Zum Umgang mit Ungewissheit in Unterrichtsnachbesprechungen

Startpositionen auf einer Rennstrecke

„Unter uns Sportlern …“ – Fachdidaktische Überlegungen zu Gewissheitskonstruktionen in Unterrichtsnachbesprechungen des Praxissemesters Sport

Matthias Schierz, Hilke Pallesen

ZISU – Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung, Heft 10 (2021), S. 84-98

 

Zusammenfassung

Ausgehend von der ‚black box‘, als die die Praxis der Lehrerbildung trotz eines gesteigerten Forschungsinteresses immer noch bezeichnet werden muss, diskutiert der vorliegende Beitrag den Umgang mit Ungewissheit in Unterrichtsnachbesprechungen aus fachdidaktischer und professionstheoretischer Perspektive. Dabei geht es nicht nur um die Reflexionsformate der Erfahrungen mit unterrichtlicher Kontingenz, sondern v. a. um die Gewissheitskonstruktionen und Ungewissheitsschließungen der begleitenden Mentorinnen und Mentoren in diesen Gesprächen. Im Fokus steht dabei eine zentrale Herausforderung professionellen Handelns, und zwar die der antinomisch strukturierten Sachvermittlung und der hieraus resultierenden Beteiligungsungewissheit. Mit der Frage, wie diese Herausforderungen zwischen Mentorinnen und Mentoren sowie Studierenden im fachspezifischen Kontext des Schulfachs Sport verhandelt werden, wird anhand der Rekonstruktion und Problematisierung eines Fallbeispiels die Bedeutsamkeit des vorreflexiven fachkulturellen Selbstverständnisses als Orientierungsrahmen der Konstruktion von fachdidaktischer Gewissheit aufgezeigt.

Schlagwörter: Lehrerbildung, Professionalisierung, Beteiligungsungewissheit, Schüleraktivierung, Dokumentarische Methode

 

“Just between us, as athletes …” – Subject Specific Considerations on Constructions of Certainty in Lesson Reflections During PE Internships at University

Starting from the ‚black box‘, as which the practice of teacher education must still be described despite an increased interest in research, this article discusses the individual handling of uncertainty in lesson debriefings from the perspectives of subject specific education and teacher growth. The focus is not only on the formats of reflection of experiences with uncertainty in the classroom, but also on the constructions of certainty and closures of uncertainty of the mentor-teachers in these discussions. The focus here is on a crucial challenge of professional action, namely the antinomically structured mediation of facts and the resulting uncertainty of participation. Our paper focusses the question of how these challenges are negotiated between mentor-teachers and student-teachers in the subject-specific context of the school subject PE. The reconstruction and problematization of a case study reveals the significance of the pre-reflexive subject-cultural self-image as a frame of orientation for the construction of didactic certainty.

Keywords: teacher education, professionalization, uncertainty of participation, student activation, documentary method

 

1 Black-boxes der Lehrerbildung

In der vergangenen Dekade hat die Gestaltung und Erforschung der ersten Phase der Lehrerbildung in den Fachdidaktiken, so auch in der Fachdidaktik Sport, erheblich an Relevanz gewonnen. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Förderlinie „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (vgl. Hartmann et al. 2019). Insbesondere in den qualitativen Studien zur Lehrerbildung tritt seitdem das alltägliche Geschehen in universitären Lehrveranstaltungen in den Fokus von Untersuchungen, die aus unterschiedlichen theoretischen und methodologischen Perspektiven die Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung in den Vermittlungs- und Aneignungsprozessen an Hochschulen analysieren und deuten (vgl. Führer 2020; Herzmann et al. 2019; Vogler, 2019; Artmann et al. 2018; Herzmann & Liegmann 2018; Pallesen et al. 2018). Dennoch gilt im Allgemeinen und für die Sportdidaktik im Besonderen immer noch die Feststellung, „dass es bislang nur wenige Untersuchungen gibt, die die ‚black box‘ der Praxis der universitären Lehrerbildung geöffnet haben“ (Herzmann et al. 2019: 3). Solche die ‚black box‘ öffnenden und in der Regel explorativen Studien richten ihre Aufmerksamkeit bevorzugt auf die Relationierung von akademischer und schulpraktischer Ausbildung in Veranstaltungen wie dem Praxissemester als einem dritten Raum der Professionalisierung von Lehrpersonen (vgl. Leonhard et al. 2016). Dessen geradezu flächendeckende Einführung schuf einen integralen Studienbestandteil, der den Hochschulalltag sowohl in programmatischer als auch in organisatorischer Hinsicht erheblich umstrukturierte (vgl. Weyland & Wittmann 2011). Nicht nur die Professionalisierung von Lehrkräften in Praxisphasen, sondern die „Professionalisierung der Praxisausbildung“ (Herzog & von Felten 2001) selbst wurde somit zu einem prominenten Thema, das nun schon über einen Zeitraum von nahezu zwanzig Jahren diskutiert wird. Im Zentrum dieser Diskussion steht die Frage, mit welchem Ziel, zu welchem Zweck und in welchen modi operandi Studierende sich allgemeinbildenden Unterricht als das Kerngeschäft der Institution Schule in Praxisphasen ihres Studiums erschließen sollen, um von einer professionalisierten Praxisausbildung sprechen zu können.

