Wie lässt sich dem Abgleiten junger Menschen in den Rechtsextremismus vorbeugen? Wir haben ein Interview mit den Mitherausgeber*innen Judith Meixner und Peer Wiechmann über ihr neues Buch Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern. Aufsuchende Distanzierungsarbeit gegen Radikalisierung bei jungen Menschen. Ein Leitfaden geführt.
Interview zum Thema Distanzierungsarbeit
Liebe Judith Meixner, lieber Peer Wiechmann, worum geht es in Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern?
Unser Buch ist als Standardwerk der sogenannten Distanzierungsarbeit als eigenes Handlungsfeld zu begreifen. Dieses neue pädagogische Handlungsfeld hat zum Ziel, (junge) Menschen, die sich menschenverachtend äußern und demokratischen Werten skeptisch gegenüberstehen, für humanistische und demokratische Werte zu gewinnen. Distanzierungsarbeit will mit jungen Menschen ins Gespräch (zurück)kommen oder Gespräche trotz einer gewissen Radikalisierung aufrechterhalten. Diese Menschen könnten von extrem rechten Akteur*innen oder Denkmustern leicht abgeholt werden, was eben auch tagtäglich in Deutschland passiert. In der Konsequenz geht es darum, extrem rechten Akteur*innen den Nachwuchs zu entziehen und Einstiege in den Rechtsextremismus zu verhindern. Klar ist: Auch bei diskriminierenden Aussagen ohne Szenebezug besteht natürlich bereits ein Problem, und es braucht dazu keine klare Szeneverortung.
Das Buch gibt letztlich Orientierung darin, wie konstruktiv mit menschenverachtenden oder demokratie-skeptischen Aussagen umgegangen werden kann. Hierfür ist es elementar, auch die eigenen Haltungen zu reflektieren und für die Konstruktion und Abwertung von Gruppen sensibilisiert zu sein. Auf Basis des Wahrgenommenen, des Settings und der eigenen Ressourcen und Rolle(n) können dann ganz unterschiedliche Interventionen unternommen werden. Das Buch ermächtigt allerdings nicht allein, zufriedenstellender zu reagieren, sondern führt auch ganz strategische Vorüberlegungen an, die in formaler wie non-formaler Bildung als auch in der Kinder- und Jugendarbeit Interventionen für einen menschenrechtsorientierten Raum vorbereiten können – nicht allein, um Menschen vor einer weiteren Radikalisierung abzuhalten, sondern auch im Sinne des Schutzes vor Diskriminierung und mit dem Ziel, (weitere) Betroffene von Gewalt in jeglicher Form zu verhindern.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zum Thema Distanzierungsarbeit zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
In unserer beratenden und fortbildenden Tätigkeit als „Zentrum für Distanzierungsarbeit“ stoßen wir immer wieder auf Menschen, die in ihrer pädagogischen Arbeit mit sehr herausfordernden Situationen umgehen müssen. Gerade in ländlichen Regionen, in denen menschenfeindliche Akteur*innen und Parteien vieler Orts Überhand gewonnen haben, werden humanistische und demokratische Prinzipien in Frage gestellt, Räume gezielt unterwandert und Personen, die Widerspruch leisten, bedroht oder eingeschüchtert. Das hat Überforderung und Unsicherheit zur Folge – und das ist besonders fatal, weil dies auch noch in Arbeitsfeldern vorkommt, die mit Fachkräftemangel oder schlechten Rahmenbedingungen zu kämpfen haben.
