Die extreme Rechte in der Sozialen Arbeit in MV

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 2-2022: Einflussnahmen der extremen Rechten auf die Soziale Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern

Einflussnahmen der extremen Rechten auf die Soziale Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern

Christine Krüger, Christoph Gille & Júlia Wéber

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 2-2022, S. 196-214.

 

Zusammenfassung: Sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa ist seit einigen Jahren ein wachsender Trend zu autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Denk- und Handlungsweisen zu verzeichnen. Trotz einer angenommenen hohen Sensibilität gegenüber solchen Positionen ist eine Einflussnahme auch auf die Soziale Arbeit und ihre Akteure nicht ausgeschlossen. Die Studie „Die extreme Rechte in der Sozialen Arbeit in MV“ (Laufzeit 06/2020–07/2021) untersucht die Versuche der Einflussnahme extrem rechter Diskurse und Akteure auf die bzw. innerhalb der Sozialen Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern systematisch mithilfe eines Mixed-Methods-Ansatzes. Der Artikel stellt die Ergebnisse der Studie sowie ihre methodische Umsetzung dar und analysiert die empirischen Zugänge und methodischen Möglichkeiten der Wissenschaft Sozialer Arbeit in Hinblick auf eigene Beiträge zur Rechtsextremismusforschung.

Schlüsselwörter: Extrem rechte Einflussnahmen, Professionsentwicklung Sozialer Arbeit, Rechtsextremismusforschung in der Sozialen Arbeit

 

Title: Influences of the far right on social work in Mecklenburg-Western Pomerania

Summary: Both in Germany and throughout Europe, there has been a growing trend towards authoritarian, anti-democratic and anti-human ways of thinking and acting for some years now. Despite an assumed high sensitivity towards such positions, an influence on social work and its professionals cannot be ruled out. The study „The far right in social work in Mecklenburg-Western Pomerania“ (06/2020–07/2021) systematically investigates the attempts of far right discourses and actions to influence social work in Mecklenburg-Western Pomerania using a mixed methods approach. The article presents the results of the study as well as its methodological implementation. Furthermore, it analyses the empirical approaches and methodological possibilities of social work with regard to its own contributions to right-wing extremism research.

Keywords: influences of the far right, professional development of social work, research on right-wing extremism in social work

 

Die extreme Rechte erfährt eine neue Aufmerksamkeit in der Sozialen Arbeit. Derzeit erscheinen verschiedene Fachzeitschriften der Disziplin mit entsprechender Schwerpunktsetzung, Sammelbände sowie Herausgaben von Wohlfahrtsverbänden, die das Thema für die Profession strukturieren. Vor dieser neuen Aufmerksamkeit für die extreme Rechte wurden vereinzelt Analysen bestimmter Aspekte extrem rechter Phänomene und ihrer Bedeutung in der Sozialen Arbeit vorgenommen, z.B. von Grigori und Trebing (2019), Lehnert und Radvan (2016) und früh von Scherr und Bitzan (2007). In den letzten Jahren werden umfassendere empirische Untersuchungen zu den Einflussnahmen der extremen Rechte auf die Soziale Arbeit umgesetzt. Dazu zählen die Arbeiten von Schuhmacher, Schwerthelm und Zimmermann (2021) mit ihrem Fokus auf politische Interventionen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die Untersuchung von Besche (2022) über die Einstellungen von Studierenden der Sozialen Arbeit mit Fokus auf extrem rechte Haltungen sowie die Arbeit der Forschungsgruppe rund um Hafeneger (Hafeneger et al. 2021), die die parlamentarischen Aktivitäten der AfD im Feld der Kinder- und Jugendarbeit auf der Länder- und Bundesebene untersucht. Eine erste empirische Untersuchung zum Vorkommen und den Formen extrem rechter Einflussnahmen in allen Feldern der Sozialen Arbeit legen Gille und Jagusch (2019) für Nordrhein-Westfalen (NRW) vor. An diese Arbeit schließt die hier vorgestellte Studie inhaltlich und forschungsmethodisch an. Die Untersuchung mit Fokus auf Mecklenburg-Vorpommern (MV) liefert dezidierte Befunde zu den Land- und Einflussnahmen im Kontext des ländlich geprägten Raums. Die Studie ermöglicht zudem fundierte Erkenntnisse aus dem Vergleich beider Bundesländer (dazu insbesondere Gille et al. 2022).

