Diversität, Teamorientierung und Care-Arbeit in der Gaming Industrie

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management 1-2024: Care und Diversität in der Gaming Industrie. Wenn Spaß, Leidenschaft und Teamspirit im Spiel sind

Care und Diversität in der Gaming Industrie. Wenn Spaß, Leidenschaft und Teamspirit im Spiel sind

Nina Hossain und Maria Funder

ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management, Heft 1-2024, S. 10-23.

 

Zusammenfassung
Die Gaming Industrie gehört zu den Vorreiterinnen der spätmodernen Arbeitswelt. Sie zeichnet sich nicht nur durch ein Streben nach Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, sondern auch durch ein hohes Maß an Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit aus. Der Beitrag geht zum einen der Frage nach, ob das Streben nach Einzigartigkeit zur Befürwortung von Diversität beiträgt, sich aber doch nur auf der Vorderbühne abspielt und zu einem Diversitätsmythos beiträgt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Arbeit in der Gaming Industrie am Ende sogar zu einer Care-Ignoranz führt. Zur Beantwortung der Fragen werden Befunde einer qualitativen Studie herangezogen.

Schlagwörter: Care, Diversität, Emotionen, Gaming Industrie, spätmoderne Arbeit

 

Care and diversity in the gaming industry. When fun, passion and team spirit are at play

Abstract
The gaming industry is one of the pioneers of the late modern world of work. It is characterized not only by a striving for uniqueness and distinctiveness, but also by a high degree of subjectification and the removal of boundaries from work. On the one hand, the article examines the question of whether the pursuit of uniqueness contributes to the advocacy of diversity, but only takes place on the front stage and contributes to a diversity myth. On the other hand, the question arises as to whether working in the gaming industry ultimately leads to care ignorance. Findings from a qualitative study are used to answer the questions.

Keywords: care, diversity, emotions, gaming industry, late modern work

 

1. Einleitung

Lange Zeit galt die Kultur- und Kreativarbeit als ‚exotisch‘ und wurde daher in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung als ein randständiges Thema behandelt (vgl. u.a. Manske/Schnell 2018). Das hat sich Mitte der 1990er Jahre mit der Transformation in Richtung spätmoderne Arbeitsgesellschaft verändert; der Kultur- und Kreativwirtschaft1 wurde nunmehr sogar eine Vorreiterrolle zugeschrieben, da mit ihr Strukturen verbunden wurden, die sowohl Offenheit für Vielfalt (Diversität) als auch ein hohes Maß an Autonomie, Flexibilität, Selbstverwirklichung und eine bessere Verzahnung von Arbeits- und Lebenswelten versprachen (vgl. ebd.). Mittlerweile ist jedoch nicht nur der ‚Künstler*innen-Mythos‘ eines autonomen, kreativen, ‚freischöpfenden Geistes‘ verblasst, auch belegen vorliegende Studien, dass von einem erstrebenswerten „Prototyp zukünftiger Erwerbsarbeit“ (Lash/Urry 1994) keine Rede sein kann (vgl. u.a. Betzelt 2006; Betzelt/Gottschall 2005; Christopherson 2008; Schnell 2007; Manske 2013, 2016; Manske/Schnell 2018). Vielmehr sei Kreativität zu einer ökonomischen Ressource avanciert, die ein ‚unternehmerisches Handeln‘ erfordere, das sich in einem harten Wettbewerb behaupten müsse. Kreativ zu sein bedeutet, so z.B. Bröckling (2011), fortwährende ‚schöpferische‘ Anstrengung und ständig innovativ sein zu müssen. Es herrsche ein „kreativer Imperativ“ (McRobbie 2016; Bröckling 2007) vor, der auf einen individuellen Wettbewerbswillen setze. Es reicht also nicht, kreativ zu sein, es kommt auch darauf an, stets kreativer zu sein als andere. Mit dieser Wettbewerbslogik geht ein hochsubjektiviertes Arbeitsverständnis einher, das nicht nur in der Bereitschaft zu ständiger Weiterbildung, hoher Flexibilität und intrinsischer Arbeitsmotivation besteht, sondern auch das Hinnehmen hoher Belastungen und finanzieller Einschränkungen – bis hin zu prekärer Arbeit – einschließt, so dass von einem „Regime der Subjektivierung“ bzw. einer „Internalisierung des Verwertungsimperativs ins Subjekt“ (Birenheide 2008; Manske/Schnell 2018: 430) gesprochen werden kann.