Die ‚black box‘, die wir vielleicht nicht vollständig öffnen, aber in die wir über explorative Studien zumindest Einblicke erhalten, beinhaltet v. a. implizite Wissensbestände von Mentorinnen und Mentoren über den Umgang mit Antinomien fachunterrichtlichen Handelns im Sport, die sich in Unterrichtsnachbesprechungen in Gewissheitskonstruktionen und modi operandi der Schließungen von Ungewissheit dokumentieren. Dabei fokussieren wir in diesem Beitrag die professionstheoretisch als „Sachantinomie“ (Helsper 2016) gedeutete Spannung zwischen einer Orientierung an der wissenschaftlichen Auffassung der Sache und einer Orientierung an den Relevanzsetzungen und Sinnkonstruktionen der Schülerinnen und Schüler. Das Wissen um die Sachantinomie wirft in der Antizipation fachunterrichtlicher Vermittlungsprozesse des Sportunterrichts enorme Ungewissheiten über das Aktivierungspotential des geplanten Unterrichts auf, zumal die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zur ‚Sache‘ Sport, aber auch ihre Interpretationen und Deutungen erheblich differieren können (vgl. Bähr et al. 2019; Lüsebrink & Wolters 2019, Regenbrecht et al. 2019). „Damit ist die Abstimmung der Deutungen und Sichtweisen zwischen den Akteuren und die Perspektivenverschränkung eine besonders herausfordernde und fragile Aufgabe für das professionelle Handeln“ (Helsper 2018: 130).

In den evaluativen Rückmeldungen der von uns bisher untersuchten Unterrichtsnachbesprechungen steht jedoch der reflektierte Umgang mit der Sachantinomie ebenso wenig zur Diskussion wie ihr Zusammenhang zur unterrichtlichen Entstehung und Bewältigung von Beteiligungsungewissheit (vgl. Pallesen et al. 2018, 2020; Schierz et al. 2018).

Wir interessieren uns daher in diesem Beitrag insbesondere dafür, ob Sport als der konjunktive Erfahrungsraum, den Studierende mit ihren schulischen Mentorinnen und Mentoren in der Regel vor dem Hintergrund ihrer Gesamtbiografien miteinander teilen, die fachspezifische Wahrnehmung und Bearbeitung von unterrichtlichen Antinomien und der mit ihnen einhergehenden Kontingenzeinschränkungen und Ungewissheitsschließungen in einer spezifischen, Gewissheiten des vorberuflichen Alltagswissens bestätigenden Art und Weise vorstrukturiert. Um hierüber Einblicke zu geben, stellen wir anhand ausgewählter Passagen einer Unterrichtsnachbesprechung in einem ersten Schritt Ausschnitte aus der Rekonstruktion des gesprächsleitenden Orientierungsrahmens eines Mentors vor (1). Im nachfolgenden Schritt abstrahieren wir vom Fallbeispiel und problematisieren die sich am Fall dokumentierende fachspezifische Wahrnehmung und Bearbeitung einer Sachantinomie und der mit ihr korrespondierenden Beteiligungsungewissheit (2). Im abschließenden Fazit führen wir die Stränge der Rekonstruktion und der Problematisierung in Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Professionalisierungserwartungen an und Gewissheitskonstruktionen in Unterrichtsnachbesprechungen zusammen (3).

