Arbeitsmarktteilhabe migrierter Frauen in Deutschland: Plädoyer für eine intersektionale Sozialpolitikforschung
Katrin Menke
Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 2-2024, S. 44-58.
Einleitung
Forschung zur Arbeitsmarktteilhabe von Frauen ist originärer Bestandteil feministischer Sozialstaatsforschung. Sie thematisiert soziale Rechte und Leistungsansprüche, institutionalisierte Zugangs- und Verteilungsmechanismen, sozialstaatliche Leitbilder sowie damit verbundene genderbezogene Ein- und Ausschlüsse. Dabei werden nicht nur soziale Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Frauen in den Blick genommen. So betonen gegenwärtige Analysen aktivierender, sozialinvestiver Politiken und sozialstaatlicher Regulierungen die selektiven Folgen für Frauen nach Bildung, beruflicher Stellung und/oder Einkommen (Auth/Leiber/Leitner 2020; Bothfeld/Rouault 2015).
Früh wurde bereits auf die Schlechterstellung von Frauen mit Migrationserfahrung und/oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft am Arbeitsmarkt hingewiesen, etwa durch rechtliche Ausgrenzungen sowie Diskriminierungen und Stigmatisierungen bei der Arbeitssuche und am Arbeitsplatz (Castro Varela/Clayton 2003). Mit Blick auf den deutschen Sozialstaat beleuchteten Studien schon vor 15 Jahren die enge Verwobenheit von sozialer Sicherung und Arbeitsmarktteilhabe, welche mit Chancen, aber auch Risiken für Zuwander*innen einhergingen (Pioch 2008). Angesichts ökonomischer Umbrüche und sozialpolitischer Restrukturierungen wurde ein zunehmend stratifiziertes System aufenthalts- und arbeitsmarktrechtlicher Bestimmungen problematisiert (Mohr 2005). Zugleich machten Analysen zur Arbeitsmigration von Frauen im Kontext der Anwerbepolitiken von ‚Gastarbeiter*innen‘ sowie im Rahmen der EU-Osterweiterung auf deren (sozial-)politische Steuerung aufmerksam, arbeiteten Widersprüche zwischen Politiken heraus und forderten, den Rechts- und Sozialstatus von Migrierenden systematisch zu berücksichtigen (Erdem/Mattes 2002; Lepperhoff 2005; Weckwert 2008). Migration gilt in diesen Studien allerdings nicht als konstitutiver Bestandteil von Sozialstaatlichkeit (anders Lenz 2020). Auf die engen Verwobenheiten von Sozialstaatlichkeit mit Migration sowie damit einhergehende komplexe Ungleichheitsprozesse verweist die kontinuierliche Forschung zu Care-Migration (Gottschall 2023; Lutz 2011). Deren Autor*innen nutzen häufig eine intersektionale Perspektive zur Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen (Lutz/Amelina 2021). Zugleich werden diese Studien eher selten auf weitere Migrationsformen und Arbeitsmarktfelder ausgeweitet. Demgegenüber verweisen anglo-amerikanische Analysen schon länger auf eine grundlegende Verwobenheit nationaler Politiken mit Migrationsverhältnissen (Ginsburg 1994; Morris 2020) und betrachten Sozialstaatlichkeit und Migration mit Hilfe intersektionaler Ansätze (Williams 1995, 2021).
Der Beitrag schließt hier an und behauptet einen erkenntnistheoretischen Mehrwert intersektionaler Perspektiven auf Sozialpolitiken. Am Beispiel der Arbeitsmarktteilhabe migrierter Frauen in Deutschland soll gezeigt werden, dass intersektionale Analysen komplexe soziale Ungleichheiten sowohl erfassen als auch deren Verwobenheit mit sozialstaatlichen Politiken sichtbar machen können. Dafür halte ich eine theoretische Erweiterung von Sozialstaatlichkeit um Migrationsverhältnisse ebenso für notwendig wie eine intersektionale Mehrebenenanalyse, die den Blick auf die Verschränkung von prekären Ein- und Ausschlüssen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen in den Blick nimmt. Im Folgenden beschreibe ich zunächst theoretische Auslassungen gegenwärtiger Sozialstaatstheorie und unterbreite im Anschluss erste theoretische Prämissen für eine (noch weiter zu entwickelnde) intersektionale Sozialstaatsforschung sowie eine methodologische Heuristik, um intersektionale Ungleichheiten erfassen zu können. Nachfolgend liefere ich zwei Illustrationen einer intersektionalen Sozialstaatsanalyse mit Blick auf die Arbeitsmarktteilhabe von Migrantinnen in Deutschland zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten: türkische ‚Gastarbeiterinnen‘ im Kontext sozialstaatlicher Anwerbung sowie geflüchtete muslimisch markierte Frauen im Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitiken. Auf diese Weise rekonstruiere ich systematische Verwobenheiten weiblicher Arbeitsmigration mit dem deutschen Sozialstaat. Der Beitrag endet mit einem Fazit, das für die Berücksichtigung von Migrationsverhältnissen, race und Rassismus als konstitutivem Bestandteil von Sozialstaatlichkeit plädiert.
