundheit und Krankheit

Mittendrin statt nur dabei: Die ethnografische Erforschung von Gesundheit und Krankheit

Malin Houben, Ann Kristin Augst

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung, Heft 2-2022, S. 148-161.

 

Zusammenfassung: Der Artikel diskutiert die Potenziale und Herausforderungen von Ethnografie in Bezug auf den Forschungsgegenstand Gesundheit/Krankheit und verortet diese im Feld der multidisziplinären Gesundheitsforschung. Feldforschung und teilnehmende Beobachtung sind bewährte wie traditionsreiche Forschungsmethoden und Erkenntnisinstrumente zur Untersuchung von Krankheit und Gesundheit, scheinen bislang in der deutschsprachigen Gesundheitsforschung als Methode jedoch wenig etabliert bzw. institutionalisiert. Anhand von klassischer und neuerer ethnografischer Literatur werden vier zentrale Forschungsthemen mit einem Schwerpunkt auf die Verschränkungen von Körper- und Sozialität vorgestellt. Herausforderungen betreffen forschungspraktische und forschungsethische Fragen ebenso wie disziplinspezifische Akzeptanz- und Rezeptionsbarrieren in Wissenschaft und Praxis.

Schlagwörter: Ethnografie, Feldforschung, Gesundheitsforschung, Medizinsoziologie, Körper

 

From the sidelines to the center: ethnographic research on health and illness

Abstract: This article discusses the potentials and challenges of ethnography concerning the research subject of health and illness and locates this approach in the field of multidisciplinary health research. Fieldwork and participatory observation are reliable methods for the inquiry of various phenomena concerning health issues. Despite its rich tradition, ethnography has not been fully established and institutionalized in current German health research. We present four significant themes which focus on conjunctions of the body and the social, based on classic and recent ethnographic literature. The challenges of ethnographic health research are concerned with practical issues and research ethics, as well as barriers towards reception and acceptance within scientific disciplines and practitioners.

Keywords: Ethnography, fieldwork, health research, medical sociology, body

 

1 Einleitung

Feldforschung und teilnehmende Beobachtung haben sich als Forschungsmethoden zur Untersuchung von Krankheit und Gesundheit bewährt. Ethnografisch angelegte Forschungsprojekte haben insbesondere dazu beigetragen, gegenstandsnahe Konzepte und Theorien an den Schnittstellen von Körper und Sozialität zu entwickeln. Obwohl sie sich besonders für die Erforschung von Lebenswelten und implizitem Wissen, professionellem Handeln und der Partizipation von Patient*innen (Ohlbrecht 2019, S. 99) eignen, sind Beobachtungsverfahren in der deutschsprachigen Gesundheitsforschung derzeit wenig präsent.

Deshalb diskutieren wir in diesem Artikel die Potenziale und Herausforderungen, denen eine ethnografische Forschungspraxis in Bezug auf spezifische Forschungsgegenstände – Phänomene und Prozesse, die Aspekte von Gesundheit und Krankheit tangieren – sowie auf eine Verortung innerhalb des Feldes der qualitativen Gesundheitsforschung begegnet. Als qualitative Gesundheitsforschung fassen wir dabei pragmatisch Forschungshandeln aus und in Disziplinen wie den Gesundheitswissenschaften und Public Health, Pflegewissenschaften und Nursing Studies, Versorgungsforschung, Psychologie und Medizin sowie Soziologie, das sich empirisch-methodisch mit Aspekten von Gesundheit und Krankheit menschlicher Akteur*innen befasst. Eine Besonderheit der Gesundheitsforschung ist ihr Praxisbezug und ihr Changieren zwischen Individuen, Bevölkerungsgruppen und Institutionen: „Als angewandte Forschung ist sie thematisch auf alle gesundheitsrelevanten Phänomene ausgerichtet, die in der Alltagswelt von Patient*innen, im professionellen Handeln von Gesundheitsprofessionellen oder in der Praxis von Gesundheitsorganisationen wie Krankenhäusern, Arztpraxen usw. eine Rolle spielen“ (Meyer et al. 2020, S. 273). Mittels heterogener und interdisziplinärer Forschungsansätze können u.a. Interaktionsordnungen zwischen Ärzt*innen, Patient*innen und Umwelt, subjektive Lai*innentheorien von Gesundheit und Krankheit, Erleben und Erfahren von (chronischer) Krankheit, die professionellen Herausforderungen in der Versorgungspraxis sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (Ohlbrecht et al. 2020) in den Blick genommen werden.