Das Buch ist deshalb niedrigschwellig konzipiert und soll auch Fachkräften mit wenig zeitlichen Ressourcen ganz konkrete und anlassbezogene Unterstützung geben: Was mache ich, wenn das N-Wort gesagt wird? Wie gehe ich mit einem Hitlergruß in der Schule um? Wie gehe ich mit extrem rechter Unterwanderung auf Veranstaltungen um? Zu diesen Themen haben vor allem mobile Beratungsinstitutionen für zivilgesellschaftliche Akteur*innen eine großartige Vorarbeit geleistet. Das Buch fokussiert nun die pädagogischen Herausforderungen in formaler wie non-formaler Bildung und leistet den Transfer auf die Distanzierungsarbeit. Es soll dazu ermächtigen, zu entscheiden, ob ein konstruktives Gespräch noch möglich ist – und dieses dann auch selbstbewusst und reflektiert zu führen.
Distanz e.V. hat außerdem seit Jahren eine hohe Nachfrage. Wir beraten und qualifizieren durchschnittlich pro Jahr etwa 300 Personen in Techniken der Distanzierungsarbeit. Um diese Inhalte noch mehr in die Breite zu bringen, haben wir dieses Buch geschrieben. Der Leitfaden fungiert also durchaus auch als Entlastungs- und Verweisstruktur für einen unglaublich großen Bedarf, der auf uns als Träger bundesweit einprasselt.
Für wen ist Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern gedacht?
Das Buch richtet sich vor allem an pädagogische Fachkräfte und solche, die es werden wollen. Breiter gedacht, richtet es sich aber auch an alle, die mit jungen Menschen ins Gespräch über die eigenen Werte kommen wollen und dabei verhindern möchten, dass sich menschenfeindliche Standpunkte weiter verfestigen.
Wir nehmen wahr, dass Interventionstechniken bei (drohender) Radikalisierung und bei konstanten menschenverachtenden Aussagen auch bei der Ausbildung von Pädagog*innen und Lehrkräften zu wenig verankert sind. Das Buch kann daher auch diesen Menschen in Ausbildung (oder danach) Orientierung geben. Im besten Fall inspiriert es auch die Weiterentwicklung von Curricula.
In unserer Arbeit bei Distanz e.V. sind wir zu den Herausforderungen der Distanzierungsarbeit stark nachgefragt. Wir hoffen, dass im Buch verständlich wird, dass die Distanzierungsarbeit eine pädagogische Querschnittsaufgabe ist und nicht allein eine Aufgabe von spezialisierten Trägern wie Distanz e.V. – Das Buch will also auch Pädagog*innen als Akteur*innen der Distanzierungsarbeit gewinnen und ermächtigen und so unsere Erfahrungen multiplizieren.
Wir freuen uns auch sehr über kritische Rückmeldungen aus der Praxis wie auch aus der Perspektive von Forschenden.
Ihr Buch liefert auch einen Methodenkoffer zur Vermittlung praktischer Kompetenzen in der Distanzierungsarbeit. Würden Sie uns eines der „Werkzeuge“ exemplarisch vorstellen?
Die Methode „Der Entschwörungsgenerator“ richtet sich zum Beispiel an junge Menschen, die schon mal eine Affinität zu Verschwörungstheorien gezeigt haben und eher extrovertiert und gesprächig sind. Dazu nutzen wir ein Online-Tool, den Entschwörungsgenerator (von der Amadeu Antonio Stiftung), um sich eine eigene, verrückte Geschichte auszudenken. Die Adressat*innen sollen Spaß am Geschichtenerfinden haben und dabei merken, wie Verschwörungserzählungen aufgebaut sind. Außerdem sollen sie lernen, skeptischer gegenüber einfachen und manipulativen Erklärungen zu werden. Die Teilnehmer*innen stellen ihre Geschichten vor und wir reflektieren gemeinsam, was das mit ihnen macht und warum solche Geschichten gefährlich sein können. Am Ende wird darüber gesprochen, warum Verschwörungserzählungen so problematisch sind und wie man sie erkennen kann.