All diese Merkmale sind insbesondere in der Gaming Industrie zu finden (vgl. Hoose 2016; Hossain 2023). Rekurrierend auf ausgewählte Befunde des DFG-Projektes „Das Regime der Emotionen als Strategie? Eine Analyse ökonomischer Teilfelder – Emotionen, emotionales Kapital und Geschlecht in der spätmodernen Arbeitswelt“ (Laufzeit 2020-2024) möchten wir im Folgenden veranschaulichen, dass in der Gaming Industrie nicht nur eine weitreichende Subjektivierung von Arbeit durch ein umfassendes Sich-Einbringen stattfindet, sondern auch ein permanentes Streben nach Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, was an die von Reckwitz (2017) beschriebene „Logik des Besonderen“, die die spätmoderne Arbeitswelt bestimmt, erinnert. Im Kern geht es dabei sowohl um die Einzigartigkeit von Arbeitskräften, die Spaß haben und sich selbst verwirklichen wollen, als auch der ‚Betriebsfamilie‘ – oder wie wir es nennen, um Prozesse einer ‚Neo-Vergemeinschaftung‘.2 Diese zeichnet sich vor allem durch gegenseitige Verbundenheit und ein sich umeinander kümmern aus. Einzigartig ist sie auch durch das vorherrschende Narrativ der ‚gelebten Diversität‘, der zufolge nicht Uniformität, sondern Heterogenität und Vielfalt gefragt sind. Dieser spezifische ‚Teamspirit‘, der für eine Gemeinschaftslogik („We are family!“) verantwortlich ist (vgl. Dörhöfer/Funder 2016), hat auch negative Effekte. So steigt etwa mit dem Anspruch, einzigartig sein zu dürfen und sich selbst frei entfalten zu wollen, der Druck, kreativ sein und sich selbst optimieren zu müssen, um zur Entwicklung neuer, einzigartiger Spiele, einer besseren Performance, weiteren Leistungssteigerungen des Teams und damit zum Markterfolg des Unternehmens beitragen zu können.

Was folgt hieraus für die Sorge um sich selbst (self care) und die Fürsorge für andere inner- und außerhalb der Arbeitswelt (caring for others)? Haben wir es mit einer ‚Care-Vereinnahmung‘ als einem Charakteristikum spätmoderner Arbeitswelten zu tun, weil z.B. die Erwartung an eine vollumfängliche Integration in die ‚Betriebsfamilie‘ in Kombination mit dem Streben nach Selbstentfaltung und -optimierung nur noch Zeit für Care innerhalb der Arbeitswelt zulässt? Spiegelt sich in der Gaming Industrie somit eine auf die Spitze getriebene „strukturelle Sorglosigkeit“3 wider?

Im vorliegenden Beitrag gehen wir diesen Fragen mit Blick auf widersprüchliche Tendenzen in der Gaming Industrie – wie der Gleichzeitigkeit von Singularisierung und Diversität auf der einen und einer ausgeprägten Teamorientierung auf der anderen Seite – auf die Spur und ziehen Schlussfolgerungen für die Care-Problematik in der spätmodernen Arbeitswelt.

Aufgebaut ist der Beitrag in fünf Teile: Zunächst stellen wir einige zentrale Charakteristika der Gaming Industrie vor (Teil 2). Im Anschluss gehen wir kurz auf das methodische Design unserer Studie ein (Teil 3) und präsentieren dann ausgewählte Ergebnisse zu Diversität und Care (Teil 4). Im Fazit (Teil 5) wird diskutiert, ob eine ‚gelebte‘ reflexive Diversität und Care im Sinne einer gesellschaftlich nachhaltigen Fürsorge in der spätmodernen Arbeitswelt überhaupt denkbar ist.