Die anglo-amerikanischen Pflege- und Gesundheitswissenschaften verfügen über eine lange Tradition ethnografischer Forschung, die sich auch in der Publikation einschlägiger Methodenlehrbücher (exemplarisch: Chesnay 2014; Hackett/Hayre 2021) ausdrückt.1 Zwar stellen ethnografisch gewonnene Erkenntnisse, Konzepte und Theorien auch für die deutschsprachige Gesundheitsforschung zentrale Bezugspunkte dar (siehe Abschnitt 3), Ethnografie als Methode findet dort jedoch eher randständig Beachtung: Bis auf wenige Ausnahmen (Schaeffer/Müller-Mundt 2002) überwiegen in den Methodenbeschreibungen aktueller gesundheitswissenschaftlicher Lehr- und Handbücher (Siegrist 2005; Dockweiler/Fischer 2018; Hartung/Wihofszky/Wright 2020; Ohlbrecht 2020; Razum/Kolip 2020) nach wie vor rein quantitative sowie sprachzentriert-qualitative Forschungsdesigns. Weder die Hinwendung zur Perspektive und Lebenswelt von Patient*innen, Interaktionen mit Gesundheitsdienstleister*innen noch zu implizitem Wissen der Akteur*innen (vgl. Ohlbrecht 2019) hat bislang dazu geführt, Ethnografie als Forschungsprogramm in der deutschsprachigen Gesundheitsforschung zu etablieren.

Mit diesem Artikel wollen wir einer „Renaissance“ ethnografischer Verfahren in der Gesundheitsforschung (ebd., S. 96) Vorschub leisten.2 Zu diesem Zweck werden wir aus einer (medizin- und gesundheits-)soziologischen Perspektive die methodologischen Prämissen von Ethnografie als Forschungsprogramm skizzieren (Abschnitt 2) und anhand klassischer und neuerer Literatur die empirisch-theoretischen Stärken ethnografischen Forschens illustrieren (Abschnitt 3). Dabei nehmen wir die Vielfalt ethnografischer Forschungsthemen in den Blick und schauen insbesondere auf Verschränkungen von Körperlichkeit und Sozialität. Abschließend diskutieren wir die Herausforderungen ethnografischen Forschungshandelns anhand methodischer, praktischer und forschungsethischer Aspekte sowie disziplinärer Akzeptanz- und Rezeptionsbarrieren (Abschnitt 4).

2 Ethnografie als Forschungsstrategie

Die Ethnografie ist eine pragmatische, methodenplurale und kontextbezogene sowie streng empirische Forschungsstrategie (Breidenstein et al. 2013, S. 39), deren ‚Markenkern‘ aus Feldforschung und teilnehmender Beobachtung besteht. Ihre disziplinären Ursprünge liegen in der Anthropologie und der ethnologischen Analyse ‚fremder‘ Kulturen sowie der urbanen Soziologie der Chicago School. Unter dem Einfluss von Alltagssoziologie und Ethnomethodologie untersuchen neuere Ethnografien aus unterschiedlichen Fachdisziplinen auch hierzulande alltägliche Phänomene und Praktiken, Szenen und Lebenswelten sowie Organisationen und Institutionen.3 Als „Befremdung der eigenen Kultur“ (Amann/Hirschauer 1997) eignet sich zeitgenössisches ethnografisches Forschen in besonderer Weise, scheinbar gewöhnliche Alltagspraktiken, implizites Wissen und stumme Akteur*innen sozialer Handlungen zum Sprechen zu bringen. Das Tun der Ethnograf*innen zeichnet sich dabei durch ein permanentes Grenzgänger*innentum (Pfadenhauer 2017) zwischen sozialweltlicher Teilnahme und wissenschaftlicher Beobachtung, zwischen Datenerhebung im Feld und Dateninterpretation am Schreibtisch aus.

Die ethnografische Erkundung sozialer Phänomene erfolgt nicht in eigens dafür hergestellten, strukturieren oder quasi-experimentellen Settings, sondern in situ (Hammersley/Atkinson 2007, S. 4) und folgt damit der Grundidee, „Menschen in ihren situativen oder institutionellen Kontexten beim Vollzug ihrer Praktiken zu beobachten“ (Breidenstein et al. 2013, S. 7). Als „mimetische Form der Sozialforschung“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 20) setzt sie sich den Methodenzwängen des Gegenstandes aus und löst damit die qualitativ-methodologischen Postulate der Offenheit und der Gegenstandsangemessenheit ein. Ziel dieser Beobachtung ist weder eine positivistisch-standardisierte Darstellung noch eine naturalistische Abbildung. Vielmehr wird die ethnografische Nähe zum Ausgangspunkt eines reflexiven Wissenschaftsverständnisses, in dem subjektive Erfahrungen, die Sozialität, Biografie und Forschungsinteressen der Forschenden nicht als Störgröße gelten, sondern selbst zum Objekt der Wissensproduktion über das Feld gemacht werden (Hammersley/Atkinson 2007, S. 14–19). Der ethnografische Erkenntnisstil folgt einer Logik des Entdeckens (Amann/Hirschauer 1997, S. 8), ist offen für Überraschungen und entzieht sich in der Regel einer linearen Planbarkeit, weil er die Gesetzmäßigkeiten des Feldes in den Mittelpunkt des Forschens stellt. Hierzu identifizieren Ethnograf*innen relevante Orte, Situationen oder Gemeinschaften und suchen diese auf, um sie zu beobachten, an ihren Aktivitäten zu partizipieren und eine längerfristige Forschungsbeziehung einzugehen.4 Ausgangspunkt hierfür ist Herstellung eines Feldzuganges, der insbesondere den Aufbau von Beziehungen (Wax 1979) und die sukzessive Etablierung einer Teilnehmer*innenrolle beinhaltet. Ethnograf*in und die Teilnehmenden des Feldes beobachten sich dabei wechselseitig. Wie sich Ethnograf*innen ihren Feldern nähern, sich darin bewegen und beobachten können, an welchen Aktivitäten sie teilnehmen und von welchen sie ausgeschlossen werden, hängt deswegen auch damit zusammen, welchen (eigenen) Reim sich die Protagonist*innen eines Feldes auf sie machen, also ob ihre Anwesenheit durch die Zuschreibung bekannter Sozialtypen wie Missionar*innen oder Spion*innen (Lindner 1981, S. 58), Journalist*innen oder Praktikant*innen normalisiert oder assimiliert wird.

