Spezifiken der Subjektivierung im Mathematikunterricht

ZISU – Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 12 (2023): Subjektivierung im Medium mathematischen Schulwissens – Explorationen zu unterrichtlichen Praktiken des Schreibens, Vorstellens und Rechnens

Subjektivierung im Medium mathematischen Schulwissens – Explorationen zu unterrichtlichen Praktiken des Schreibens, Vorstellens und Rechnens

Nele Kuhlmann, Christian Herfter

ZISU – Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung, Heft 12 (2023), S. 35-50.

 

Zusammenfassung

Für die subjektivierungsanalytische Problemstellung, wie aus jungen Menschen in und durch (Fach-)Unterricht Schüler*innen werden, ist die Dimension der Subjektkonstitution im Medium von Fachlichkeit zwar zentral, bislang aber wenig im Fokus der Aufmerksamkeit. Ausgehend von diesem Desiderat werden im Beitrag theoretische Konzepte zur Rekonstruktion von schulfachspezifischen Subjektivierungslogiken ausgelotet und in methodologisch-methodische Justierungen zur Analyse von situierten Wissenspraktiken übersetzt. In einer empirischen Exploration eines videographierten Mathematikunterrichts einer sechsten Klasse werden dann die vollzogenen Praktiken des Schreibens, Vorstellens und Rechnens daraufhin untersucht, wie sowohl der unterrichtliche Gegenstand als auch damit verschränkt bestimmte anerkennbare Subjekte hervorgebracht werden. Dass es sich dabei um Spezifiken der Subjektivierung im Mathematikunterricht handeln könnte, plausibilisieren wir in der Rückbindung an wissenschafts- und praktikentheoretische Analysen.
Schlagwörter: Subjektivierung, Fachlichkeit, Mathematikunterricht, Wissenspraktiken, Anerkennung

 

Subjectification in the Medium of Mathematical School Knowledge – Explorations on Practices of Writing, Imagining and Calculating

The question of how young people become pupils in and through subject-specific education at schools has so far rarely been studied in German-speaking countries. Our paper examines theoretical concepts for the reconstruction of subjectification in the medium of school knowledge and translates them into methodological premises for empirical analysis. Then, we explore the videotaped mathematics lesson of a sixth grade class. Analysing the observed practices of writing, imagining and calculating, we intend to describe how both the subject matter and, intertwined with it, certain recognisable subjects (teacher and pupils) emerge. We argue that these practices of subjectification are specific to mathematics education by referring to studies in the field of mathematics education.
Keywords: subjectification, curriculum, mathematics education, practices, recognition

 

1 Einleitung

Wenngleich mittlerweile zahlreiche subjektivierungsanalytische Studien zu Schule und Unterricht aus verschiedenen (inner-)disziplinären Perspektiven vorliegen, scheint die Frage danach, wie die unterrichtliche Sache zur schulischen Subjektkonstitution beiträgt, weiterhin wenig bearbeitet. Anstelle von fachlichen Vermittlungspraktiken rücken zum einen eher fachunterrichtsunabhängige Disziplinierungs- und Normierungspraktiken (z. B. Langer 2008) und zum anderen eher allgemeine Transformationen wie Entfachlichungstendenzen oder die zunehmende Etablierung der Selbstständigkeitsnorm in den Fokus von Analysen (z. B. Rabenstein & Reh 2007). Zu der Frage aber, inwiefern sich fachkulturelle Ordnungen und Wissenspraktiken ausmachen lassen, und welche Subjektivierungslogiken diesen eingeschrieben sind, liegen bislang erst wenige Studien vor (z. B. Campos 2019; Reh & Pieper 2018). Diese weitestgehende Leerstelle einer subjektivierungstheoretischen und damit machttheoretisch informierten Fachlichkeitsforschung ist insofern bemerkenswert, als dass die fachliche Dimension von Unterricht sowohl aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive für die Legitimation von Schule – im Sinne der Qualifikationsfunktion – wie auch aus einer mikrosoziologischen Perspektive für unterrichtliche Interaktion als Vermittlungsgeschehen konstitutiv sein dürfte.

