Soziale Identität in der virtuellen Community

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 2-2021: „Fragile Männlichkeit“ im Onlineforum. Identitätsmanagement in virtuellen Räumen und dessen Untersuchung

„Fragile Männlichkeit“ im Onlineforum. Identitätsmanagement in virtuellen Räumen und dessen Untersuchung1

Lena Lang

ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung, Heft 2-2021, S. 187-206.

 

Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt, wie Männer und Jungen mit Essstörungen in einer Onlinecommunity die durch die intersektionale Verschränkung der sich gegenseitig beschädigenden (bzw. ausschließenden) Kategorien ‚Männlichkeit‘ und ‚Essstörung‘ entstehende prekäre soziale Identität kollektiv bearbeiten und durch verschiedene kommunikative Muster stabilisieren und normalisieren. Dabei wird diskutiert, wie eine an Gattungsanalyse und Membership-Categorization-Analysis nach Harvey Sacks angelehnte Methode zur Untersuchung solcher Prozesse des Identitätsmanagement in virtuellen Räumen genutzt werden kann.

Schlagwörter: Kategorisierung, Stigma, Gattungsanalyse, Membership-Categorization-Analysis, Essstörung, Männlichkeit

 

„Fragile masculinity“ online. Analyzing Identity Management in virtual spaces

Abstract
Eating disorders are often perceived as ‚feminine disorders‘ by laymen and medical professionals alike. As a result, men with eating disorders face misdiagnosis or feminization. This article explores how an online forum enables men with eating disorders to deal with the seemingly mutually exclusive categorizations ‚masculinity‘ and ‚person affected by an eating disorder‘ and how they use communicative patterns to stabilize and normalize their precarious social identities. The paper discusses how membership categorization analysis and genre analysis can be utilized to explore those and similar cases of identity management online.

Keywords: categorization, stigma, genre analysis, membership categorization analysis, eating disorder, masculinity

 

1 Essstörungen als Krisensituation verkörperlichter Männlichkeit und ihre Bearbeitung online

Thread: fragile masculinity
#1: I feel like less of a man for having an eating disorder. I‘m supposed to be tough shit but whenever something happens I just skip a few meals instead of being a man and talking about it. Dunno, anyone else feel like this?

In diesem Beitrag, der nur einer von vielen aus einem an Männer adressierten Subforum einer Pro-Ana-Community2 ist, sucht ein Nutzer Zuspruch aufgrund seiner als fragil empfundenen Geschlechtsidentität. Der Nutzer sieht sich selbst an den mit der Kategorie ‚Mann‘ verbundenen Erwartungen scheitern, da er anstatt Probleme auszudiskutieren mit Nahrungsverzicht reagiere. „Being a man“ und die Essstörung werden dabei als einander ausschließende Kategorisierungen konstruiert.

Abschließend wendet er sich an die anderen Nutzer im Forum und lädt diese zur Erzählung eigener Erfahrungen ein – zugleich aber auch zur Umdeutung und Versöhnung der widersprüchlichen Zugehörigkeitskategorien.

Dieser Artikel zeigt, wie Nutzer sich kollektiv gegenseitig sowohl ihrer männlichen Geschlechtsidentität als auch ihrer rechtmäßigen Betroffenheit von Essstörungen versichern und wie derartige Prozesse des Identitätsmanagements in virtuellen Räumen durch Gattungsanalyse und Membership-Categorization-Analysis untersucht werden können. Der Fokus liegt dabei auf der in Deutschland weniger bekannten Kategorisierungsanalyse.

Essstörungen gelten als ‚Frauenkrankheiten‘ und sind stark weiblich konnotiert. Die Vorstellung der ‚Frauenkrankheit Magersucht‘ prägt sowohl Alltagswissen als auch den medizinisch-psychologischen Fachdiskurs: So wird das Auftreten von Essstörungen bei Männern durch eine diesen zugeschriebene Homosexualität erklärt (Murray/Touyz 2012, S. 229; Strother et al. 2014, S. 15) oder aber durch die ‚Weiblichkeitshypothese‘, die schlankheitsorientierte Essstörungen mit ‚stereotyp femininen Eigenschaften‘ verbindet (Murray/Touyz 2012, S. 230; Strother et al. 2014, S. 16). Diese Stereotypen haben konkrete Folgen: Betroffene Männer werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit behandelt (Zhang 2014) und berichten von Fehldiagnosen und Diskriminierung durch medizinisches Fachpersonal (Räisinen/Hunt 2014; Robinson/Mountford/Sperlinger 2012). Da sich die Betroffenen auf lange Sicht zudem die ‚materielle Basis‘ einer erfolgreichen Darstellung von (muskulöser, ‘fitter‘ (Meuser 2014, S. 75–76)) Männlichkeit entziehen, wird die Krankheit zur Krisensituation verkörperter Männlichkeit.