Der vorliegende Artikel stellt zunächst das Erkenntnisinteresse der Studie in MV sowie ihre methodische Umsetzung und zentralen Befunde dar. Anschließend gibt er einen Ausblick auf die Anknüpfungspunkte der Studie im Hinblick auf eigene Beiträge der Sozialen Arbeit zur Rechtsextremismusforschung in Deutschland.

1 Extrem rechte Einflussnahmen empirisch fassen: Erkenntnisinteresse, Fragestellung und methodisches Vorgehen

Sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa ist seit einigen Jahren ein wachsender Trend zu autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Denk- und Handlungsweisen zu verzeichnen. Trotz einer angenommenen hohen Sensibilität gegenüber solchen Positionen lässt sich eine Einflussnahme auf die Soziale Arbeit und ihre Akteure nicht ausschließen, zumal das Verhältnis der Profession zum Rechtsextremismus uneindeutig ist, hat sie selbst an der Durchsetzung autoritärer Gesellschaftskonzeptionen bis in die Gegenwart mitgewirkt und sich schuldig gemacht (z. B. Kunstreich 2019). Da Soziale Arbeit zudem stets in gesellschaftlichen Diskursen verankert ist, stellt sich die Frage, ob sich das Erstarken rechter Positionen ebenso in ihren Angeboten zeigt und wenn ja, in welchen Formen dies erkennbar wird. Zwei Leitfragen stehen daher im Mittelpunkt der Untersuchung: Inwieweit lassen sich Einflussnahmen der extremen Rechten auf die und in der Sozialen Arbeit feststellen? und Welche Formen nehmen diese Einflussnahmen an?

In dieser Studie wird die extreme Rechte als Sammelbegriff für verschiedene ideologische Strömungen verwendet, in deren Mittelpunkt die Annahme steht, dass „soziale Hierarchien unausweichlich, natürlich oder erstrebenswert sind“ (Virchow 2018: 35). Darin eingeschlossen sind zunächst solche Ideologien, die von der kulturellen Homogenität bestimmter Gruppen ausgehen und einen dynamischen Kulturbegriff ablehnen, wie sie von der Neuen Rechten verfolgt werden (vgl. z. B. Schellhöh 2018; Zorn 2018). Daneben gehören auch solche Phänomene hinzu, die explizit demokratiefeindlich sind und von staatlichen Akteuren als „rechtsextremistisch“ eingestuft werden (bspw. in den Verfassungsschutzberichten der Länder) (zur Kritik am Begriff rechtsextremistisch siehe Hufer 2018: 10–12): Gewaltförmige Aktionen und die Legitimation von Gewalt finden sich als Kennzeichen einiger dieser Gruppierungen, z. B. im Kontext von völkischen, neonazistischen oder kameradschaftlichen Gruppierungen (ausführlich siehe MIE 2020). Schließlich zählen ebenso rechtspopulistische Ideologien dazu, die nicht nur zwischen dem vermeintlich ,Eigenen‘ und ,Fremden‘, sondern auch zwischen einem vorgestellten ‚oben‘ und ,unten‘ unterscheiden und sich als Vertretungen eines ‚wahren Volkswillens‘ inszenieren. Auch solche Denkweisen und Praktiken stellen sich gegen die Pluralität von Gesellschaft und legitimieren Ausschlüsse, die autoritär durchgesetzt werden sollen.

Die Untersuchung in MV ist an die Forschungsmethodik der Studie zur Neuen Rechten in der Sozialen Arbeit in Nordrhein-Westfalen angelehnt (Gille/Jagusch 2019), die die ersten breiten systematischen Erkenntnisse auf die Forschungsfragen liefert. Im Sinne eines Mixed- Methods-Ansatzes umfasste die Erhebung drei Bausteine1:

In einem ersten Baustein wurden Fachkräfte2 in allen Landkreisen und in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit in MV im Sommer 2020 mittels einer Online- Befragung (Limesurvey) zu ihren Einschätzungen zu Land- und Einflussnahmen der extremen Rechten in der Sozialen Arbeit befragt. Für die Einschätzungen und Beobachtungen war es unerheblich, in welcher Position die Fachkräfte innerhalb der Projekte, Träger oder Organisationen tätig waren. Im Vorfeld der Online-Erhebung wurden die Trägerstrukturen Sozialer Arbeit in MV mittels einer umfangreichen Recherche systematisch erfasst. Die Datenbank umfasste 864 Einträge zu einzelnen Fachkräften und Einrichtungen aus den sechs Landkreisen und zwei kreisfreien Städten im Bundesland. Die Fachkräfte und Einrichtungen wurden mit der Bitte angeschrieben, an der Online-Befragung teilzunehmen und die Umfrage im Schneeballprinzip an andere interessierte Kolleg*innen weiterzuleiten. Der Online-Fragebogen wurde von 406 Fachkräften beantwortet. Davon wurden 252 ausgefüllte Fragebögen, die die Kriterien der Beantwortung von Kernfragen und Vollständigkeit erfüllten, in das Sample aufgenommen.