Gleichzeitig verweist dieses Desiderat auf das schon immer spannungsvolle Verhältnis zwischen explizit normativ-bildungstheoretischen und analytisch-subjektivierungstheoretischen Zugängen und ist daher auf den zweiten Blick weniger überraschend. So zeichnen sich allgemein- und fachdidaktische Auseinandersetzungen mit der unterrichtlichen Sache auf der einen Seite weiterhin vorrangig durch einen bildungstheoretischen Zugang aus, in dem es weniger – wie David Kollosche (2015: 1) für die Mathematikdidaktik formuliert – um den tatsächlich geleisteten „gesellschaftliche[n] Beitrag von gegenwärtigem Mathematikunterricht“ gehe als vielmehr um die Frage, „worin der Beitrag eines ‚idealen‘ Mathematikunterrichts bestehen solle“. In dieser Weiterführung der „philosophisch-pädagogischen Bildungstheorie“ (ebd.) sieht Kollosche die Problematik, dass eine soziologisch-machttheoretische Analyse verunmöglicht werde. Aber auch in der explizit subjektivierungstheoretischen Wendung der Rekonstruktion von Subjektbildungsprozessen gelingt es auf der anderen Seite nicht, die Dimension der unterrichtlichen Sache angemessen zu berücksichtigen: Ricken (2019: 108) stellt fest, dass das, „was in ‚Bildung‘ an Wissensdimensionen, ‑formen und ‑inhalten mitthematisiert wird, [in subjektivierungsanalytischen Arbeiten, NK/CH] doch weitgehend aus dem Fokus gerutscht zu sein scheint“. Diese komplementären Leerstellen sind der Ausgangspunkt unseres explorativ angelegten Beitrags. Wir verfolgen ausgehend von Vorarbeiten (Kuhlmann & Herfter 2022) die Frage, wie sich Subjektivierungsprozesse im Medium der Sache theoretisch fassen und empirisch zugänglich machen lassen. Diesen entwickelten Zugriff erproben wir am Beispiel eines videographierten Mathematikunterrichts.

In einem ersten Schritt werden wir ausloten, welche theoretischen Konzepte vorliegen, um schulische Subjektivierungsprozesse im Medium der unterrichtlichen Sache zu untersuchen. Nach einer subjektivierungstheoretischen Hinführung werden wir dafür zum einen an Arbeiten der machttheoretischen Curriculum Studies anschließen und zum anderen praktikentheoretische Fassungen von Fachlichkeit aufgreifen. Davon ausgehend werden wir in einem zweiten Schritt unseren methodologisch-methodischen Zugriff ausarbeiten, indem wir die Methodik der Adressierungsanalyse als Analyse des situierten Vollzugs von (Wissens-)Praktiken vorstellen. Diesen methodischen Zugriff werden wir im dritten Schritt in einer explorativ angelegten Rekonstruktion erproben und darin die Frage verfolgen, welche Subjektivierungslogiken in den untersuchten Wissenspraktiken im Mathematikunterricht hervorgebracht werden. In dem im vierten Schritt folgenden Fazit werden wir die rekonstruierten Praktiken des Schreibens, Vorstellens und Rechnens vor dem Hintergrund wissenschafts- und machttheoretischer Studien zum Mathematikunterricht diskutieren und Desiderata ausmachen.