Eine Möglichkeit diese Krisensituation zu bearbeiten bieten Online-Communities. Während Pro-Ana-Foren einerseits zurecht dafür kritisiert werden, die Krankheit ihrer Mitglieder zu verstärken, zeigen Untersuchungen, dass diese digitalen Räume als Rückzugsorte für Betroffene zugleich wichtige Funktionen erfüllen (u.a. Crowe/Watts 2016). Diesen ‚loner deviants‘, die in der physischen Materialität des Alltags ihre abweichenden Körper und die damit einhergehende Normverletzung nicht verbergen können (Smith/Wickes/Underwood 2015, S. 952), ermöglichen Cybercommunities die Bedeutung ihrer Krankheit und ihrer Praktiken gemeinsam neu zu konstruieren und somit alternative Subjektpositionen zum pathologisierenden medizinischen Diskurs zu schaffen (Day/Keys 2008). Im Anschluss an dieses Verständnis von Pro-Ana-Foren als „safe space for identity management“ (Smith/Wickes/Underwood 2015, S. 951) werden im vorliegenden Artikel anhand einer Fallstudie in einem Forum für Männer mit Essstörungen kommunikative Strategien aufgezeigt, die darauf abzielen die Spannung zwischen der ‚weiblichen‘ Krankheit, dem von ihr hervorgebrachten ‚falschen‘ Körper und ihrer ‚männlichen‘ Geschlechtsidentität zu lösen.

Zur Untersuchung dieser kommunikativen Praktiken schlage ich ein Vorgehen vor, dass die ethnomethodologische Membership-Categorization-Analysis (MCA) durch die Gattungsanalyse ergänzt. Dies kann darüber Aufschluss geben, wie Betroffene stigmatisierter Krankheiten online alternative Identitätskonstruktionen und Selbstbeschreibungen aushandeln und einüben. Hierfür werde ich eine Heuristik sich gegenseitig beschädigender Kategorisierungen entwickeln, die den der MCA zugrunde liegenden Begriff der Kategorisierung mit Erving Goffmans Stigmatheorie verknüpft (2), und anschließend in MCA und Gattungsanalyse einführen, sowie deren Anwendung auf Onlinekontexte diskutieren (3). Danach werde ich das Verfahren am Material vorführen, wobei ein besonderer Fokus auf der Umdeutung von Kategorisierungen mithilfe von „second stories“ (Sacks 1992, S. 764ff.) liegt (4). Im Anschluss werden die Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt und aufgezeigt, wie im untersuchten Forum durch komplexe kommunikative Muster Männlichkeitskonstruktionen und Umdeutungen von Kategorisierungen hervorgebracht und verfestigt werden (5). Abschließend werden Ergebnisse und methodisches Vorgehen im Hinblick auf die Untersuchung von Online-Communities Betroffener von Krankheiten mit Stigmatisierungspotential, bzw. virtueller Kommunikationsformate im Allgemeinen diskutiert (6).

2 Stigmata und Kategorisierungen

Nach Goffman kann jedes Individuum einer Kategorie zugeordnet werden, die mit einem Set an Attributen verknüpft ist (Goffman 2018, S. 9f.). Diese „soziale Identität“ wird im Moment des Zusammentreffens antizipiert und kann im Verlauf der Begegnung erfüllt, bzw. bestätigt werden. In diesem Fall wird sie von einer Zuschreibung, der „virtuale[n] soziale[n] Identität“, zu der bewiesenen „aktuale[n] sozialen Identität“ (ebd., S. 10). Dabei kann jedoch geschehen, dass in der Interaktion ein Attribut zutage tritt, das eine „Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“ herbeiführt und ihre*n Träger*in ‚befleckt‘. Für diese Eigenschaft verwendet Goffman den Begriff Stigma, wobei die stigmatisierende Wirkung eines Attributes auch von der jeweiligen Kategorie abhängt (ebd., S. 11). Männliche Betroffene von Essstörungen werden hier aus einer intersektionalen Perspektive als auf mehrere Weisen stigmatisiert verstanden: Erstens als ‚psychisch Kranke‘/ ‚Süchtige‘, die durch das Attribut Essstörung von den ‚Normalen‘/‚Gesunden‘ unterschieden werden, zweitens befleckt jedoch das Merkmal Essstörung durch die weibliche Konnotation desselben auch die Kategorie ‚Mann‘ und letztendlich diskreditiert wiederum die männliche Geschlechtsidentität die ‚rechtmäßige‘ Beanspruchung der sozialen Kategorisierung als ‚Betrofffene*r von Essstörungen‘. Diese miteinander verschränkten und zugleich widersprüchlichen Wirkrichtungen beschädigter Kategorisierungen führen, wie die folgende Analyse zeigt, zu ambivalenten Umgangsstrategien und (Selbst-)bezeichnungen.