Darum sind wir Autor*innen bei Budrich
Für Peer ist es ja schon die zweite Publikation im Rahmen des Verlags Barbara Budrich. Als Autor und Mitherausgeber des Bandes Verantwortlich Handeln: Praxis der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen haben wir bereits sehr gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Verlag gemacht. Für die Publikationen hatte der Verlag auch damals schon als erstes immer das Interesse und das Verständnis der Leser*innen im Blick und die gemeinsame Arbeit verlief immer auf Augenhöhe. Insofern war es mehr als logisch, unsere Idee des Buches zuallererst Budrich anzubieten.
Es war gleich nach den ersten Gesprächen zur aktuellen Veröffentlichung klar, dass der Verlag Barbara Budrich sofort erkannt hat, welchen enormen Stellenwert eine solche Arbeitshilfe für die Praktiker*innen bei den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen hat. Diese Veröffentlichung kommt ja von einem Verein aus Thüringen, einem Bundesland, das auch nach dem NSU aus Jena immer noch eine omnipräsente Neonazi-Szene aufweist und zudem eine AfD-Fraktion im Parlament hat, die mit dem Rechtsextremisten Höcke an der Spitze durch den Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Aus der langjährigen Arbeit mit diesem Erfahrungsspektrum in einem Flächenland wie Thüringen werden demnach auch starke Innovationen für den Bereich der Prävention und Intervention erfunden und geprägt, die noch zu wenig bundesweit ausstrahlen und Schule machen können. Das zeigt sich leider auch, wenn Präventionsprogramme die ländlichen Perspektiven nicht ausreichend berücksichtigen. Auch nehmen wir wahr, dass in den sogenannten „alten Bundesländern“ oftmals noch zu wenig Sensibilität für die sich immer mehr zuspitzende politische Situation, wie hier in Thüringen oder in Sachsen, vorherrscht. Der Verlag Barbara Budrich aus dem „sogenannten alten Bundesland“ NRW bzw. aus Leverkusen ist hier für uns eine sehr positive Ausnahme in der Wahrnehmung dieser Herausforderungen.
Mit diesem Buch versuchen wir also auch, eine Lücke in den Präventionsprogrammen zu verkleinern und eine weitere Brücke zwischen – wenn mensch (immer noch) so will – „Ost und West“ zu schlagen. Insofern war die Wahl des Verlag Barbara Budrich für unsere Veröffentlichung sehr naheliegend.
Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen
Die Herausgeber*innen
Alle Autor*innen sind als Mitarbeiter*innen bei Distanz e.V. tätig. Der gemeinnützige Verein widmet sich bundesweit dem Feld der sogenannten Distanzierungsarbeit (zur Definition) mit jungen Menschen. Der Fokus dieser Tätigkeit liegt hierbei auf Rechtsextremismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Die jahrelange intensivpädagogische Erfahrungen aus der Trainings mit extrem rechts einstiegsgefährdeten Menschen in Thüringen sowie der bundesweite Beratungsarbeit mit pädagogischen Akteur*innen stellt die wesentliche Expertise für die Publikation dar.
Mehr zur Arbeit von Distanz – Distanzierungsarbeit jugendkulturelle Bildung und Beratung e.V. finden Sie hier.
Über „Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern“
Wie lässt sich das Abgleiten junger Menschen in den Rechtsextremismus verhindern? Der Ansatz der aufsuchenden Distanzierungsarbeit zielt auf die Sensibilisierung für potenzielle Einstiegsgefährdungen und Handlungssicherheit im Umgang mit starken Vorurteilen ab. Dieses hochaktuelle Grundlagenwerk beschreibt Distanzierungsarbeit als pädagogische Querschnittsaufgabe, analysiert diskriminierendes Verhalten und leitet zur Initiierung von Distanzierungsprozessen an. So wird die Planung strategischer Maßnahmen bei verhärteter Menschenfeindlichkeit ermöglicht. Praktische Kompetenzen werden mithilfe eines Methodenkoffers vermittelt.
Mehr Autor*innen-Interviews …
… finden Sie in der Blog-Kategorie 5 Fragen an.
© Titelbild gestaltet mit canva.com