Colonia Dignidad von heute aus erzählt. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv als vielstimmiger Resonanzraum
Dorothee Wein
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 2-2022, S. 138-162.
Zusammenfassung
Das Projekt „Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsche Oral History-Archiv“ ist einerseits geprägt von seinem erinnerungspolitischen Entstehungskontext und ist andererseits selbst zum Akteur in der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad geworden. Diese Entwicklung zeichnet der Artikel nach, indem er zunächst die einzelnen Betroffenengruppen und ihr Verhältnis zueinander sowie zu dem multiperspektivischen Oral History-Projekt umreißt. Anschließend werden Aspekte des Projektverlaufes reflektiert, der Umgang mit der Vielstimmigkeit der Erfahrungsgruppen auf der Archivplattform erläutert sowie der Frage nachgegangen, was das lebensgeschichtliche Erzählen zur Selbstbemächtigung unterschiedlicher Betroffener beitragen kann.
1. Einleitung
„Colonia Dignidad – Ein chilenisch-deutsches Oral-History-Archiv“ (CDOH)1 versammelt lebensgeschichtliche Video-Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einer deutschen Sektensiedlung und kriminellen Vereinigung im südlichen Chile. Die Colonia Dignidad („Kolonie Würde“) war eine totalitäre Gruppe, in der zwischen 1961 und 2005 schwere Verbrechen verübt wurden. Die Sektenmitglieder und ihre Kinder wurden isoliert, ausgebeutet und sexuell missbraucht. Während der chilenischen Diktatur folterte und ermordetet Pinochets Geheimpolizei DINA in Zusammenarbeit mit der Sektenführung dort zahlreiche Oppositionelle (Maier/Stehle 2015). Obwohl das Thema phasenweise eine hohe mediale Aufmerksamkeit findet, sind die Verbrechen nur unzureichend aufgearbeitet: So konnten die in der Colonia Ermordeten bis heute nicht gefunden oder identifiziert werden. In Deutschland wurde trotz jahrzehntelanger Ermittlungen nie Anklage gegen Führungsmitglieder der Sekte erhoben, und nach chilenischem Recht verurteilte Täter leben hier auf freiem Fuß (Stehle 2021:387 ff.).
Nachdem Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 erstmals eine moralische Mitverantwortung der deutschen Außenpolitik eingeräumt hatte, beschloss der Deutsche Bundestag ein Jahr später Maßnahmen zur Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen2, die konkrete materielle und psychosoziale Hilfen für die Opfer, Schritte hin zu einer würdigen Gedenkkultur sowie verstärkte Bemühungen um eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen umfassen sollten. Ein Hilfsfond für die Opfer wurde daraufhin ins Leben gerufen, das Oral-History-Projekt der Freien Universität Berlin vom Auswärtigen Amt gefördert, und eine deutsch-chilenische Expertenkommission erarbeitete ein Konzept für einen Gedenkort. Für dessen Umsetzung scheint es aktuell jedoch wieder an politischem Willen zu fehlen, und eine verstärkte juristische Aufarbeitung wird in Deutschland immer unwahrscheinlicher.
Konzipiert und umgesetzt wurde das dreijährige Oral-History-Projekt von einem Team um das Lateinamerika-Institut und die Digitalen Interview-Sammlungen der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. Zum wissenschaftlichen Kernteam unter der Leitung von Stefan Rinke gehörten Evelyn Hevia Jordán, Philipp Kandler, Cord Pagenstecher, Jo Siemon und Dorothee Wein.3 Im Rahmen des Oral History-Projekts haben wir 64 lebensgeschichtliche Interviews mit Ex-Colonos4, politischen Gefangenen, Angehörigen und weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Ein Kreis von mehr als 20 Personen transkribierte und übersetzte die deutsch- oder spanischsprachigen Video-Interviews, bevor wir sie in einem zweiten Schritt wissenschaftlich aufbereiteten.5 Im Ergebnis ist ein multiperspektivisches Interview-Archiv entstanden, das auf einer Online-Plattform mit geschütztem Zugang die Erzählungen als Teil des kulturellen Erbes beider Gesellschaften bewahrt. Die Bereitstellung der Interviews ermöglicht die wissenschaftliche Beschäftigung und politische Bildungsarbeit mit dem Thema.