Für die Etablierung einer Beobachtungposition spielen auch Fremdheit und Vertrautheit der Ethnograf*in mit dem Feldgeschehen eine Rolle: Als „Fremde“ (Schütz 1972) müssen sich Ethnograf*innen mit den Gepflogenheiten und Wissensbeständen ihnen unbekannter oder unverständlicher Vorgänge erst vertraut machen und sich diese aneignen, als bereits involvierte Insider*innen (etwa: eine Pflegekraft, die die Krankenversorgung in ihrer Einrichtung untersucht) hingegen das scheinbar Vertraute befremden. Ihre Teilnehmer*innenrolle im Feld bewegt sich auch deswegen zwischen den idealtypischen Polen des reinen Beobachtens und der vollständigen Teilnahme (Hammersley/Atkinson 2007, S. 177f.). Beide Extreme können den Erkenntnisprozess in unterschiedlicher Weise behindern (Scheffer 2002, S. 355): Wer als Teilnehmer*in im Feld aufgeht, büßt Lernfähigkeit und analytische Perspektive zugunsten feldimmanenter Dringlichkeiten ein; den distanzierten Beobachter*innen hingegen bleibt die Eigenlogik des Feldes bis zuletzt unzugänglich. Entsprechend kann und soll die Teilnehmer*innenrolle im Forschungsverlauf reflektiert und angepasst werden.

Das Beobachten als sozialwissenschaftliche Methode ist ein sinnlich-körperliches Unterfangen und umfasst „alle Formen der Wahrnehmung unter Bedingungen der Co-Präsenz […] also alle Sinneswahrnehmungen, die sich per Teilnahme erschließen“ (ebd., S. 353). Weitere Methoden der Datenerhebung zentrieren sich um die Beobachtung des sozialen Geschehens, indem sie diese ergänzen und kontrastieren: „ethnography usually involves the researcher participating, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, and/or asking questions through informal and formal interviews, collecting documents and artefacts – in fact, gathering whatever data are available to throw light on the issues that are the emerging focus of inquiry“ (Hammersley/Atkinson 2007, S. 3).

1 Jan Savage (2000) merkt jedoch kritisch an, die anglo-amerikanische Methodendebatte innerhalb der evidenzbasierten Gesundheitsforschung habe zwar den Dualismus zwischen qualitativen und quantitativen Methoden angegangen, Ethnografie sei dabei jedoch wenig berücksichtigt worden.
2 Medizinische und pflegerische Felder sind hingegen häufig Gegenstand sozialwissenschaftlicher Ethnografien, siehe etwa die Beiträge im Abschnitt „Medizinische Betreuung und Krankheit“ im Sammelband „Ethnographie der Situation“ (Poferl et al. 2020).
3 Zur Heterogenität ethnografischer Ansätze siehe auch das ZQF-Sonderheft „Varianten von Ethnographie und ihre Erkenntnispotentiale“, insbesondere den Beitrag der beiden Herausgeber Jürgen Budde und Michael Meier (2015).
4 Ähnlich wie in partizipativen Forschungsansätzen (Unger 2014) sind Ethnograf*innen in hohem Maße an den Perspektiven und Expertisen ihrer Gegenüber interessiert und auf diese angewiesen. Dies erreichen sie jedoch nicht durch die Etablierung von Positionen und Strukturen für Co-Forschende, sondern durch die Dauerhaftigkeit der Feldforschung, den Rapport zu dessen Protagonist*innen sowie die analytisch-reflexive Distanzierung von der Felderfahrung zurück am Schreibtisch.

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