Gesellschaften des Globalen Südens aus kapitalismustheoretischer Sicht

PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur 167+168 (2-2022): Kapitalismus dezentrieren! Strukturelle Heterogenität und bedarfsökonomischer Sektor als Schlüsselkategorien einer politischen Ökonomie des Südens

Kapitalismus dezentrieren! Strukturelle Heterogenität und bedarfsökonomischer Sektor als Schlüsselkategorien einer politischen Ökonomie des Südens*

Jakob Graf

PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, Heft 167+168 (2-2022), S. 300-323.

 

Zusammenfassung

In vielen Ländern des Globalen Südens findet die soziale Reproduktion eines großen Teils der Bevölkerung in hohem Maße außerhalb des kapitalistischen Sektors statt. Dies hat Folgen für die dort verbreiteten gesellschaftlichen Natur- und Klassenverhältnisse sowie für die zentralen Konfliktdynamiken in diesen Gesellschaften. Dieser Artikel fragt danach, wie wir diese Gesellschaften des Globalen Südens kapitalismustheoretisch verstehen können, ohne ihnen die Kategorien der Zentrumsländer überzustülpen. Dafür wird das analytische Konzept der strukturellen Heterogenität sowie der empirische Begriff des bedarfsökonomischen Sektors vorgeschlagen. Diese führen kapitalismustheoretisch deutlich über ein rein ökonomisches Verständnis struktureller Heterogenitäten hinaus und ermöglichen die Analyse aktueller sozial-ökologischer Verteilungskonflikte. Dafür, so wird abschließend deutlich, sind eigene Begrifflichkeiten nötig, die sich von denjenigen unterscheiden, die klassischerweise für die Analyse des Kapitalismus in den frühindustrialisierten Zentrumsländern entwickelt wurden.

Schlagwörter: Kapitalismus, strukturelle Heterogenität, sozial-ökologische Konflikte, Weltsystemansatz, Dependenztheorie, politische Ökonomie, politische Ökologie

 

Decentralise Capitalism! Structural Heterogeneity and the Need Economy as Key Categories for a Political Economy of the South

Summary

In many countries of the Global South, the social reproduction of the majority of the population to a large extent takes place outside the capitalist sector. This leads to particular class relations, social relations to nature, and dynamics of conflict. This article asks how we can understand societies in the Global South in terms of a critical theory of capitalism without imposing the categories of the centre economies on them. For this purpose, the analytical concept of structural heterogeneity is proposed, as well as the empirical concept of the need economy. These terms encourage an understanding of structural heterogeneities that goes beyond economics and enables the analysis of current socioecological distribution conflicts. In conclusion, I argue that to understand societies in the Global South, concepts other than those that were developed for the analysis of capitalism in the early industrialised centre economies are needed.

Keywords: Capitalism, structural heterogeneity, socioecological conflicts, world system approach, dependency theory, political economy, political ecology

 

Einleitung

Die Globalisierung schien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den ersten Blick das zu vollenden, was schon Karl Marx und Friedrich Engels im Jahre 1848 prognostizierten: Das Kapital stelle in seiner universalisierenden Tendenz den Weltmarkt her und treibe damit die Angleichung aller lokalen Verhältnisse an die bürgerliche Ordnung der kapitalistischen Produktionsweise voran. Alles „Ständische“ werde nun „verdampft“ und die Produktion und Konsumtion aller Länder „kosmopolitisch gestaltet“ (Marx & Engels 1959 [1848]: 465f). Damit würde sich eine global integrierte Industrie weltweit ausbreiten und die Klassenverhältnisse zunehmend polarisieren sowie als Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit vereinfachen (ebd.: 463, 466). Neben der Angleichung der Wirtschaft an den „idealen Durchschnitt“ (Marx 1969 [1894]: 839) des in Westeuropa entstandenen Kapitalismus und dem Vordringen der „Zivilisation“ vollende die „Zentralisation der Politik“ die Konvergenz globaler sozialer Verhältnisse (Marx & Engels 1959 [1848]: 466f).1 Ganz in diesem Sinne bestimmt der „ideale Durchschnitt“ des Kapitalismus der frühindustrialisierten Zentrumsländer unser Verständnis von Kapitalismus auch heute: als Totalität bestehend aus vorwiegend großen Unternehmen, Lohnarbeit, „freien“ Arbeitsmärkten sowie kompetitiven Finanz- und Gütermärkten.2

