Unterschiedliche Erwerbschancen für Geringqualifizierte in der Schweiz

Industrielle Beziehungen. Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management 3-2021: Der ungleiche Wert geringqualifizierter Arbeit. Erwerbschancen in der Bau- und Reinigungsbranche

Der ungleiche Wert geringqualifizierter Arbeit. Erwerbschancen in der Bau- und Reinigungsbranche*

Anna Gonon, Anna John**

Industrielle Beziehungen. Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management, Heft 3-2021, S. 260-282

 

Zusammenfassung: Fehlende formale Qualifikationen wirken sich negativ auf Erwerbschancen aus, insbesondere für Frauen. Während die Forschung bisher vor allem makrostrukturelle Faktoren beleuchtete, nimmt dieser Beitrag die Mesoebene in den Blick und fragt danach, wie die Erwerbschancen Geringqualifizierter durch branchenspezifische Formen der Beschäftigung und Arbeitsorganisation beeinflusst werden. Durch den Vergleich zweier geschlechtersegregierter Branchen, dem Bau- und Reinigungsgewerbe in der Schweiz, wird aufgezeigt, wie Systeme der kollektiven Lohnverhandlung, Strategien des Personaleinsatzes sowie Regeln und Praktiken der Beförderung und Weiterbildung zu ungleichen Erwerbschancen beitragen. Analytisch knüpft der Artikel an die Theorie der Unterschätzung von Frauenarbeit an und konzipiert Erwerbschancen als Resultat unterschiedlicher Konstruktionen des Werts von Arbeit. Als empirische Grundlage dienen qualitative Interviews mit Arbeitgebenden, geringqualifizierten Arbeitskräften und Gewerkschaftsvertretern. Zudem wurden die Kollektivverträge der beiden Branchen analysiert. Der Fokus liegt auf Generalunternehmen der Baubranche und auf der Unterhaltsreinigung. Während sich Erstere durch hohe Mindestlöhne sowie institutionalisierte Aufstiegsmöglichkeiten auszeichnen, ist Letztere durch niedrige Löhne, Unterbeschäftigung und mangelnde Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung geprägt. Der Beitrag belegt die Vielschichtigkeit der Faktoren, die auf der Ebene von Branchen und Betrieben die Erwerbschancen von Geringqualifizierten beeinflussen.

Schlagwörter: Geringqualifizierte Arbeitskräfte, Arbeitsmarktchancen, Geschlecht, Beschäftigungspraktiken, branchenspezifische Regulierung

 

The unequal value of low-skilled work. Employment opportunities in the construction and the cleaning sector

Αbstract: The lack of formal qualification has a negative impact on employment opportunities, especially for women. While previous research has highlighted macro-level factors, this paper focuses on the meso-level and asks how the employment opportunities of low-skilled workers are shaped by sector-specific forms of employment and work organization. Comparing two gender-segregated industries, the construction and the cleaning sector in Switzerland, it is demonstrated how systems of wage setting, strategies of personnel deployment, rules and practices of promotion as well as further education contribute to unequal employment opportunities. Analytically, the article draws on the concept of undervaluation of women’s work and considers employment opportunities as the result of different constructions of the value of work. Empirically, the article is based on qualitative interviews with employers, low-skilled workers, and union representatives. In addition, the collective agreements of the construction and cleaning sector have been analyzed. The focus is on general contractors in the construction industry and on maintenance cleaning in the cleaning industry. While the former are characterized by high minimum wages and institutionalized opportunities of career advancement, low wages, underemployment, and scarce opportunities of career advancement prevail in the latter. The article shows how complex factors at the sector and firm level have an impact on the employment opportunities of low-skilled workers.

Keywords: Low-skilled workers, labour market opportunities, gender, employment practices, sector-level regulation. JEL: J81, L74, L84, J50, L50, J16, J31

 

1 Einleitung

Geringqualifizierte Arbeitskräfte sind im Arbeitsmarkt westlicher Industrieländer benachteiligt.1 Sie haben im Vergleich zur restlichen Erwerbsbevölkerung ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko (Oesch, 2010), ihre Erwerbsverläufe sind instabiler (Giesecke & Heisig, 2010) und ihr sozio-ökonomischer Status ist geringer (Gesthuizen, Solga, & Künster, 2011). Solga (2005) führt die Benachteiligung Geringqualifizierter auf Prozesse der Verdrängung und Diskreditierung zurück. Während mit der Bildungsexpansion die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte zunahm, ging gleichzeitig die Zahl der Jobs ohne formale Qualifikationsanforderungen zurück – ohne jedoch ganz zu verschwinden, wie Oesch und Murphy (2017) für die Schweiz zeigen. Geringqualifizierte wurden teilweise durch ausgebildete Arbeitskräfte ersetzt. Je geringer der Anteil Personen ohne formale Qualifikation in einer Gesellschaft, desto stärker wird eine fehlende Ausbildung als Signal für fehlende Kompetenzen und mangelnde Lernfähigkeit gewertet (Gesthuizen, Solga, & Künster, 2011) und desto mehr werden Geringqualifizierte als nicht beschäftigungsfähig stigmatisiert (Krenn, 2015).

