„Sowohl beim gewaltbereiten Islamismus als auch beim Rechtsextremismus spielen überhöhte Vorstellungen von stereotyper Männlichkeit eine Rolle” – Interview mit den Herausgeber*innen des „Handbuchs Radikalisierung im Jugendalter”

 

Handbuch Radikalisierung im Jugendalter. Phänomene, Herausforderungen, Prävention

herausgegeben von Björn Milbradt, Anja Frank, Frank Greuel und Maruta Herding

 

 

 

Über das Handbuch

Prozesse der Radikalisierung hin zum gewaltorientierten Extremismus stellen eine der großen Herausforderungen für demokratische Gesellschaften dar. Das Buch versammelt Beiträge von Expert*innen der Forschung zu und Prävention von Radikalisierung im Jugendalter. Thematisiert werden die unterschiedlichen Phänomene Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus und Linksextremismus mit besonderem Bezug auf jugendspezifische Aspekte. Der Sammelband bietet eine problemorientierte Aufbereitung des Forschungsstandes und eine Grundlage für die Praxis der Radikalisierungsprävention.

Liebe Herausgeber*innen, das Handbuch Radikalisierung im Jugendalter nimmt sich Radikalisierungsprozessen im Hinblick auf ihre jugendphasenspezifischen Besonderheiten an. Was für Beiträge umfasst das Handbuch?

Das Handbuch wendet sich Formen von politisch-weltanschaulichem Extremismus im Jugendalter zu, mit einem Fokus auf junge Menschen: Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus. Nach einführenden Beiträgen zur Ideologie dieser Phänomene folgen Texte zu einzelnen Aspekten, die in Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen in der Jugendphase eine wichtige Rolle spielen wie Peergroups und Jugendkulturen, geschlechtsspezifische Aspekte sowie die Bedeutung von Gewalt. Dass es in diesem Teil nur um Rechtsextremismus und Islamismus geht, bildet den Forschungsstand ab – zu diesen beiden Phänomenen findet deutlich mehr Forschung statt als zu Radikalisierungsprozessen im linksextremen Spektrum. Auf die phänomenbezogenen Kapitel des Bandes folgt ein Teil zur pädagogischen Praxis mit jungen Menschen in der Auseinandersetzung mit den drei Phänomenen. Diese Beiträge analysieren die jeweiligen Präventionslandschaften im Spannungsfeld fachlicher Herausforderungen und gesellschaftlicher Erwartungen. Gerahmt wird der Band durch eine Einleitung und ein Resümee von uns Herausgeber*innen – eingangs nehmen wir Begriffsklärungen etwa von Radikalisierung und Adoleszenz vor, abschließend ziehen wir einen Vergleich zwischen den Phänomenen mit ihren jeweiligen Forschungsständen und identifizieren Forschungsbedarfe.

 

Hatten Sie beim Schreiben und Editieren eine bestimmte Zielgruppe vor Augen? An wen richtet sich die Publikation?

Die Beiträge des Handbuchs richten sich zum einen an ein wissenschaftliches Publikum und sollen zur Erweiterung des Wissens- und Forschungsstands zu Radikalisierung im Jugendalter beitragen. Zum anderen können die Erkenntnisse ebenso für Fachkräfte der pädagogischen Praxis relevant sein. Neben (Sozial-)Pädagog*innen sind aber auch andere praxisnahe Zielgruppen wie jugend- oder sicherheitspolitische Akteur*innen eingeladen, den Band für ihre Arbeit zu nutzen.

 

Sie thematisieren unter anderem die unterschiedlichen ideologischen Dimensionen von Rechtsextremismus, islamistischem Extremismus und Linksextremismus. Unterscheiden sich diese in ihrer Attraktivität für Jugendliche?

Die drei Phänomene haben gemeinsam, dass sie jeweils sehr heterogene ideologische Ausprägungen haben. Jugendliche suchen sich häufig die Versatzstücke heraus, die aus ihrer lebensweltlichen Perspektive in einer bestimmten Lebensphase gerade relevant sind, beispielsweise um Herausforderungen in der Jugendphase zu bewältigen. So können manche muslimischen Jugendliche beispielsweise eine islamistische Ideologie als Gegenkultur zur als diskriminierend erfahrenen Gesellschaft verstehen. Beim Rechtsextremismus gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Gruppenzugehörigkeit und Gewalthandeln, und für manche jungen Menschen kann es attraktiv sein, Teil einer gewaltbereiten Peergroup zu sein, deren Taten durch rechtsextreme Ideologie legitimiert werden. Zudem spielen sowohl beim gewaltbereiten Islamismus als auch beim Rechtsextremismus überhöhte Vorstellungen von stereotyper Männlichkeit eine Rolle; überhaupt sind sich diese beiden Phänomene in Hinblick auf bestimmte Aspekte ähnlich. Was Radikalisierung im linksextremen Bereich anbelangt, sprechen Ideologie und Gewalthandeln wieder ganz andere junge Menschen an. Häufig geht es dort zunächst um Themen wie Antirassismus oder soziale Gerechtigkeit, problematisch wird es aber bei Ausprägungen wie Antisemitismus oder Gewaltlegitimation.