In einem zweiten Baustein wurden leitfadengestützte Expert*inneninterviews mit Fachkräften in einem kontrastierenden Sample aus verschiedenen Landkreisen und Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit in MV geführt. Dazu wurden vorwiegend Personen herangezogen, die sich im Online-Fragebogen zu einem vertiefenden Interview bereit erklärt hatten. Um ein differenziertes Bild über alle Landkreise, städtische und dörfliche Strukturen und verschiedene Handlungs- und Arbeitsfelder zu erhalten, wurden zudem gezielt Personen angefragt, die in bestimmten Landkreisen, Regionen und Handlungsfeldern tätig waren. Durch die episodischen Schilderungen der 21 Interviews konnten vertiefte Beobachtungen sowie Einschätzungen zu Themen, Charakteristika und Mustern der Einflussnahmen aus der Perspektive der professionellen Praktiker*innen gewonnen werden.

Aufgrund der Corona-Pandemie wurden die Interviews telefonisch geführt und aufgezeichnet. Retrospektiv erweisen sich die Telefoninterviews als methodisch sehr gut geeignet, da sich die Interviewten durch den fehlenden persönlichen direkten Kontakt primär auf die zu gebenden Antworten und weniger auf die nonverbalen Elemente, die in Face-to-Face-Interviews relevant werden können, fokussierten (vgl. Gläser/Laudel 2006). Die telefonische Interviewführung ermöglichte ein gewisses Maß an Anonymität, indem die Interviewten selbst nicht sichtbar waren und sie an den Interviews zumeist aus dem Homeoffice ohne Ablenkungen bzw. Unterbrechungen im Arbeitsumfeld oder unerwünschte Zuhörer*innen teilnehmen konnten. In den Interviews berichten die Fachkräfte sowohl von Vorfällen, die sie persönlich erlebt haben, als auch von solchen, die ihnen z. B. von Dritten oder aus der Presse bekannt sind. Die in den Interviews und in den Fragebögen genannten Vorkommnisse wurden, wenn sie öffentlichen Charakter hatten, weiter recherchiert und inhaltlich geprüft, bevor sie in die Auswertung aufgenommen wurden.

Der dritte Baustein umfasste eine Dokumentenanalyse der parlamentarischen Aktivitäten der Alternative für Deutschland (AfD) im Landtag von MV. Hier wurden 90 Dokumente ausgewertet (vorwiegend Kleine Anfragen, daneben einige Anhörungen und eine Große Anfrage), die im Zeitraum zwischen 2017 und 2020 veröffentlicht wurden und dem Themenfeld Sozialer Arbeit zugerechnet werden können. Diese Analyse wurde von Judith Rahner durchgeführt, Leiterin der Fachstelle Gender, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus der Amadeu-Antonio-Stiftung.

Die in den drei Bausteinen gewonnenen textförmigen Daten wurden in einem inhaltsanalytischen Verfahren explizierend und strukturierend ausgewertet (vgl. Mayring 2016: 115). Das bedeutet, dass die Einschätzungen in den Fragebögen und die Antworten auf offene Fragen in der Online-Befragung ebenso in die Entwicklung von Ergebnissen einbezogen wurden wie die Auswertungen der Interviews und spezifische Erkenntnisse aus der Dokumentenanalyse, z. B. zu einzelnen Vorkommnissen. Die in Fragebogen und Interviewleitfaden angelegten deduktiven Kategorien (eigene Angebote der extremen Rechten, externe Einflussnahmen und interne Praktiken) wurden aus der NRW-Studie (Gille/Jagusch 2019) übernommen. Dabei wurden die Ergebnisse zu Formen der Einflussnahme aus der Forschung in NRW verifiziert, erweitert und modifiziert. Innerhalb der drei Kategorien der Einflussnahmen wurden induktiv Varianten gebildet, die spezifische Ausprägungen zeigen.

