„Junge Menschen sind selbst-ständige und selbst-führende Seismograph:innen ihrer Zeit.“ – Interview mit Autorin Jennifer Hübner zu „Lebenswelten – Lebensräume“

Wie erleben Kinder und Jugendliche großstädtische Sozialräume? Wie gestalten sich ihre urbanen Lebensräume und -welten? Wir haben ein Interview mit Herausgeberin Jennifer Hübner zum Buch Lebenswelten – Lebensräume: Auf den Spuren junger Menschen in der Großstadt im 21. Jahrhundert. Ergebnisse einer rekonstruktiven Studie zu jungen Menschen im urbanen Raum geführt.

 

Interview mit Jennifer Hübner

 

Liebe Jennifer Hübner, worum geht es in Lebenswelten – Lebensräume?

Das Buch „Lebenswelten – Lebensräume“ basiert auf einer zweijährigen ethnografischen Studie, die im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg durchgeführt wurde.

Hier leben 332.000 Menschen, was einer Großstadt entspricht. Etwa 60.500 Menschen sind zwischen sechs und 27 Jahren alt. Das Buch geht der Frage nach wie, wo und mit wem junge Menschen zwischen sechs und 27 Jahren in einer Großstadt ihre Lebenswelt gestalten, welche städtischen Potentiale und Herausforderungen jungen Menschen dabei begegnen. Neben der Bedeutung des öffentlichen Raums wurde auch die Rolle außerschulischer Kinder- und Jugendbildung unter die Lupe genommen. Zugrunde gelegt wurde der Untersuchung eine sozialräumliche Perspektive, die junge Menschen als selbst-ständige und selbst-führende Seismograph:innen ihrer Zeit betrachtet, die sich ihre Lebenswelten zu eigen machen und (mit)gestalten (Aneignung).

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Praxisforschungsergebnisse solcher Studien in einem Sammelband zu veröffentlichen, mag einigen ungewöhnlich erscheinen. Doch mit Blick auf den umfangreichen Datensatz, der uns mit Dank an die jungen Menschen und Fachkräfte zurücklässt, die uns diesen intensiven Einblick in ihre vielfältigen Lebensweltgestaltungsweisen ermöglichten, entschieden wir uns mit Blick auf die Veröffentlichung der Ergebnisse, den lokalen Bezugspunkt „Bezirk“ zu verlassen.

Wichtig ist es uns zu betonen, dass es die eine kindliche oder städtische Lebensweise nicht gibt, sondern von eine Vielzahl stadtbezogener Weisen junger Menschen gesprochen werden muss. Die Stadt gliedert sich in Quartiere und zersplittert sich in Kieze, die sich seitens der Menschen entgegengesetzt der territorialen (Planungs)Logik von Verwaltung und Politik sozial(räumlich) relational angeeignet wird. Es wird sich also nicht nur in die Stadt eingepasst, junge Menschen produzieren (ihre) Stadt. Das ist wichtig anzuerkennen, da dieses Bild eine schaffende und erzeugende Perspektive auf junge Menschen möglich macht, fernab von passiver Aneignung und verordneter Quartierslogik. Shopping-Malls etwa tun sich in diesem Lichte nicht nur als Konsumtempel, sondern als Bildungs(an)gelegenheiten hervor, an denen sich mit anderen jungen Menschen getroffen und gemeinsam Zeit verbracht und Eigensinniges getan werden kann, das sozial und engagiert eingefärbt ist. Die Betonung liegt auf Gemeinsamkeit, Sozialität und einem Engagement für das Miteinander.

 

Wie ist die empirische Studie, die Ihrem Buch zugrunde liegt, methodologisch aufgebaut?