 

Welche Herausforderungen ergeben sich in Hinblick auf aktuelle Radikalisierungstendenzen für die sozialwissenschaftliche Forschung, welche für die Praxis der Prävention?

Aktuell stellen die Querdenken-Bewegung und die sich dort sammelnden Personen, die die Corona-Pandemie leugnen, ein Phänomen dar, das noch der Erforschung bedarf. Denn hier vermischen sich unterschiedlichste Milieus und Ideologien – von esoterischen bis rechtspopulistischen und rechtsextremen – zu einer bisher eher unerwarteten Allianz. In Teilen hat offenbar bereits eine Radikalisierung hin zu expliziter Gewaltandrohung und tatsächlicher Gewaltausübung stattgefunden. Was wir bisher wenig wissen ist, welchen Stellenwert, welche Attraktivität dies alles für junge Menschen hat.

Ein anderes Phänomen sind Ausreisen junger Menschen in Kriegsgebiete, um dort in terroristischen Gruppierungen mitzukämpfen. Die Ausreisebewegungen zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien und in den Irak haben weitgehend aufgehört. Derzeit gibt es aber beispielsweise Informationen über Rechtsextreme, für die der Krieg in der Ukraine eine erhebliche Anziehungskraft hat.

Auf alle neuen Phänomene muss auch die pädagogische Praxis reagieren. Dabei gilt es, neue Entwicklungen gerade auch in ihrer Bedeutung für junge Menschen zu verstehen, nicht zuletzt, um die relevanten Zielgruppen erreichen zu können. Parallel dazu stellt sich beispielsweise die Frage, welche bereits existierenden Präventionsansätze übertragbar sind und für welche neuen Phänomene neue Antworten gefunden und Gegenstrategien entwickelt werden müssen.

 

Darum sind wir Herausgeber*innen bei Budrich:

Teilweise haben wir bereits bei Budrich publiziert und gute Erfahrungen in der Betreuung von Autorinnen und Autoren und in der Zusammenarbeit mit dem Verlag gemacht. Mit soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Themen ist man außerdem hier in guter Gesellschaft, denn das Verlagsprogramm zeichnet sich durch eine Fokussierung auf diese Bereiche und relevante Publikationen zu gegenwärtigen Diskussionen aus.

 

Kurzvitae der Herausgeberinnen in eigenen Worten

 

Björn Milbradt, Dr. phil., ist Soziologe und leitet seit Herbst 2016 die Fachgruppe „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ am Deutschen Jugendinstitut in Halle/Saale. Dort wird in zwei Projekten – der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention sowie der Evaluation des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ – zu Aspekten von Radikalisierungsprozessen wie auch zur (sozial-)pädagogischen Fachpraxis von Extremismusprävention, Demokratieförderung und politischer Bildung geforscht. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen insbesondere im Bereich der Radikalisierung(sprävention) und Evaluation und auf Prozessen politischer Sozialisation: wie sie gelingen, warum sie scheitern, ob und wie man sie befördern kann. Zuletzt von ihm bei Budrich erschienen ist die Monographie „Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen‘ Zeiten“.

Anja Frank, Dr. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet am Deutschen Jugendinstitut in der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte „Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ im Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Zuvor untersuchte sie Radikalisierungsprozesse junger Menschen im Feld des Islamismus mithilfe biografieanalytischer Methoden. Zu ihren Schwerpunkten zählen Kultursoziologie, Religions- und Musiksoziologie, religiös-weltanschaulicher Extremismus und jugendliche Lebenswelten sowie rekonstruktive Methoden der Sozialforschung.

Frank Greuel, Dr. rer. pol., ist Erziehungswissenschaftler und Projektleiter der „Programmevaluation Demokratie leben!“ am Deutschen Jugendinstitut in Halle/Saale. Sein Interesse gilt insbesondere der (politischen) Sozialisation von jungen Menschen und Fragen der Normativität und Ethik in der Pädagogik.

 

 

Dr. Maruta Herding ist Soziologin und seit 2011 am Deutschen Jugendinstitut tätig. Dort arbeitet sie in der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte für „Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. In ihrer Forschung widmet sie sich Fragen der Entstehung von politisch-weltanschaulichem Extremismus im Jugendalter, Jugendkulturen muslimischer Jugendlicher sowie Möglichkeiten und Herausforderungen pädagogischer Prävention, gerade auch in herausforderungsvollen Settings wie dem Gefängnis.

 

 

Der Titel in unserem Shop

Handbuch Radikalisierung im Jugendalter. Phänomene, Herausforderungen, Prävention

herausgegeben von Björn Milbradt, Anja Frank, Frank Greuel und Maruta Herding