Die globale Konvergenz kapitalistischer Verhältnisse ist allerdings nicht eingetreten. Nicht-kapitalistische Bereiche spielen weiterhin eine zentrale Rolle. Schätzungen zufolge ernähren sie mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung (etc group 2017). Neben der fortdauernden Bedeutung kleinbäuerlicher Ökonomie sind es auch die unzähligen solo-selbstständigen und kleinbetrieblichen Aktivitäten im informellen Sektor, die für die Reproduktion – und insbesondere für die Ernährungssicherheit – prekärer Haushalte vieler Länder des Globalen Südens von grundlegender Bedeutung sind. Dies hat auch damit zu tun, dass in den „low income“- und „lowermiddle income“-Ländern nach wie vor mit 62,6 Prozent bzw. 39,6 Prozent ein großer Teil der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft aktiv ist (ILO 2018a). Das Wachstum des informellen Sektors zeigt darüber hinaus, dass die Konvergenz auch auf der Ebene der staatlichen Regulierung nicht eingetreten ist. Auf dem afrikanischen Kontinent sind 85,8 Prozent, im asiatischen und pazifischen Raum 68,2 Prozent und in Nord- und Südamerika zusammengerechnet 40 Prozent informell beschäftigt (ILO 2018b: 13f). All dies sind Zeichen davon, dass von einer Tendenz zu einer umfassenden und formellen Integration der arbeitenden Bevölkerung in den kapitalistischen Sektor nicht auszugehen ist.3 Zugleich deutet das Aufkommen neuer ländlicher, indigener und kleinbäuerlicher Bewegungen darauf hin, dass nicht-kapitalistische Kleinproduzent*innen ihre spezifischen wirtschaftlichen Praktiken vehement verteidigen (Moyo & Yeros 2005: 44-52). Von maoistischen Bewegungen in Indien bis hin zu indigenen Mapuche im Süden Chiles fordern sozial benachteiligte Gruppen produktive Ressourcen zurück (Getzschmann 2011; Graf u.a. 2019). Damit stellt sich die Frage, wie sich derartige ökonomische Verhältnisse und soziale Konflikte heute politökonomisch begreifen lassen.

Im Folgenden vertrete ich die These, dass wir Sozialstrukturen von Ländern, in denen sich breite Teile der Bevölkerung in bedeutendem Maße außerhalb des kapitalistischen Sektors reproduzieren, ausgehend von dem Konzept der strukturellen Heterogenität verstehen sollten. Diese bedeutet laut dem Dependenztheoretiker Armando Córdova (1971: 26f, 63) die Gleichzeitigkeit verschiedener Eigentumsverhältnisse und Organisationsweisen innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Ökonomie. Dieter Senghaas bezieht den Begriff – Córdova folgend – auf die Beobachtung, dass in den peripheren Gesellschaften „[…] anders als in […] den dominierenden kapitalistischen Industriegesellschaften […] verschiedenartige, in einem hierarchischen Verhältnis aufeinander bezogene Produktionsweisen gleichzeitig vorkommen […]“ (1974a: 23).4 Durch diese Herangehensweise wird es möglich, spezifische sozioökonomische Praktiken auszumachen, die sich von typischen kapitalistischen Wirtschaftsweisen unterscheiden, mit spezifischen kulturellen Praktiken, Geschlechter-, Klassen- und Naturverhältnissen einhergehen und in der Folge auch bestimmte Konfliktdynamiken bedingen.