Ein Pfund dieser Studie ist der induktive und triangulative Methodenansatz. Dem Forschungsteam war es wichtig, junge Menschen in ihren (städtischen) Lebenswelten möglichst ausdifferenziert zu begegnen und nicht verkürzt bzw. einseitig. Angeschaut wurden sich daher ihre Aneignungs- und Gestaltungspraxen in unterschiedlichsten räumlichen Kontexten etwa im öffentlichen Raum als auch im halböffentlichen Raum, wobei für den halböffentlichen Raum eine klare Definition entwickelt und vornehmlich der ÖPNV und Shopping-Malls in den Blick genommen wurden.

Neben ethnografischen Beobachtungen kamen während der Erhebungsphase zudem lebensweltliche Impulsinterviews mit jungen Menschen zum Einsatz, die wir entweder im öffentlichen Straßen- und Grünflächenland oder in Kinder- und Jugendzentren führten. Darüber hinaus haben wir in den Quartieren Zukunftswerkstätten in den Kinder- und Jugendclubs umgesetzt und Schulsozialsozialpädagog:innen sowie Straßensozialarbeiter:innen befragt. Zudem kamen zwei quantitative Erhebungen zum Einsatz, in denen die Fachkräfte der bezirklichen Kinder- und Jugendzentren befragt wurden und junge Menschen zwischen sechs und 27 Jahren zu Wort kamen. Da uns während der Erhebung auch die Ausläufer der Corona-Pandemie begegneten, wurden in einem quantitativen Verfahren schließlich auch die digitalen Angebote der Kinder- und Jugendhäuser gesichtet.

Mit diesem multimethodischen Setting sollte sichergestellt werden, einerseits die jungen Menschen in den Blick zu nehmen, die das Angebot der Kinder- und Jugendarbeit in Anspruch nehmen als auch jene, die das nicht tun und auch nicht wollen oder insgesamt weniger sichtbar sind – bspw. im öffentlichen Raum als auch an Orten der sozialen Infrastruktur. Dabei spielten Inklusion und Gender eine besonders wichtige Rolle. Entstanden ist ein qualitativer Datensatz von 152 Anlagen, die allerdings Schritt für Schritt erhoben wurden. Zu Beginn der Studie stand das Methodendesign noch nicht fest.

 

Wie würden Sie die Ergebnisse der Studie in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg weist in seiner Vielfalt klassische großstädtische Merkmale auf. Man kann sagen: Der Bezirk ist eine „Stadt in der Stadt“. Die Quartiere sind architektonisch sehr verschieden und verkehrstechnisch unterschiedlich angebunden. Während sich die jungen Menschen in der Innenstadt nach Grünflächen sehnen, die es vornehmlich am Stadtrand gibt, wünschen sich die jungen Menschen entlang der äußeren Peripherie wiederum Orte, an denen es laut und eng ist, wo es etwas zu sehen gibt, wo Reibung erfahrbar wird. Gleiches gilt für das ÖPNV-Netz: In der Innenstadt kann alle fünf Minuten ein öffentliches Transportmittel genutzt werden, auch nachts. Junge Menschen am Stadtrand hingegen müssen manchmal 20 Minuten warten, was sich auf ihre jeweilige Mobilitätspraxis und ihre städtischen Aneignungsmöglichkeiten auswirkt. Um an attraktiven Orten mit Aneignungsqualität Zeit zu verbringen, werden lange Wege in Kauf genommen und Kiez- als auch Bezirksgrenzen verlassen. Das unterstreicht das Begehr der jungen Menschen als auch ihre pro-aktive Selbst-zu-Ständigkeit und Selbst-Führung, wenn es um die Aneignung der von Erwachsenen gemachten Stadt geht.

Diese für die Studie zentrale Beschreibung ist nur ein Beispiel, verdeutlicht aber, dass es vor dem Hintergrund der verschiedenen Interessen zu innerstädtischen Transitprozessen kommt und junge Menschen schon lange nicht mehr (zwingend) dort ihre (Frei)Zeit verbringen, wo sie wohnen oder zur Schule gehen. In der Raumforschung wird hier von Polykontexturalisierung gesprochen.