Auslassungen gegenwärtiger Sozialstaatstheorie
Die Sozialstaatstheorie ist geprägt von einer verkürzten Perspektive auf Migration. Dies – so möchte ich im Folgenden argumentieren – liegt erstens an den herangezogenen Theorien, die häufig nur einzelne Aspekte von Sozialstaatlichkeit beleuchten. Vorschläge, wie vorliegende Ansätze theoretisch zu integrieren sind, fehlen jedoch. Zweitens wird Sozialstaatlichkeit auf theoretischer Ebene nicht hinreichend mit Nationalstaatlichkeit verknüpft, wodurch Migrationsverhältnisse als konstitutiver Bestandteil von Sozialstaaten nicht erfasst werden.
Sozialstaaten werden in der Sozialpolitikforschung als vielschichtige Gebilde verhandelt. In diesem Kontext lassen sich verschiedene Ansätze identifizieren, mit Hilfe derer Migration zwar thematisiert, aber in ihrer Komplexität bislang nicht ausreichend erfasst wird. Lessenich unterscheidet beispielsweise vier Theoreme (Lessenich 2008, 38-57). So betrachten funktionalistische Ansätze Migration etwa als Folge makrostruktureller sozioökonomischer Transformationen wie Globalisierung oder Fachkräftemangel, die den Sozialstaat ‚von außen‘ herausfordern. Migration erscheint derart nicht als ein im Sozialstaat eingelassenes Verhältnis. Konflikttheoretische Ansätze stellen hingegen Akteure in den Mittelpunkt: Im Kontext von Migration wurde zuletzt etwa die (zumeist eingeschränkte) Artikulations- und Durchsetzungsmacht von Migrant*innen im Sozialstaat thematisiert (Klenk/Leiber/Windwehr 2022) oder korporatistische Akteure wie Migrant*innenorganisationen analysiert (Kellmer/Klammer/Schlee 2022). Ideenfokussierte Ansätze untersuchen die normativen sozialpolitischen Ordnungsideen, die durch Migrationspolitiken reproduziert werden – etwa den Paradigmenwechsel in der Asylpolitik (Schammann 2017). Institutionalistische Ansätze heben die besondere Rolle staatlich verfasster Regeln bei der Schaffung von Rahmenbedingungen sozialen Handelns hervor. Akteure wie Tarifparteien oder Verbände erhalten somit spezifische Einflussmöglichkeiten im Politikprozess. Nach Lessenich schreiben diese Ansätze dem Staat hierbei eine hervorgehobene Position zu, der über Sozialpolitik explizit Loyalitäts- und Herrschaftssicherung betreibe (Lessenich 2008, 47). Allerdings verlieren normative Ordnungsideen in derlei Ansätzen an Bedeutung. Es fällt zudem auf, dass Subjekte als sozialpolitische Adressat*innen in den aufgeführten Theoriefolien nicht in die Betrachtung von Sozialstaaten einbezogen werden.
Um der Komplexität des Phänomens Migration gerecht zu werden, wäre es notwendig, die dargestellten Theoreme stärker zu kombinieren. Zwar ist in der Sozialstaatstheorie Konsens, die Theorien als komplementär zu verstehen (etwa Fehmel 2019, 65) und Daten empirisch multiperspektivisch zu erfassen. Allerdings mangelt es an theoretischen und konzeptionellen Vorschlägen, wie die Ansätze zu integrieren sind. Lessenich regt an, das Zusammenspiel aus gesellschaftlichen Krisen im Übergang zur Moderne in das Zentrum zu stellen. Dieser Übergang sei eine Abfolge von wirtschaftlichen Akkumulations-, politischen Legitimations- und sozialen Sicherungskrisen, aus denen Sozialstaaten als gesellschaftliche Krisenmanager hervorgingen (Lessenich 2008, 56). Auch die feministische Sozialstaatsforschung thematisiert die Bedeutung von Krisen für sozialstaatliche Transformationen (Scheele 2009, 173-177; Williams 2021). Krisensemantiken eigenen sich jedoch nur bedingt zur Analyse von Migration, da das Labeln von Migration ‚als Krise‘ Narrative (sozial-)staatlicher Migrationssteuerung aufgreift, die gesellschaftliche Machtverhältnisse verschleiern (Scheel/Tazzioli 2022).