Das Projekt steht im Kontext einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Geschichte der Colonia Dignidad auf politischer und erinnerungskultureller Ebene in Deutschland und Chile. Dabei handelt es sich um ein höchst dynamisches und konfliktreiches erinnerungspolitisches Feld. Den damit verbundenen Herausforderungen begegneten wir mit einem multiperspektivischen Ansatz, durch den möglichst viele unterschiedliche Blickwinkel und Erfahrungshorizonte in der Sammlung vertreten sein sollten. Die Archiv- Plattform versammelt demnach Lebensgeschichten aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, von Menschen, deren Erfahrungen in meist leidvoller Art und Weise mit der Colonia Dignidad verbunden sind, deren Erfahrungsräume sich jedoch untereinander häufig fremd gegenüberstehen und deren politische Forderungen mitunter gegenläufig sind.
Das Oral History-Archiv ist einerseits geprägt von seinem erinnerungspolitischen Entstehungskontext und ist andererseits selbst zum Akteur in der Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad geworden. Diese Entwicklung zeichnet der folgende Artikel nach, indem er zunächst die einzelnen Betroffenengruppen beschreibt und ihr Verhältnis zueinander und zu dem Projekt umreißt. Anschließend werden Aspekte des Projektverlaufes reflektiert, und es wird der Frage nachgegangen, was das Archiv zur Aufarbeitung der Geschichte und zu einem Empowerment unterschiedlicher Betroffener beitragen kann.
2. Ausgangssituation des Oral-History-Projektes
2.1 Geschichte und Verbrechen der Colonia Dignidad
Um die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der verschiedenen Betroffenengruppen zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Geschichte der Colonia Dignidad notwendig. Ihre Wurzeln reichen in das Deutschland der Nachkriegszeit, wo evangelikale Prediger großen Zulauf hatten. Der spätere Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, war einer dieser Prediger. Ein erheblicher Teil seiner Anhänger*innen stammte aus den ehemals deutschen „Ostgebieten“. Der Krieg, die Niederlage des Nationalsozialismus und die Vertreibung machten diese Gruppe offenbar besonders empfänglich für die autoritäre charismatische Führung und ihr religiöses Heilsversprechen. Schäfer hatte nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, als Jugendpfleger mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Er wurde von kirchlichen Trägern in kurzer Zeit wiederholt entlassen, weil er sexualisierte Gewalt gegen die ihm anvertrauten Jungen verübte, ohne dass aber formell Anzeige gegen ihn erstattet wurde. Aufgrund dieser Entlassungen reiste er viel umher und sammelte, begleitet von einem kleinen Kreis von Unterstützern, Anhänger*innen in der Bundesrepublik und Österreich. Die größte Gruppe rekrutierte sich aus der Spaltung der baptistischen Gemeinde in Gronau. Ende der 1950er Jahre baute die Gruppe, die sich nun „Private Sociale Mission“ nannte, in der Nähe von Siegburg ein eigenes Haus auf (Meding 2022). Bereits hier gab es Bestrebungen, sich von der Umwelt abzuschotten, ebenso wie Berichte über Misshandlungen.6