2. Die Gaming Industrie – eine Vorreiterin der spätmodernen Arbeitswelt?

2.1 Das Feld der Gaming Industrie

Bei der Gaming Industrie handelt es sich um eine junge und stetig wachsende Branche, die sich bereits in vielerlei Hinsicht institutionalisiert (siehe z.B. Branchenverbände) und stetig an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Bildungsorganisationen, auf Games fokussierte Medien und Events – um nur ein paar wenige feldrelevante Akteur*innen zu nennen – haben zudem zur Professionalisierung des Feldes beigetragen (vgl. Hossain 2023). Das Herzstück der Branche sind jedoch die Spielehersteller; in Deutschland waren es 2022 über 1.000 Unternehmen mit mehr als 13.000 Beschäftigten, die einen Umsatz – rechnet man die Hardware hinzu – von fast 10 Mrd. Euro erzielt haben, Tendenz steigend (vgl. BMWK 2023). Zu unterscheiden sind hier vier Organisationstypen: 1. Das Feld gegründet und geprägt haben die Big Player, die AAA-Games – sozusagen die Blockbuster der Branche – produzieren. Sie genießen eine internationale Bekanntheit, Kultstatus, haben eine entsprechend hohe Beschäftigtenzahl und erwirtschaften einen Umsatz in Milliardenhöhe (vgl. Newzoo 2023). Die Herstellung von AAA-Games ist sehr kostenintensiv. In Deutschland gibt es sie bislang nicht, aber es existieren einige wenige Studios, die AA-Spiele produzieren. 2. Ihnen gegenüber stehen die Independent-Studios, die nur zwei bis 20 Mitarbeiter*innen haben. Diese Kleinstwie Kleinbetriebe sind höchst fragil, was sich auch in einem zumeist sehr geringen Lohnniveau (Existenzminimum) widerspiegelt. Was sie motiviert weiter zu machen, ist die Hoffnung auf einen kommerziellen Durchbruch. 3. Studios, die Nischenspiele produzieren, haben so um die 50 Beschäftigte. Sie bedienen ein sehr spezifisches Marktsegment (z.B. Railway Empire) und verfügen zumeist über weltweite Fan Communities, die ihnen einen relativ festen Umsatz garantieren. 4. Mobile Games, die einfache Spiele für Smartphones und Tablets anbieten, beschäftigen um die 300 Mitarbeiter*innen und erwirtschaften einen Umsatz in Millionen- oder gar Milliardenhöhe (vgl. Statista 2023).

2.2 Forschungsstand: Arbeitsbedingung, Care und Diversität in der Gaming Industrie

Ein Blick auf die Arbeitsbedingungen in der Gaming Industrie macht deutlich, dass hier nahezu alle Charakteristika der spätmodernen Arbeitswelt anzutreffen sind. Die Kultur- und Kreativindustrie – und damit auch die Gaming Industrie – gilt geradezu als ein Experimentierfeld für postfordistische Arbeitsstrukturen, die vielfach schon als New Normal angesehen werden. Zu nennen ist nicht nur die ausgeprägte Subjektivierung von Arbeit, sondern auch die Nutzung agiler Organisationskonzepte (z.B. Scrum-Methoden) und folglich eine hohe Projektförmigkeit der Arbeit sowie die große Bedeutung von Wissensarbeit, denn schließlich geht es hier im Kern um die Konzeption und Entwicklung von Spielen, die Fachkräfte mit einem relativ hohen Qualifikationsniveau erfordern (z.B. Games-Designer*innen, Softwareentwickler*innen, Publisher*innen). Entwicklungen, die mit neuen Erwartungen an Arbeitskräfte und ergo mit einem neuen Berufstypus, der auf kreativer, subjektivierter Wissensarbeit beruht, einhergehen (vgl. Betzelt 2006). Sozialstrukturell haben wir es demnach mit einem überdurchschnittlichen Bildungsniveau und sozioökonomisch mit schwankenden Einkommen zu tun (Manske 2016: 48; Betzelt 2006).