Insgesamt leben junge Menschen gern an ihren Wohnorten. Ihre Interessen und Themen sind Sport und Bewegung, Musik, Shoppen, Social Media und Zocken als auch gemeinsames Herumlaufen und Chillen, was an die Ergebnisse der großen Jugendstudien anschließt. Ökonomische Unterschiede sind Anlass für soziale Segregation. Innerhalb der Quartiere gibt es „unsichtbare Grenzen“, die dazu führen, dass bestimmte Orte vermieden werden.

Für den innerstädtischen Bereich besteht zudem eine deutliche Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Nutzungsgruppen um die begrenzten und meist auch noch funktionalisierten Flächen. Jugendliche und junge Erwachsene müssen dabei Familien mit Klein-Kindern weichen und werden in den Hintergrund gedrängt. Außerdem sind Mädchen* im öffentlichen Raum wesentlich seltener anzutreffen als Jungen*. Mit Blick auf die Angebotsstruktur der Kinder- und Jugendarbeitslandschaft muss zudem konstatiert werden, dass es Angeboten für junge Menschen mit Be_Hinderung und queere junge Menschen mangelt.

→ Link zur mündlichen Präsentation der Studienergebnisse: https://www.youtube.com/watch?v=TCMuZ7EORic

 

Darum bin ich Autorin bei Budrich

Der Verlag Barbara Budrich ist ein Verlag, der sich in der Sozialen Arbeit Rang und Namen erarbeitet hat. Mit seinem Fachbereich „Soziale Arbeit“ bietet er Wissenschaftler:innen, Studierenden und Fachkräften aus der Praxis ein umfangreiches Repertoire in der Breite und in der Tiefe. Die Reihe Soziale Arbeit und sozialer Raum war für die vorliegende Publikation besonders interessant, da sie sozialraumbezogene theoretische, forschende und praktische Perspektiven miteinander verzahnt.

 

Autorin Jennifer Hübner: Kurzvita in eigenen Worten

Jennifer Hübner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Sie lehrt (und forscht) hier und an anderen Hochschulen zur Sozialpädagogik, insbesondere zur außerschulischen Kinder- und Jugendbildung, Forschungsmethoden sowie Theorien der Sozialen Arbeit mit dem Fokus Raum und Lebenswelt. Sie promoviert am Promotionszentrum für Soziale Arbeit in Hessen, angebunden an die Frankfurt University of Applied Scienes. In einem ethnografischen Arrangement beschäftigt sie sich in ihrer Dissertation mit dem Leitparadigma Offenheit in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.

 

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3D Cover Jennifer Hübner Lebenswelten Lebensräume 150 pxJennifer Hübner:

Lebenswelten – Lebensräume: Auf den Spuren junger Menschen in der Großstadt im 21. Jahrhundert. Ergebnisse einer rekonstruktiven Studie zu jungen Menschen im urbanen Raum

Soziale Arbeit und sozialer Raum, Band 7

Leseprobe

 

Über das Buch

Wie erleben Kinder und Jugendliche großstädtische Sozialräume? Wie gestalten sich ihre urbanen Lebensräume und -welten? Welche Raumaneignungspraxen nutzen junge Menschen zwischen sechs und 27 Jahren in ‚ihrer‘ Stadt? Das hier abgebildete Forschungsprojekt illustriert die Potenziale und Herausforderungen in den Lebenswelten und Sozialräumen junger Menschen am Beispiel eines Berliner Stadtbezirkes und fragt, welche Handlungsempfehlungen sich aus den Beobachtungen für die Gestaltung des öffentlichen Raums und für die Kinder- und Jugendarbeit als außerschulischer Bildungsraum ableiten lassen. Die sozialraumübergreifende, empirische Studie bietet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Qualitätsmanagement und zur Professionalisierung der Kinder- und Jugendarbeit vor Ort und darüber hinaus, sondern zeigt exemplarische Impulse für die Kinder- und Jugendhilfeplanung von Kommunen.

 

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© Foto Jennifer Hübner: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com