2 Subjektivierende Wissenspraktiken

Subjektivierung wird als eine „spezifische sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive auf das menschliche Individuum“ verstanden (Reckwitz 2017: 125), „der es um das (konkrete) Werden und Gewordensein von (konkreten) Subjekten“ geht (Saar 2013: 17). Entgegen der Vorstellung eines gegebenen Subjekts, das von sich selbst und Anderen als Eigenverantwortliches anerkannt wird, wird angenommen, dass Subjekte als zurechenbare und sich selbst zugrundeliegende Wesen erst im Vollzug von diskursiven Praktiken – und damit in Interaktionen mit Anderen – entstehen. Wie Sven Opitz (2014: 393) im Anschluss an Judith Butler formuliert, tritt in diesem nur paradoxal zu denkenden Prozess das Subjekt „erst in der Unterwerfung unter eine diskursive Ordnung als handlungsfähiges Subjekt in Erscheinung“. Das Subjekt entsteht dadurch, dass es lernt, machtvolle Raster der Anerkennbarkeit als gegeben anzunehmen und auf sich selbst und Andere zu beziehen.

Dieser Problembestimmung folgend geht es in einer subjektivierungstheoretisch ausgerichteten Schul- und Unterrichtsforschung vorrangig um die Frage, wie aus ‚jungen Menschen‘ durch den Vollzug von schulischen und unterrichtlichen Praktiken Schüler*innen werden (vgl. Kuhlmann & Ricken 2022). Dabei ist ein zentrales Ergebnis der mittlerweile zahlreich vorliegenden empirischen Rekonstruktionen von unterrichtlichen Praktiken, dass sich das Schüler*innen-Sein dadurch auszeichnet, sich als „Fähigkeitenbündel“ (Ricken & Reh 2017: 253) in Bezug auf schulische Leistungsordnung(en) zu verstehen, die je nach Schul- und Lernkultur in spezifischer Weise ausgestaltet ist bzw. sind (z. B. Rabenstein et al. 2013; Alkemeyer & Pille 2012). Dass die unterrichtlich hervorgebrachten Normen der Anerkennbarkeit und damit einhergehenden Subjektivierungslogiken zudem auch fachkulturell bedingt sind, darauf haben bislang jedoch erst wenige Studien dezidiert hingewiesen (z. B. Campos 2019; Roose 2019; Reh & Pieper 2018).

In einem historisierenden Zugriff auf Subjektivierungslogiken im Medium der Sache wird vor allem die Entstehung und Transformation von Schulfächern auf eingeschriebene Subjekt- und Gesellschaftsentwürfe untersucht (z. B. Diaz 2018; Reh & Pieper 2018). Dabei wird die Annahme zurückgewiesen, dass Schulfächer linear aus Universitätsdisziplinen entstehen würden. Vielmehr kommt es zu einer nur empirisch zu rekonstruierenden Vermengung von verschiedenen – u. a. universitär-disziplinären, pädagogischen, psychologischen und auch steuerungsbezogenen – Wissensformen und -praktiken (vgl. Reh 2017; Popkewitz 2004). Der US-amerikanische Curriculumforscher Thomas S. Popkewitz schlägt den Begriff der ‚Alchemie‘ vor, um den ‚magischen‘ Prozess der Autorisierung von Wissen als Schulwissen zu benennen, das die nachkommende Generation befähigen soll, einen ‚wertvollen Beitrag‘ als „future citizen“ leisten zu können (ebd.: 4). Im Anschluss an subjektivierungstheoretische Arbeiten argumentiert Popkewitz (2015: 9): „the practices of pedagogy, the organization of the curriculum, and the psychologies of learning come together as a grid of practices directed to making certain kinds of people”. In einer ähnlichen Stoßrichtung argumentiert auch Sabine Reh (2017: 153), wenn sie vorschlägt, Schulfächer als historisch gewachsene Konstellierung von „Subjektformen“ zu verstehen, „die diskursiv verfügbare, historisch-kulturell spezifische Vorstellungen darüber [bereitstellen, NK/CH], was ein Subjekt ist und kann bzw. sein und können soll“. Diese Subjektformen werden nach Reh (ebd.) in fach(unterrichts)spezifischen Wissenspraktiken hervorgebracht, in denen Wissen in bestimmter Weise generiert, notiert, gespeichert, vermittelt und geprüft wird. Im Rahmen dieser Wissenspraktiken entstehen Möglichkeiten der Verhältnissetzung zum Wissen, zur sozialen Ordnung, zum Selbst und zu Anderen, die es dem subjektivierungsanalytischen Interesse folgend empirisch zu rekonstruieren gilt.