Schäfer floh 1960 aus der BRD, weil aufmerksame Eltern schließlich die sexualisierte Gewalt gegen ihre Söhne angezeigt hatten und Schäfer per Haftbefehl gesucht wurde. Auf Empfehlung des chilenischen Botschafters entschied die Sektenführung, nach Chile überzusiedeln. 1961 erwarb die Gruppe auf dem Landgut „El Lavadero“ bei der Kleinstadt Parral, etwa 350 km südlich von Santiago, umfangreiche Ländereien und nannte sich nun „Sociedad Benefactora y Educacional ‚Dignidad‘“. Durch vielfältige Gefälligkeiten konnte rasch ein lokales Unterstützernetz aufgebaut werden; ein Krankenhaus diente in der strukturschwachen Region als wohltätige Fassade. Nach dem Wahlsieg des linken Wahlbündnisses Unidad Popular unter Salvador Allende arbeitete die Colonia eng mit rechtsextremistischen Gruppierungen zusammen und bildete eine Art „Repressionsallianz“ (Maier/Stehle 2015) mit den Putschisten, als deren extremster Ausdruck das gemeinsam mit Pinochets Geheimdienst DINA betriebene Folterlager in der Colonia verstanden werden kann. Daneben nutzte die Colonia gezielt die Germanophilie in großen Teilen der chilenischen Gesellschaft, die Deutschen Attribute wie Sauberkeit, Ordnung und Arbeit zuschreibt. Die genannten Faktoren trugen wesentlich dazu bei, dass sich die Colonia Dignidad über vierzig Jahre lang halten konnte und auch nach Schäfers Verhaftung in gewandelter Form als „Villa Baviera“ („Bayerisches Dorf“) bis heute weiterbesteht.
Die Geschichte der Colonia Dignidad lässt sich anhand ihrer zahlreichen Verbrechen beschreiben (Stehle 2021: 17ff.). Im Innern wurde dauerhaft ein extremer Druck auf die Sektenmitglieder ausgeübt, die sich dem religiös-totalitären Kollektiv gegenüber unterordneten. Es herrschte der Zwang zur Arbeit ab dem Kindesalter, Gewissens- und Gedankenkontrolle nach den Vorgaben der psychoreligiösen Führerfigur Paul Schäfer, der täglich sexuelle Gewalt, besonders gegen Kinder und Jugendliche, ausübte. Jan Stehle begreift den Missbrauch Paul Schäfers als das Primärverbrechen der Colonia Dignidad, um den sich alle weiteren als Sekundärverbrechen gruppierten, damit dieser weiter ungestört praktiziert werden konnte (ebd.:150 ff.). In Gebetskreisen und Beichten mussten nicht nur eigene intimste Gedanken und vermeintliches Fehlverhalten, sondern auch das der anderen Colonos preisgegeben werden. Jedes Fehlverhalten konnte willkürlich mit drakonischen Strafen geahndet werden. Brutale Prügel waren an der Tagesordnung, verabreicht teilweise auch gemeinschaftlich in den einzelnen Altersgruppen. Durch diese Mechanismen der Machtausübung waren fast alle in das Netz der Täterschaft verstrickt und konnten im nächsten Moment zum Opfer werden. Auch Essens- und Trinkentzug, Ruhigstellung und Kontrolle durch Medikamente, massive Elektroschocks und Zwangssterilisierungen gehörten zu den repressiven Praktiken der Sekte. Wurde ein Teil dieser Taten schon vor der Übersiedlung nach Chile verübt, so steigerten sich die gewaltvollen Maßnahmen durch die Abgeschlossenheit der Colonia und die Wechselwirkungen mit der politischen Situation in Chile auch im Innern.