2 Ungewissheitsschließungen

Lehrperformances Sportstudierender im Praktikumsunterricht sind in aller Regel schon mehr als nur erste Inszenierungserprobungen eines Lehrerselbst. Es darf inzwischen als ein Allgemeinplatz in der professions- und professionalisierungstheoretisch forschenden Sportdidaktik gelten, dass der Prozess des „Sportlehrer*in-Werdens“ (Haverich 2020) als komplexer Subjektivierungsprozess zu deuten ist, der zwar in fachübergreifender Hinsicht nach Pazzini und Zahn vorrangig „innerhalb der Institution Schule“ (2011: 9) stattfindet – aber nicht nur dort allein. Sportlehrerinnen und -lehrer werden unstrittig in aller Regel schon als Schülerinnen und Schüler aufgrund ihres in der Schulzeit akkumulierten Beobachtungswissens über Lehr-Praktiken und –inszenierungen mit den Performances des Sport-Lehrens im Kontext Schule „übervertraut“ (Herzog & von Felten 2001: 21). Dieses Beobachtungswissen wird zudem durch die Teilhabe an formellen und informellen Lehrinszenierungen im sportlichen Training an außerschulischen Lehrorten in seiner Schemahaftigkeit beglaubigt und auch schon früh, etwa seit der Adoleszenz, in eigenen Imitationen ritualisierter Lehrperformances im Sport inkorporiert und als performatives Wissen habitualisiert (vgl. Ernst 2018; Ernst & Miethling 2018; Volkmann 2008). Gerade vor dem Hintergrund, dass die Mentorinnen und Mentoren in ihrem Bildungsgang eine ähnliche Sportsozialisation durchlaufen haben, stellt sich die Frage, inwieweit die impliziten Wissensbestände der Studierenden im Rahmen des Praxissemesters überhaupt thematisiert und reflexiv gebrochen werden können oder ob nicht vielmehr die Gefahr besteht, dass Unterrichtsnachbesprechungen, wie auch das folgende Fallbeispiel zeigt, sich in einem konjunktiven Erfahrungsraum vollziehen, der treffend in einer Unterrichtsnachbesprechung von einem Mentor folgendermaßen bezeichnet wird: „Unter uns Sportlern.“

Die im Folgenden im Fokus stehende Sequenz aus einer Nachbesprechung entstammt einem Sample von Mentoringgesprächen, das im Zeitraum von Februar bis Juli 2016 im Rahmen einer Pilotstudie zu Ausbildungsinteraktionen im Praxissemester Sport des Masterstudiengangs GHR300 an einer Niedersächsischen Universität erhoben wurde (vgl. Haverich 2020).

Die Analyse erfolgt im Verfahren der Dokumentarischen Methode, um auf diese Weise dominierende pädagogische und damit vor allem auch berufs- und fachkulturelle (kollektive) Vorstellungen sowie Handlungs- und Deutungsmuster rekonstruieren zu können. In den Blick geraten somit „Äußerungen oder Handlungen bzw. das Verstehen der in ihnen implizierten Haltungen oder Orientierungen“ (Bohnsack 2014: 60), die sich in solchen schulischen Dokumenten als Produkte von Praxis niederschlagen. Dabei können sowohl Handlungspraxis und implizite Wissensbestände verschiedener Sprecherinnen und Sprecher, als auch deren Interaktionsgemeinschaft in den Blick genommen werden.

Unter Bezugnahme auf zentrale Dimensionen professionellen Handelns und auf die dem Fach zugrundeliegenden Deutungsmuster, sahen wir uns in unseren Fallrekonstruktionen in erster Linie die Stellen an, die das Verhältnis des Sachlichen zu Schülervoraussetzungen thematisieren und somit das Potenzial boten, bei Praktikantinnen und Praktikanten sowohl sach- als auch selbstreflexive Prozesse im Kontext der Unterrichtsnachbesprechungen anzubahnen (vgl. Kramer & Pallesen 2019). In dieser Rekonstruktion, die wir im Folgenden lediglich an ausgewählten Sequenzausschnitten zusammenfassend darstellen können, geht es v. a. um einen Verhaltensstil, der auf das Schülerinnen und Schüler aktivierende Agieren im schulischen Praxisfeld bezogen ist.

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