Zum regionalen Kontext

Da jedes Bundesland, so auch MV, spezifische sozialräumliche Kontexte aufweist, ist es sinnvoll, auf zentrale Charakteristika des Landes kurz einzugehen, vor deren Hintergrund die Forschungsergebnisse eingeordnet werden sollen. Mit 69 Einwohner*innen je Quadratkilometer ist Mecklenburg-Vorpommern das Land mit der geringsten Bevölkerungsdichte im Bundesländervergleich. In den ländlichen Gebieten nimmt diese Dichte weiter drastisch ab (44 Einw./km², vgl. StatA MV 2021: 24). Zudem ist der demografische Wandel im Bundesland seit der politischen Wende eindrücklich. Durch Abwanderung und Veränderung des Geburtenverhaltens im Zuge des sogenannten „Wende- und Geburtenschocks“ ging die Bevölkerung seit 1989 um knapp 300.000 Personen zurück. Somit gehörte MV auch innerhalb der EU zu den Regionen mit dem stärksten Einwohner*innenrückgang. Der Zuzug in manche Städte und Regionen konnte diesen Trend kaum aufhalten: Es bleibt davon auszugehen, dass aufgrund des demografischen Wandels die Zahl der Einwohner*innen weiter zurückgehen wird (vgl. Landesregierung MV 2016).

Die politischen und demografischen Entwicklungen haben Auswirkungen auf die (soziale) Infrastruktur des Landes, die eine enorme Transformation erlebt hat. Nach der Neugründung des Bundeslandes 1990 zählte es 37 Landkreise und sechs kreisfreie Städte sowie 1.118 Gemeinden. Nach mehreren Gebietsreformen und als Antwort auf den stetigen Bevölkerungsrückgang seit 1991 wurden die Kreise 2011 von 18 auf acht reduziert: Neben Schwerin und Rostock sind sechs Landkreise entstanden; Gerichte, Schulen, Landesämter und andere Versorgungseinrichtungen wurden zentralisiert (vgl. Klüter 2018) und die Erreichbarkeit des nächsten Landratsamtes hat sich in etwa der Hälfte der Regionen verschlechtert (vgl. Lübbert 2021). Rösel und Sonnenburg (2016) weisen in diesem Zusammenhang auf eine sinkende Wahlbeteiligung der Bevölkerung in stark fusionierten Gebieten und auf die Wahlerfolge der AfD bei Landtagswahlen hin. Es seien die Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung mit der Kreisverwaltung sowie die Wahrnehmung eingeschränkter Einflussmöglichkeiten im ländlichen Raum, die insgesamt zu einer Unzufriedenheit mit demokratischen Strukturen führten.

Neben den parteipolitischen Formationen und ihren Erfolgen (die NPD war von 2006 bis 2016 mit 7,3 bzw. 6,0 % der Stimmen im Landtag vertreten, die AfD konnte 2016 20,8 und 2021 16,7 % der Zweitstimmen auf sich vereinen) findet sich in MV eine hohe Anzahl heterogener und regional differenzierter Gruppierungen, die von Reichsbürger*innen, extrem rechten Burschenschaften und Prepper*innen, Artaman*innen, völkischen Siedler*innen bis hin zu Neonazi-Gruppierungen und rechtsextremen Kameradschaften reichen (MIE 2020). Aufgrund dieser vielgestaltigen, äußerst aktiven und subkulturell orientierten Szene wird MV von Fachkräften in der Demokratieförderung als „Experimentierfeld der extremen Rechten“ (Trepsdorf 2017) gedeutet. Die sozioökonomischen Bedingungen, beispielsweise niedrige Immobilienpreise in sehr ländlichen Regionen, schwach ausgeprägte Verwaltungsstrukturen und Lücken innerhalb der sozialen Infrastruktur, ergeben vielerorts günstige Konstellationen, eigene Angebote im extrem rechten Spektrum zu etablieren.

1 Die gesamte Studie mit ausführlicheren Darstellungen des methodischen Vorgehens und der Ergebnisse findet sich in Gille/Krüger/Wéber 2022.
2 Als Fachkräfte werden Personen verstanden, die professionell in den Handlungs- und Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit tätig sind. Dies ist unabhängig davon, ob sie eine formale Qualifikation in der Sozialen Arbeit haben. Aus der Befragung ausgenommen waren Ehrenamtliche.

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