Wir haben ein Interview mit Ingo Richter, Autor von Meine deutsche Bildungsrepublik. Eine bildungspolitische Autobiographie, geführt.
Interview mit Ingo Richter
Lieber Ingo Richter, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Meine deutsche Bildungsrepublik für unsere Leser*innen zusammen.
Ich war nie Bildungspolitiker und habe dennoch eine „bildungspolitische Autobiographie“ geschrieben, die zugleich eine „Geschichte der (west)deutschen Bildungspolitik von 1945 bis 2020“ ist. Es geht um die Nachkriegszeit und die junge Bundesrepublik, um das „Jahrzehnt der Bildungsreform“ in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, um Wiedervereinigung, Globalisierung, PISA und die Herausforderungen der Bildungspolitik „jenseits von PISA“. Ich war Referendar bei Horst Mahler, wurde von Hellmut Becker für das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und von Angela Merkel für die Leitung des Deutschen Jugendinstituts ausgewählt. Ich traf Annette Schavan als baden-württembergische Kultusministerin und Kurt Biedenkopf als sächsischen Ministerpräsidenten und viele andere seit ich am 1.4.1963 meinen ersten bildungspolitischen Job antrat.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Als ich im Jahre 1999 bei Hanser mein Buch „Die sieben Todsünden der Bildungspolitik“ veröffentlichte, forderte mich Michael Krüger auf, doch nun „Die sieben Kardinaltugenden der Bildungspolitik“ zu schreiben. Doch es ist wesentlich schwieriger, über Tugenden zu schreiben als über Sünden. Ich machte verschiedene Anläufe, bin jedoch letztlich gescheitert. Aus diesem Scheitern entstand die Idee einer biographischen Wendung der Fragestellungen. Ich wollte erzählen, wie ich die Bildungspolitik erlebt habe und an welchen Stellen ich an ihr beteiligt war.
Welche sind aus Ihrer Sicht die dringlichsten Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem?
Das Buch endet mit einem „Nachtrag“, in dem ich sechs Herausforderungen der gegenwärtigen Bildungspolitik „jenseits von PISA“ skizziere, und zwar drei Herausforderungen, von denen ich meine, dass sie die Bildungspolitik bewältigen kann und muss, nämlich die Integration der Migranten, die Inklusion der Behinderten und das Auftreten von Pandemien. Durch drei weitere Herausforderungen der Gegenwart ist die Schule dagegen überfordert, nämlich durch die mediale Sozialisation im Zeitalter der Digitalisierung, durch die Verwahrlosung des öffentlichen Lebens und durch den drohenden Verlust der Identifikation mit dem Politischen System.
Ihr Buch enthält ein Kapitel zum Thema „Die Schule in Zeiten von Pandemien“. Wie sieht die Schule unter diesen Bedingungen aus und wie sollte sie im Optimalfall aussehen?
Stellen wir uns einmal vor, dass „Corona“ nicht wieder verschwindet und nicht alles wieder wie vorher wird, sondern dass „Pandemien kommen und gehen, in Wellenbewegungen auftauchen und verebben, mal schwerer und mal leichter ausfallen, aber potentiell immer präsent sind.“ Eine solche Gesellschaft nenne ich eine „pandemische Gesellschaft“ – eine Utopie? Eine Schule, wie wir sie kennen, mit ihren festen großen Klassenverbänden und wechselnden Lehrerinnen und Lehrern, 20-40 Stunden in der Woche viele Jahre lang, kann es in einer solchen Gesellschaft nicht mehr geben, sondern wir müssen die Schule neu denken. Eine „Entschulung“ der Gesellschaft ist keine Lösung, weil das Analphabetismus, soziale Ungleichheit und Sozialisationsversagen bedeuten würde. Die Schule einer „pandemischen Gesellschaft“ vermittelt vielmehr alle kognitiven Inhalte digital und organisiert den Erwerb von Fertigkeiten, die ständige kollektive Übung verlangen, sowie das soziale Lernen in festen Kleingruppen von 10-15 Kindern und Jugendlichen mit jeweils einem festen Moderator oder einer Moderatorin in der Schule und in der Kinder- und Jugendhilfe.
Darum bin ich Autor bei Budrich
In diesem Buch schreibe ich u.a. über meine Zeit als Direktor des Deutschen Jugendinstituts, dessen Verleger Edmund Budrich war und dessen Tochter Barbara seinerzeit bei ihm als Lektorin arbeitete. So lag es außerordentlich nahe, ihrem Verlag das Buch zur Veröffentlichung anzubieten.
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Ingo Richter: Meine deutsche Bildungsrepublik. Eine bildungspolitische Autobiographie
Der Autor: Ingo Richter
- 1957 – 1962 Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, München, Hamburg und Paris
- 1963-1965 Sekretär des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen in Bonn
- 1965 Promotion zum Dr.iur. in Hamburg
- 1966 Promotion zum Docteur de l´Universite de Paris
- 1965 – 1979 Mitarbeiter und Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin
- 1975 – 1979 Professor für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin
- 1979 – 1993 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg
- 1993 – 2002 Direktor des Deutschen Jugendinstitutes München
- 1994 – 2019 Honorarprofessor an der Universität Tübingen
- 2012 – 2019 Lehrbeauftragter an der Faculté de Droit der Universität Paris X (Nanterre)
- Gastprofessuren in Stanford, Chicago, San Franzisko, Northhampton, Bordeaux und Tunis
Über das Buch
„Meine deutsche Bildungsrepublik“ ist eine bildungspolitische Autobiographie. Ingo Richter schildert entlang seiner eigenen Entwicklung zugleich die Entwicklungen im Bildungsbereich in Deutschland, zunächst als Jurastudent in der Nachkriegszeit, sodann als junger Bildungsreformer in den 1960er/70er Jahren am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, als Professor für Öffentliches Recht in der Reform der Juristenausbildung in Hamburg und schließlich als Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München und als Beobachter von PISA und den Folgen.
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