Die Nachteile im Arbeitsmarkt sind jedoch nicht für alle Geringqualifizierten gleich ausgeprägt. So ergab sich mit dem Wegfallen gut bezahlter Jobs in der Industrie und der Deregulierung von Arbeitsmärkten eine zunehmende Polarisierung der Erwerbschancen für Geringqualifizierte (Giesecke, Heisig, & Solga, 2015). Außerdem bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede. In der Schweiz, auf die sich die empirischen Analysen des vorliegenden Artikels beziehen, lag der Medianlohn geringqualifizierter Männer im Jahr 2018 fast 20 Prozent höher als derjenige von geringqualifizierten Frauen (BFS, 2020a). Zudem sind Frauen stärker von Unterbeschäftigung betroffen (BFS, 2020b). Solga (2005) führt die geringeren Erwerbschancen von geringqualifizierten Frauen u. a. auf stärkere Verdrängungseffekte in den weiblich geprägten Arbeitsmarktsegmenten zurück sowie auf eine zusätzliche Diskreditierung von Frauen als „körperlich schwach“ und unflexibel (Solga 2005, S. 256).

In den Erklärungsansätzen der ungleichen Erwerbschancen dominieren makrostrukturelle Faktoren wie die gesellschaftliche Verteilung und Bewertung von Bildungsabschlüssen, Strukturwandel und staatliche Deregulierung. Die konkrete Ausgestaltung von Erwerbschancen hängt aber, wie wir in diesem Beitrag argumentieren, auch von Bedingungen auf der Meso-Ebene ab, etwa branchenspezifischen Formen der Beschäftigung und Arbeitsorganisation. So dürften die geschlechtsspezifischen Unterschiede der Erwerbschancen Geringqualifizierter mit den unterschiedlichen Bedingungen in weiblich bzw. männlich geprägten Branchen zusammenhängen. Nach wie vor besteht eine starke Geschlechtersegregation des Arbeitsmarktes (Levanon & Grusky, 2016): Frauen sind vermehrt in niedrigen beruflichen Positionen vertreten (vertikale Segregation) und die Geschlechter konzentrieren sich in spezifischen, weiblich bzw. männlich geprägten Arbeitsmarktsegmenten (horizontale Segregation). Die horizontale Geschlechtersegregation ist in manuellen Anlerntätigkeiten besonders ausgeprägt (Ness, 2012; Bradley, 2016, S. 23–24). Frauen sind im Dienstleistungssektor übervertreten, der besonders von Niedriglohnarbeit sowie atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen ist (Charles &Grusky, 2004; Bosch&Weinkopf, 2011).

Promberger, Wenzel, Pfeiffer, Hacket und Hirseland (2008) schlagen vor, Beschäftigungschancen im Kontext von institutionellen Bedingungen wie Ausbildungsordnungen, Weiterbildungsförderung, Tarifnormen sowie Praktiken der Beschäftigung und der Arbeitsorganisation zu analysieren – also im Kontext von Faktoren, die oftmals auf der Ebene von Branchen oder Betrieben geregelt sind. Wir greifen diese Perspektive in unserem Beitrag auf und fragen danach, wie die Erwerbschancen Geringqualifizierter durch branchenübliche Formen von Beschäftigung und Arbeitsorganisation beeinflusst werden. Anhand der Gegenüberstellung einer typischen Männer- und einer typischen Frauenbranche – dem Bau- und dem Reinigungsgewerbe – zeigen wir auf, wie Erwerbschancen durch Strukturen und Praktiken auf der Ebene von Branchen und Betrieben mithervorgebracht werden. Der Fokus unserer empirischen Analysen liegt auf zwei Teilbranchen, die bezüglich Erwerbschancen einen maximalen Kontrast bilden: Generalunternehmen der Baubranche und Unterhaltsreinigung in Gebäuden und Privathaushalten. Anknüpfend an die in der Geschlechterforschung diskutierte These der Entwertung von Frauenarbeit gehen wir davon aus, dass der Wert von „Männer-“ bzw. „Frauenarbeit“ ungleich konstruiert wird und dass sich dieser Prozess auch auf der Ebene von Branchenorganisationen und Betrieben vollzieht. Wir verwenden einen breiten Begriff von Erwerbschancen, der sowohl die Chancen auf eine stabile Beschäftigung, die erzielbaren Einkommen, wie auch die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung von Fähigkeiten und des Aufstiegs in höhere berufliche Positionen umfasst. Nach unserem Verständnis sind Erwerbschancen relativ zum Lebensstandard im Wohnland, weshalb wir den Fokus auf Arbeitnehmende mit Wohnsitz in der Schweiz legen.2

Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: in Teil 2 fassen wir einige Befunde zur Bau- und Reinigungsbranche zusammen. In Teil 3 führen wir die These einer geschlechtsspezifischen Konstruktion des Werts von Arbeit ein. In Teil 4 geben wir einen Überblick über unsere Daten und Methoden. In Teil 5 und Teil 6 stellen wir die empirischen Ergebnisse zu den Erwerbschancen in Bau- und Reinigungsbranche vor. In Teil 7 diskutieren und vergleichen wir die Ergebnisse und formulieren ein Fazit.