Die spezifischen sozialen Eigenheiten einer großen Zahl der Länder des „Globalen Südens“ – so meine These – können wir nur untersuchen, wenn wir das Verständnis des „Kapitalismus im idealen Durchschnitt“ (Heinrich 2008) dezentrieren. Damit ist gemeint, dass wir eine Alternative zum dominanten Verständnis benötigen, das Klassenverhältnisse und soziale Konflikte wesentlich durch die Beziehung zwischen doppelt freien Lohnarbeiter*innen und Kapital definiert.5 In diesem Sinne dient der Begriff der strukturellen Heterogenität im Folgenden als heuristisches Analysewerkzeug. Er stößt uns dabei auf eine begriffliche Leerstelle der kapitalismustheoretischen Forschung zu Ländern des „Südens“, die immer dann off enbar wird, wenn der nicht-kapitalistische Bereich in den Blick rückt. Diese Leerstelle schlage ich vor, mit dem empirischen Begriff des „bedarfsökonomischen Sektors“ zu füllen. Um zu zeigen, wie wir das Verhältnis zwischen Kapitalismus und bedarfsökonomischem Sektor verstehen sollten, stelle ich zunächst die zentralen Debatten dar, die im dependenz- und weltsystemtheoretischen Denken zu dieser Problematik von Bedeutung sind (1). Dabei zeigt sich, dass das Dependenz- und Weltsystemdenken zwar den theoretischen Rahmen bereitstellen, um das Problem der strukturellen Heterogenität zu begreifen, die verschiedenen Autor*innen allerdings zugleich durch grundsätzliche theoretische Differenzen diesbezüglich gekennzeichnet sind (2). Daraufhin arbeite ich die wichtigsten Beiträge zur strukturellen Heterogenität heraus, die sich parallel in anderen theoretischen Strömungen entwickelten (3) und setze dies schließlich in Bezug zu neueren Debatten bezüglich dieser Problematik (4 und 5). Zuletzt schlage ich ein eigenes Verständnis struktureller Heterogenität und des bedarfsökonomischen Sektors vor und zeige, wie sich mit diesem aktuelle Konflikte verstehen lassen (6). Letztere – so meine Schlussfolgerung – lassen sich aus einer kompetitiven Verflechtung der unterschiedlichen sozioökonomischen Sektoren verstehen, die um ökologische Ressourcen und öff entliche Güter konkurrieren. Politik und kulturelle Faktoren verstärken dabei die Konfliktdynamik.

1. Strukturelle Heterogenitäten in der Weltwirtschaft

Etwa ein Jahrhundert nach Marx wurde mit den Modernisierungstheorien ein Entwicklungsdenken dominant, das die Konvergenzthese mit normativem Anspruch und in weit unkritischerer Manier vertrat. Die sogenannten „rückständigen“ Länder sollten nun dem Weg der westlichen Industrieländer bewusst folgen (Ziai 2010: 400). Mit der Einführung kapitalistischer Sektoren in diesen Gesellschaften entstünden laut dem niederländischen Kolonialbeamten Julius Herman Boeke (1953) zunächst „duale Ökonomien“ bestehend aus einem „modernen“ und einem „traditionellen Sektor“. Dieser These folgend argumentierte der Ökonom Arthur W. Lewis (1954: 146f), dass der moderne Sektor aus dem subsistenzwirtschaftlichen Bereich lange Zeit äußerst billige Arbeitskräfte beziehe und der Dualismus damit keineswegs ein Hindernis für die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse darstelle, wie vielfach angenommen wurde. Das Verhältnis dieser Sektoren könne man daran anschließend als funktional bezeichnen. Allerdings würden mit zunehmender kapitalistischer Expansion schließlich die Löhne steigen und eine technologische Entwicklung einsetzen, die zu einem fortschreitenden Bedeutungsverlust des „traditionellen Sektors“ führe (ebd. 172-174; Enke 1962: 159f). Die meisten Entwicklungstheoretiker*innen gingen in diesem Sinne davon aus, dass damit das Zeitalter der „weltweiten und totalen Industrialisierung“ angebrochen sei (Kerr u.a. 1960: 5), die mit einer umfassenden Verwandlung der Erwerbsbevölkerung in Lohnarbeiter*innen einherginge (Lewis 1954: 171-175; Kerr u.a. 1960: 314ff). An einer derartigen eurozentristischen Entwicklungsvorstellung, die teilweise bis heute fortwirkt, entwickelte das dependenz- und weltsystemtheoretische Denken eine fundamentale Kritik. Die „Unterentwicklung“ der (ehemals) kolonisierten Gebiete des Trikonts wurde hier verstanden als struktureller Bestandteil der „Entwicklung“ der Zentrumsökonomien (Frank 1969). Die globale Arbeitsteilung habe sich seit dem 16. Jahrhundert etabliert und den unterschiedlichen Regionen verschiedene Rollen innerhalb der Weltwirtschaft zugewiesen, die mit dem Export und Import sehr verschiedener Produktpaletten einhergehe (Wallerstein 1979). So wurde Lateinamerika zu einer Region, die auf den Export von Rohstoffen, Lebensmitteln und billiger Arbeitskraft und den Import technologisch aufwendigerer Industriegüter ausgerichtet sei (Marini 1974: 102-104). Keineswegs – so wurde konstatiert – industrialisierten sich alle Länder gleichermaßen, vielmehr verhindere die Integration in den Weltmarkt diese Prozesse vielerorts und reproduziere deren Rolle als periphere und arme Regionen (Dos Santos 1970; Wallerstein 2019: 31ff ). Diese Differenzen in der Ausrichtung der Volkswirtschaften bezüglich des internationalen Handels spiegelten sich allerdings auch in der Sozialstruktur der Länder wieder. Eine breite Integration großer Teile der Erwerbsbevölkerung in den industriellen Sektor bleibe in vielen Ländern aus, sie würden damit auch nicht in relevantem Ausmaß in industrielle Lohnarbeiter*innen verwandelt (Córdova 1971: 48; Kay 1975: 127f), und entgegen der modernisierungstheoretischen Prognose würden die entsprechenden Gesellschaften auch „nicht homogen kapitalistisch“ (Quijano 1974: 300). Es dauerten vielmehr Zustände fort, die Córdova (1971: 63) als „strukturelle Heterogenität“ bezeichnete und die in der gleichzeitigen Existenz von Sektoren mit verschiedenen Produktionsverhältnissen bestünden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der große Unterschied zum modernisierungstheoretischen Begriff der „dualen Ökonomie“, besteht erstens darin, dass die Fortexistenz der nicht-kapitalistischen Bereiche nicht einfach aus der Kontinuität des „Traditionellen“ oder des „Vorkapitalistischen“ erklärt wird. Zweitens geht der Begriff der strukturellen Heterogenität über das Ökonomische hinaus. Drittens bettet das dependenz- und weltsystemtheoretische Denken die Heterogenität in die globalen und historischen Strukturen ein und sieht in den damit verbundenen Ungleichheiten bleibende Charakteristika abhängiger Länder.6 Allerdings ist das kapitalismustheoretische Verständnis der strukturellen Heterogenität, wie wir im Folgenden sehen werden, auch hier äußerst umstritten.