3 Methodik: Adressierungsanalyse als Subjektivierungsanalyse im Medium von Wissen

Um die situierte Hervorbringung dieser Subjektivierungslogiken in Wissenspraktiken zu rekonstruieren, folgen wir anerkennungs- und adressierungsanalytischen Ansätzen (vgl. auch Campos 2019; Roose 2019). Die Adressierungsanalyse ist eine sowohl an interaktions- als auch diskursanalytische Verfahren anschließende Analyseheuristik, in der Praktiken als sozial erkennbares, sequenziell organisiertes Re-Adressierungsgeschehen konzeptioniert werden (Ricken et al. 2017; Reh & Ricken 2012). Die einzelnen Züge in diesem Geschehen sowie ihr typisches Ineinandergreifen werden auf ihre formale Organisation hin befragt (Organisationsdimension) sowie entlang dreier Kerndimensionen untersucht: der Norm- und Wissens-, der Macht- sowie der Selbstverhältnisdimension (Kuhlmann et al. 2017). Entlang dieser drei Dimensionen soll in der Analyse des Vollzugs von Praktiken herausgearbeitet werden, in welcher Weise Wissens- und Normhorizonte situativ als verbindlich autorisiert und etabliert werden, welche (temporären) Positionen und Relationen der Akteur*innen damit einhergehen und welche Formen der Selbstbezüge und -führungen anerkennbar werden (ebd.). Im Zusammenspiel der rekonstruierten Wissens-, Macht- und Selbstführungs-Relationen – so die leitende Annahme – werden die den untersuchten Praktiken eingeschriebenen Subjektivierungslogiken zugänglich.

Um dabei die Typiken fachunterrichtlicher Subjektivierungslogiken rekonstruieren zu können, greifen wir zudem auf die anerkennungstheoretischen Überlegungen Norbert Rickens (2009) zur pädagogischen ‚Operation‘ des Zeigens nach Klaus Prange (1995) zurück (vgl. auch Idel & Rabenstein 2018). Auch wenn Grund zur Annahme besteht, dass Zeigepraktiken nur einen Teil der unterrichtlichen Wissenspraktiken ausmachen,1 lassen sich die dort entfalteten strukturellen Überlegungen leicht übertragen: So lässt sich die analyseleitende Frage, wie sich die zeigende Person und die bezeigten Personen zur unterrichtlichen Sache positionieren bzw. positioniert werden (vgl. ebd.: 45), erweitern zur Frage nach anerkennbaren Subjektpositionierungen, die in Wissenspraktiken eingeschrieben sind. Von besonderem Interesse sind dabei das Verhältnis von Sach-, Selbst- und Anderenbezug – u. a. in Formen der Inanspruchnahme und Zuerkennung von Autorität, Fähigkeit und Gültigkeit. Dafür wird kein externer Maßstab an die Interaktion angelegt, sondern bspw. danach gefragt, wie sich die „Beteiligten gegenseitig [zeigen, NK/CH], was es heißt, ein ‚guter‘ Schüler […] zu sein“ (Alkemeyer & Pille 2012: 9). Im Folgenden werden wir unsere adressierungsanalytische Interpretation einer videographierten Mathematikunterrichtsstunde vorstellen, in der der Versuch unternommen wird, mathematikunterrichtsspezifische Subjektivierungslogiken zu erarbeiten.

1 Folglich müssen in einem ersten Schritt die Praktiken identifiziert werden, mit denen in anerkennbarer Weise Wissen produziert, geprüft, geordnet oder konserviert wird.

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