Externe Verbrechen richteten sich vor allem gegen Menschen aus der chilenischen Gesellschaft. Direkt nach dem Kauf des Grundstücks wurden dort lebende Kleinbauern vertrieben. Durch die enge Zusammenarbeit mit der chilenischen Diktatur in den 1970er Jahren nahmen die Verbrechen ein neues Ausmaß an. Sie gipfelten in der Folter von politischen Gefangenen und der Beteiligung am Verschwindenlassen und am Mord von Oppositionellen sowie der späteren Beseitigung der Leichen der Ermordeten auf dem Gelände der Siedlung. Zudem beteiligte sich die Colonia unter anderem an Waffenproduktion und -handel. Im Rahmen von Angeboten für Kinder- und Jugendliche aus dem Umland wurden in den 1990er Jahren auch chilenische Kinder zu Opfern der sexualisierten Gewalt Schäfers. Außerdem führte die Sekte unter betrügerischen Umständen (Zwangs-)Adoptionen chilenischer Kinder durch, die dann die gleichen Grausamkeiten wie die übrigen Colonos erlitten, zusätzlich aber durch ihre chilenische Herkunft rassistisch diskriminiert wurden.
Nach dem Ende der Diktatur wuchs dank polizeilicher Anzeigen durch von Schäfer missbrauchte Chilenen der politische und juristische Druck, dem sich dieser 1997 durch Flucht nach Argentinien entzog. Dort spürten ihn 2005 chilenische Journalisten auf, er wurde verhaftet und zusammen mit einigen wenigen seiner Führungsgarde in Chile verurteilt. Andere Verantwortliche entzogen sich einer Strafe durch Flucht nach Deutschland (Stehle 2021:436 ff.).7 2010 starb Schäfer im Gefängnis.
Heute besetzen in der Villa Baviera überwiegend Kinder der ehemaligen Führung Machtpositionen und versuchen deren wirtschaftliches Überleben durch verschiedene Unternehmen sowie durch einen Tourismus- und Restaurantbetrieb zu sichern. Gleichzeitig bestehen auch Elemente der Abschottung fort, und die spirituelle Leerstelle wurde in Teilen durch andere evangelikale Prediger aus Deutschland gefüllt8. Die Tendenz der Post-Sektengemeinschaft, die Verbrechen der Vergangenheit unter einer religiös begründeten Versöhnung für abgeschlossen zu erklären und nicht weiter zu thematisieren, wurde dadurch gestärkt. Etwa die Hälfte der Ex-Colonos hat die Siedlung verlassen und lebt heute in Deutschland, Österreich oder an anderen Orten in Chile.
1 Zugang zum bilingualen Oral History-Archiv CDOH: https://archiv.cdoh.net (25.1.2024).
2 Einstimmig verabschiedeter Entschließungsantrag, 27.6.2017: https://dserver.bundestag.de/btd/18/129/1812943.pdf.
3 Da ohne meine Teamkolleg*innen weder das Interview-Projekt noch die Archivplattform zu Stande gekommen wären, spreche ich an vielen Stellen von „wir“. Dennoch bin ich alleine für diesen Text und etwaige Fehler in ihm verantwortlich.
4 Dieser Begriff hat sich nach 2005 im chilenischen wie im deutschsprachigen Kontext für die Bezeichnung der ehemaligen Angehörigen der Colonia Dignidad durchgesetzt (Stehle 2021: 27).
5 Edison Cájas González, Manuel Loyola Bahrs (Chile) und Anna Intemann (D) führten für die meisten Interviews die Kamera, Jan Henselder war für die Medien zuständig. Christian Gregor und Marc Altmann kümmerten sich um die technischen Anpassungen der Archiv-Software. Für das gesamte Team vgl. https://www.cdoh.net/team/index.html (25.1.2024).
6 In der Oral-History-Sammlung berichten mehr als 20 Zeitzeug*innen über diese Anfangszeit in Deutschland.
7 Prominentestes Beispiel ist der Fall Hartmut Hopp, den das European Center für Constitutional and Human Rights dokumentiert hat, https://www.ecchr.eu/fileadmin/Juristische_Dokumente/Stellungnahme_ECCHR_Einstellung_Hopp_Colonia_Dignidad_Dez2020.pdf.
8 Die größte Rolle spielt Ewald Frank („Freie Volksmission Krefeld“), der bereits 2004 in die Ex-Colonia reiste und dort zahlreiche Taufen durchführte.
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