Zu den Charakteristika spätmoderner Arbeitswelten zählt auch das Interesse an Selbstentfaltung und die Offenheit für Diversität, die als „nützlich“, ja sogar als ein Impulsgeber für „kreative Leistungsfähigkeit“ (Reckwitz 2017: 382) bewertet wird. So sei die Akzeptanz von Diversität eng verwoben mit dem „spätmodernen Ideal der Offenheit für Anderes und Neues“ (ebd.); folglich lässt sich auch ein Diversity Management „als eine modernisierte Form der ‚Politik der Differenz‘ deuten“ (ebd.). Diversität als Leitidee trifft somit vielfach auf eine verbale Befürwortung, die insbesondere von großen transnationalen Organisationen als geradezu unverzichtbar betrachtet wird, um als modern und zukunftsorientiert gelten zu können (vgl. Hossain 2023). Auf den ersten Blick kann also mit der kreativen Ökonomie durchaus ein erstrebenswertes Zukunftsszenario im Hinblick auf Selbstentfaltung und Akzeptanz von Vielfalt verbunden werden. Allerdings sind mittlerweile auch die Schattenseiten immer offensichtlicher geworden. So ist die Kultur- und Kreativindustrie ambivalent zu bewerten, nämlich „als prekär, informell, flexibel und als Winner-take-all-Märkte“ (Manske/ Schnell 2018: 429). Sie trägt folglich zur Entstehung ausgeprägter sozialer – sowie auch geschlechtsspezifischer – Ungleichheiten bei (vgl. ebd.; McRobbie 2002; Christopherson 2008). Noch weist die Forschung hierzu aber ebenso Lücken auf wie bezogen auf die Frage des Umgangs mit Care. Wir gehen davon aus, dass sich in der Gaming Industrie sowohl eine Diversitäts- als auch eine Care-Orientierung ausmachen lässt, die aber in hohem Maße einem ökonomischen Nutzenkalkül folgt, so dass eher von einer ‚Care-Vereinnahmung‘ gesprochen werden kann.

3. Methodisches Vorgehen

Unsere Studie erfolgte auf der Basis qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung. Hierzu wurden in einem ersten Schritt Dokumenten- und Bildanalysen von unternehmensinternem Material und Homepages, Unternehmens- und Branchendaten durchgeführt, um Einblicke in die Welt der Gaming Industrie zu erhalten. Auf Grundlage dieser explorativen Vorrecherche wurde der Interviewleitfaden konzipiert, der elf thematische Schwerpunkte hatte (u.a. Arbeitsorganisation und -kultur), aber gleichzeitig eine größtmögliche Offenheit gewährleisten sollte. Insgesamt haben wir 36 offen-strukturierte Interviews mit Expert*innen aus zwei spätmodernen Arbeitsfeldern, davon 20 in der Gaming Industrie, geführt. Befragt wurden Akteur*innen aus unterschiedlichen Organisationstypen, um eine möglichst facettenreiche Sicht auf das Feld der Gaming Industrie zu gewinnen. Die Auswertung erfolgte in mehreren Stufen in Anlehnung an die „Qualitative Inhaltsanalyse“ nach Mayring (2022) und unter Verwendung von MaxQDA. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse zur Vermarktung von Diversität dargestellt und anschließend die Ergebnisse zur Vereinnahmung von Care-Beziehungen.

1 Der Begriff der Kreativ- und Kulturwirtschaft stammt aus dem angelsächsischen Raum (hier: Creative Industries). Bislang mangelt es an einer klaren wissenschaftlichen Definition. Zumeist werden ihr sehr heterogene Bereiche zugeordnet, wie etwa die Musikwirtschaft, der Buchmarkt, der Kunstmarkt, die Filmwirtschaft, die Rundfunkwirtschaft, die darstellende Kunst, die Architektur, der Pressemarkt, der Werbemarkt sowie auch Software und Games (vgl. BMWK 2023).
2 Der Begriff der Neo-Vergemeinschaft erinnert an Maffesolis ‚Neo-Tribes‘. So wird in Anbetracht wachsender Verunsicherungen in der Postmoderne von einer Rückbesinnung auf archaische Gemeinschaftsformen bzw. ‚Inseln der Gemeinschaft‘ ausgegangen, die Sicherheit, Vertrautheit und emotionale Verwurzelung versprechen (Maffesoli 1988). Wir sprechen daher von Neo-Vergemeinschaftungen, um diesen Trend auf einen Begriff zu bringen. Auch Reckwitz greift diesen Gedanken auf, er geht von Neogemeinschaften aus, die „allesamt auf historisch traditionsreiche Formen des Sozialen zurück(greifen)“ (Reckwitz 2017: 107).
3 Siehe zum Begriff Aulenbacher und Dammayr (2014) sowie auch die Care-Debatte in der Geschlechtersoziologie, in der es auch um die „Sorglosigkeit des Kapitalismus“ geht (vgl. u.a. Aulenbacher 2020; Klinger 2013).

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