1 Diese Expansion bürgerlicher Verhältnisse, die im „Manifest“ noch teilweise politisch euphorisch begrüßt wird, erschließt sich Marx später allerdings nur noch als Prozesse destruktiver kolonialer Gewalt (1973 [1867]: 781; Anderson 2010: 190).
2 Bspw. Wood 2002: 96; Fulcher 2007: 23ff ; Heinrich 2008; Mau 2021; kritisch: Werlhof u.a. 1988; Graf 2021a.
3 Unter kapitalistischem Sektor subsumiere ich alle Unternehmen, die sich an der Logik der Kapitalakkumulation orientieren (Marx 1973 [1867]: 605ff ), sowie solche Kleinbetriebe, die indirekt unter die Kapitalkreisläufe subsumiert sind (zu „indirekter Subsumtion“, vgl. Graf 2021a: 712).
4 Die im Folgenden erörterten Fragen sind in besonderem Maße – wenn auch nicht nur – in Ländern von Bedeutung, die dem Globalen Süden zugerechnet werden und in denen sich breite Bevölkerungsteile maßgeblich außerhalb des kapitalistischen Sektors reproduzieren. Diese Zuordnung beschreibt allerdings nur eine Tendenz, weil eine binäre Entgegensetzung heterogener (Semi)Peripherien und homogener Metropolenländer historisch – aber auch mit Blick auf die vergeschlechtlichte bedarfsorientierte Reproduktion der lohnabhängigen Privathaushalte in allen Ländern – falsch ist (Hurtienne 1981; Mies 2015: 13f).
5 Brenner 1977: 32; Wood 2002: 96; Mau 2021; kritisch: Werlhof u.a. 1988; Graf 2021a.
6 Nach Córdova (1971: 28f, 32ff ) ergebe sich die Heterogenität beispielsweise nicht aus den endogenen Strukturen alleine, sondern sei historisch durch den Kolonialismus begründet und würde durch die abhängige Entwicklung fortgeführt.

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