2 Das Baugewerbe und die Reinigungsbranche im Vergleich

Das Baugewerbe ist in westlichen Ländern hauptsächlich durch Männer geprägt (Agapiou, 2002; Ness, 2012; Pink, Tutt, & Dainty, 2013). In der Reinigungsbranche sind Frauen in der Unterhaltsreinigung übervertreten, welche den größten Anteil der Branche ausmacht (Sardadvar, 2016). Männer sind hingegen übervertreten in Tätigkeiten der Spezialreinigung und Hausmeisterdiensten, die als körperlich oder technisch anspruchsvoller gelten und besser bezahlt werden (Schürmann, 2013; Soni-Shina & Yates, 2013; Sardadvar, Kümmerling, & Peycheva, 2015). Die Reinigungsarbeit von Angestellten in Privathaushalten wiederum ist fast ausschließlich durch Frauen geprägt (Avril & Cartier, 2014; Bowman & Cole, 2014).3

Der Vergleich von Bau- und Reinigungsbranche bietet sich aufgrund von Gemeinsamkeiten an: in beiden Branchen finden Stellensuchende ohne formale Qualifikationen leicht Arbeit. In Einstiegspositionen sind oft noch keine Kenntnisse der lokalen Sprache verlangt, weshalb sie gerade für Migrantinnen und Migranten ohne anerkannte Berufsabschlüsse zugänglich sind. In westeuropäischen Ländern sind beide Branchen durch migrantische Belegschaften geprägt (Fellini, Ferro, & Fullin, 2007; Holtgrewe & Sardadvar, 2012, S. 15), so auch in der Schweiz (Nguyen & Jaberg, 2017). Für die Erwerbschancen Geringqualifizierter stellt neben dem Geschlecht auch der Migrationshintergrund ein relevantes Strukturierungsmerkmal dar (Herwig, 2017). Da migrantische Belegschaften in der Bau- und Reinigungsbranche in gleichem Masse vertreten sind, steht diese Dimension jedoch nicht im Fokus des Branchenvergleichs.

Trotz ähnlich niedriger Einstiegshürden für Geringqualifizierte bieten die beiden Branchen unterschiedliche Erwerbschancen: Die Reinigungsbranche ist für die Verbreitung atypischer Arbeitsverhältnisse und prekärer Bedingungen bekannt, die sich infolge der Auslagerung von Reinigungsdiensten an private Unternehmen in den letzten Jahrzehnten noch verschärft haben (Tschannen, 2003; Mayer-Ahuja, 2004; Herod & Aguiar, 2006; Benelli, 2011; Sardadvar, 2019). Das Baugewerbe gilt dagegen als Branche, die geringqualifizierten Arbeitskräften immer noch vergleichsweise stabile Beschäftigungsverhältnisse bietet (Holtgrewe & Sardadvar, 2012, S. 104), auch wenn in jüngerer Zeit eine Fragmentierung in Kernbelegschaften mit guten Bedingungen und Randbelegschaften mit prekären Arbeitsbedingungen konstatiert wird (Hellmann-Theurer, 2013), z. B. in der Leiharbeit oder in Subunternehmen.

* Artikel eingegangen: 04. 02. 2021. Revidierte Fassung akzeptiert nach doppelt-blindem Begutachtungsverfahren: 12. 08. 2021.
** Anna Gonon, Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Riggenbachstrasse 16, CH-4600 Olten. E-Mail: anna.gonon@fhnw.ch / Anna John, Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Riggenbachstrasse 16, CH-4600  Olten. E-Mail: anna.john@fhnw.ch

1 Unter geringqualifizierten Arbeitskräften verstehen wir in diesem Beitrag Personen ohne einen in der Schweiz anerkannten Bildungsabschluss auf Niveau Sekundarstufe II (höchster Bildungsabschluss ISCED 0–2). Einige dieser Personen haben Bildungsabschlüsse auf dieser oder sogar höherer Stufe im Ausland erworben, die von Arbeitgebenden in der Schweiz jedoch nicht anerkannt werden.
2 Dies schließt ausländische Arbeitskräfte mit einer Arbeitsbewilligung mit ein, jedoch nicht meldepflichtige Kurzaufenthalterinnen und Kurzaufenthalter oder Grenzgängerinnen und Grenzgänger.
3 Reinigungsarbeit als Angestellte in Privathaushalten wird in der Statistik nicht als Teil des Wirtschaftszweigs Reinigung betrachtet. Da die Anstellung in Privathaushalten aber aus der Perspektive der Arbeitskräfte eine relevante Erwerbsmöglichkeit darstellt, argumentieren wir mit einer erweiterten Definition der Reinigungsbranche, die diesen Bereich miteinschließt.

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