Ein international vielfach aufgegriffenes Konzept zur Erfassung sozialstaatlicher Vielschichtigkeit ist der Regime-Ansatz von Gøsta Esping-Andersen (1990). Dieser typologisiert Sozialstaaten entlang multipler Dimensionen: dem Dekommodifizierungsgrad, dem Arrangement aus Staat, Markt und Familie sowie dem Stratifizierungssystem. Zusätzlich werden wohlfahrtsstaatliche Paradigmen und gesellschaftliche Akteure berücksichtigt. Sozialstaaten geraten derart selbst zu einer aktiven Kraft der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten (ebd., 23). Das Konzept von Wohlfahrtsregimen wurde früh von feministischen Sozialpolitikforscherinnen kritisiert, um die Analysekategorie Gender erweitert und substanziell durch geschlechterzentrierte Typologien weiterentwickelt (Betzelt 2007; Lewis 1997; Orloff 1993). Ihr Verdienst ist die Berücksichtigung unbezahlter Care-Arbeit in den Analysen sowie die Kritik am männlich geprägten Normalarbeitsverhältnis als Norm und Bezugspunkt sozialer Sicherung. Auch Migration wurde mit dem Regime-Ansatz international vergleichend thematisiert (Sainsbury 2006). Obwohl Esping-Andersen die Fixierung auf staatliche Strukturen mit dem Regime-Begriff unterlaufen wollte, gilt dieser häufig verkürzend als Synonym für Nationalstaaten.
Dies verweist auf die zweite Auslassung deutschsprachiger Sozialstaatstheorie: Nationalstaatlichkeit wird nicht als wesentliches Merkmal von Sozialstaatlichkeit begriffen. Institutionalistische Theoreme betonen zwar das historische Zusammenfallen von Nationalstaatsgründung, Sozialstaatsbildung und der Konstruktion europäischer Gesellschaften, was Sozialpolitik zu einem „zentrale(n) Aspekt der Ausbildung und Festigung von Nationalstaaten“ (Fehmel 2019, 57) macht. Mit Blick auf ihre gegenwärtige Verfasstheit erscheinen Sozialstaaten, deren Bevölkerung, Akteure sowie Leitbilder jedoch weiterhin als abgrenzbar und intern homogen. Helen Schwenken (2018, 212) kritisiert daher zu Recht, dass (auch feministische) Ansätze Sozialstaaten als nationale Container theoretisieren und westlich geprägten Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit verhaftet blieben. Auch die Migrationssoziologie macht darauf aufmerksam, dass soziale Rechte auf der Zugehörigkeit zu einer als homogen imaginierten nationalen Gesellschaft basieren, die durch Migration herausgefordert wird. Da Nationalstaaten ihre Bürger*innen über soziale Rechte an sich binden und deren Mitgliedschaft über Staatsbürgerschaft reglementieren, erscheint Migration zwangsläufig als problematisch (Bommes/Halfmann 1998). Zwecks Durchsetzung national-sozialstaatlicher Souveränität werden Prozesse der Zentralisierung, Bürokratisierung und Professionalisierung von Staatsadministration (Lessenich 2008, 48) bedeutsam, aus denen heraus sich kritisch auf Steuerungsversuche von Migration blicken lässt (Geddes 2003).
Weil Debatten um die historisch-politische Konstruktionen von Nationalstaatlichkeit nur zögerlich eingearbeitet werden, bleibt die deutschsprachige Sozialstaatstheorie einem methodologischen Nationalismus verhaftet. Dieser bedeute Ignoranz, Naturalisierung und Territorialisierung (Wimmer/Glick-Schiller 2003, 577-582): Ignoranz gegenüber der Transnationalität von Machtstrukturen (Kapitalismus, Imperialismus, Patriarchat) und historischen Verwobenheiten von Demokratie und Nationalismus, Naturalisierung von Nationalstaaten und ihrer Bürger*innen als moderne, demokratische Erscheinungen sowie Territorialisierung von Gesellschaften als nationalstaatlich begrenzt. Für die Überwindung des methodologischen Nationalismus bedarf es der Überprüfung von Nationalstaaten als sinnvolle Analyseeinheit sowie der Verabschiedung von der Vorstellung von Migrant*innen als de facto existierende (und nicht politisch konstruierte) Subjekte und Migration als Problem (sozial-)staatlicher Steuerung (Scheel/Tazzioli 2022).Während feministische Forschung sozialstaatliche Geschlechterordnungen über das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeit in die Analyse integriert hat (Gottschall 2000; Kulawik 2000), steht die Berücksichtigung von Migrationsverhältnissen, race und Rassismus – analog zu Geschlechterverhältnissen, Gender und heteronormativ-patriarchalen Strukturen – für Deutschland überwiegend noch aus. Die feministische Forschung zu Care-Migration zeigt bereits die Verflochtenheit von Migration und Sozialstaatlichkeit, die Rolle transnationaler Räume sowie die Relevanz von Weißsein (Aulenbacher/Lutz/Schwiter 2021; Gottschall 2023; Safuta 2018). Es gilt, Migrationsverhältnisse theoretisch in der Analyse von Sozialstaatlichkeit zu verankern und vorliegende Analysen auf weitere Felder der Migration und Arbeit zu übertragen. Dafür unterbreite ich im Folgenden einen Vorschlag.
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