Sacks (1992) prägte das Konzept des Membership Categorization Device (MCD), das ähnlich wie Goffmans soziale Identität auf der Einordnung von Personen mittels Kategorien beruht. Das MCD umfasst eine Kollektion zueinander passender Kategorien, Regeln zu deren Anwendung auf Personen (ebd., S. 246) sowie mit diesen Kategorien verbundene Aktivitäten (Category-bound activities) die diese ‚Kategorie Mensch‘ ‚tut‘ (ebd., S. 248). Das MCD enthält Alltagserklärungen des Typus: ‚Personen der Kategorie X führen Handlung Y durch‘. Die Aussage ‚Muslim begeht Terroranschlag‘ erscheint leider vielen Leser*innen als nicht sonderlich erklärungsbedürftig, während ‚Zoowärterin begeht Terroranschlag‘ für Irritationen sorgen dürfte. Ähnlich scheint es sich mit den Aussagen ‚Eine 14-jährige Schülerin ist magersüchtig‘ und ‚Ein 40-jähriger Busfahrer ist magersüchtig‘ zu verhalten. Da Personen einer Vielzahl an Kategorien verschiedener Kollektionen zugeordnet werden können, gilt es die Wahl einer Kategorie in einer Situation zu untersuchen (ebd., S. 41). Diese wird auch durch den situativen Kontext bestimmt. Sacks geht davon aus, dass in vielen Settings ein Kategorienset höchste Priorität hat (ebd., S. 313). Kategorisierungen sind Basis sozialer Kontrolle, gleichzeitig bergen sie aber auch Potential für subversives Handeln. Dieses arbeitet Sacks vor allem an Transkripten von Therapiesitzungen einer Gruppe Jugendlicher heraus. Diese nutzen dabei Cover, um die für sie peinliche Situation umzudeuten, indem die im Setting erforderte Kategorie ‚Patient*in‘ mit der Kategorie ‚Teenager‘ ‚verdeckt‘ wird – hierzu müssen allerdings auch die entsprechenden category-bound activities entweder bereits zum gewählten Cover passen oder aber ebenfalls als eine andere Kategorie maskiert werden können (ebd., S. 317).

Obwohl Sacks Sex als „two-set class“ (ebd., S. 47) abhandelt (und Gender nicht erwähnt), eignet sich seine Perspektive auf Kategorisierungs- und Bezeichnungsprozesse zur Untersuchung der kollektiven Konstruktion essgestörter Männlichkeit im untersuchten Forum. Männlichkeit soll im Anschluss an Raewyn Connell (2015) als prozedural und relational verstanden werden. Geschlechtlichkeit wird dabei als aktive, wenn auch nicht immer bewusste, Auseinandersetzung ihrer Träger*innen mit bestehenden Situationen verstanden. Verschiedene Konfigurationen von Praktiken konstituieren multiple, in Relation zueinander stehende Männlich- und Weiblichkeiten (ebd., S. 130ff.). Während Connell unter diesem Begriffsverständnis die verkörperte Geschlechtspraxis einzelner Individuen betrachtet, soll an dieser Stelle die kommunikative Aushandlung des Geschlechtsverständnis im Forum als ‚kollektives Geschlechterprojekt‘ der Mitglieder untersucht werden. Der Körper ist hierbei zwar Kommunikationsgegenstand, jedoch nicht selbst kommunizierendes Medium der Darstellung von Geschlecht.

Zur Untersuchung dieser Aushandlungsprozesse schlage ich vor, die auf dem Kategorisierungsbegriff von Sacks aufbauende Membership-Categorization-Analysis durch gattungsanalytische Verfahren zu ergänzen. Beide Ansätze haben für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand Schwächen, ergänzen sich jedoch und lassen sich verknüpfen, wie im Folgenden erläutert wird.

1 Ich danke den Gutachter*innen dieser Ausgabe und Prof. Heike Greschke für die konstruktive Kritik meines Manuskripts sowie Dr. Sarah Hitzler und den Teilnehmer*innen des Forschungskolloquiums Qualitative Methoden der TU Dresden für die anregende Diskussion meines Materials.
2 ‚Ana‘ steht hier als Abkürzung für Anorexie, die Vorsilbe ‚Pro-‘ für z.T. eine vorurteilsfreie Haltung gegenüber Betroffenen von Essstörungen, z.T. für ein explizites Gutheißen der Essstörungen selbst (Crowe/Watts 2016, S. 380).

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