Soziologie in polarisierten Welten

Kieler sozialwissenschaftliche Revue 1-2023: Wird die Soziologie romantisch? Eine Reflexion der gegenwärtigen Tendenz zur „Polarisierung“

Wird die Soziologie romantisch? Eine Reflexion der gegenwärtigen Tendenz zur „Polarisierung“1

Peter Gostmann2

Kieler sozialwissenschaftliche Revue, Heft 1-2023, S. 31-40.

 

Bei der folgenden Untersuchung handelt es sich um eine Reflexion der Soziologie der Gegenwart im Licht ihrer Ideengeschichte. Die Gegenwart repräsentiert das Themenpapier, mit dem die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) d. h. der Verein, der nach bürgerlichem Recht in Deutschland an der Förderung des internationalen wissenschaftlichen Fachs dieses Namens arbeitet, der Öffentlichkeit seinen 41. Kongress, der im späten September 2022 an der Universität Bielefeld stattgefunden hat, anzeigte.3 Die ideengeschichtliche Größe, die die Reflexion der Soziologie der Gegenwart anleitet, ergibt sich aus dem Kongressthema selbst: Ihre Bestimmung folgt der Irritation, die das Thema Polarisierte Welten bei Leser*innen auslösen muss, die gewohnt sind, bei der Betrachtung fachwissenschaftlicher Äußerungen, gerade wenn sie einer im zeitgenössischen Journalismus auffälligen Sprachfigur sich bedienen, die längeren Linien des intellektuellen Verkehrs, die in solchen Äußerungen sich materialisieren mögen, zu verfolgen.

Die Leserin, die dieser Gewohnheit für den Fall von polarisiert folgt, wird, wenn sie einen gebräuchlichen Weg wählt, nämlich prüft, ob das Historische Wörterbuch der Philosophie einen entsprechenden Eintrag enthält, zwar nicht diesen, aber immerhin einen dem Grundmorphem nach verwandten Begriff, Polarität, finden (Probst 1989). Sie wird sich verdeutlichen, dass dieser Begriff den spezifischen Zustand, den das Adjektiv polarisiert bezeichnet, auf ein höheres reflexives Niveau hebt, nämlich die Ordnung der beiden Extrempunkte – der Pole – anvisiert, an denen nach der Auskunft dessen, der von polarisierten Welten spricht, die Elemente dieser Welten fixiert sein sollen. Mit anderen Worten, unsere Soziologin wird der Möglichkeit, statt von Polarisiertem von Polarität zu sprechen, dankbar folgen, verspricht doch der Nachvollzug der Ideengeschichte der Polarität, an die Stelle der dem Kongressthema impliziten Behauptung einer vollzogenen (oder im Vollzug befindlichen) Entwicklung zum Extremen in mehreren ,Welten‘ die Frage zu rücken, wovon die Soziologie spricht, wenn sie von polarisierten Welten spricht.

Dem Beitrag im Historischen Wörterbuch kann die Betrachterin des Kongressthemas Karriere als „allgemeines Interpretationskonzept“, das auch bei der Beschreibung von ,Welten‘ jenseits von Phänomenen des Elektromagnetismus zum Einsatz kommt, sich der „romantischen[n] Naturphilosophie“ verdankt (Probst 1989: 1026). Damit haben wir den Punkt der Irritation erreicht – in einer Frage gebündelt: Wird die Soziologie der Bundesrepublik im Sinne der Förderung ihrer Sache gerade romantisch? Und, wäre dies so: Was besagt dies? Für die Behandlung dieser Fragen wählen wir den ,klassischen‘ Weg: Wir beginnen mit einer Problembeschreibung unter ideengeschichtlichen Anleihen (1.); darauf folgen die Analyse des Themenpapiers zum 41. DGS-Kongress (2.) und die Erläuterung des aus ihr sich ergebenden Schlusses (3.).

1. Problembeschreibung: Gemeinsame Anfänge von Romantik und Soziologie

Die ideengeschichtlich geschulte Betrachterin des Kongressthemas wird, wenn sie ihre Suchbewegung anhand der Frage des Verhältnisses von Soziologie und Romantik über das Historische Wörterbuch hinaus ausdehnt, früher oder später auf ein Büchlein treffen, das Albert Salomon, ein New School-Soziologe der ersten Stunde, der sein Fach als „Erkenntnispartnerschaft“ im Verbund mit Philosophie, Theologie, Historiographie und Dichtkunst praktizierte (Gostmann 2023), 1955 vorgelegt hat. In Tyranny of Progress (Salomon 1955) vermerkt Salomon eine „Verwandtschaft“ – die wir heute mit Wittgenstein als „Familienähnlichkeit“ bezeichnen können (Wittgenstein 1984: 276 ff.) – zwischen der „romantische[n] Bewegung“ und der „frühen Soziologie“ der „nachrevolutionären Epoche“: Beide treffen sich, so Salomon, im „Anliegen“ der Revolutionsbewältigung; und beider Vertreter setzen dabei auf die „Autorität“ einer neuen Sozialfigur, des durch „Wissenschaft“ geschulten „Intellektuellen“ – die sie mit ihren Einlassungen zugleich zu beleihen versuchen. Romantik und Soziologie sind nach Salomons Untersuchung Teil einer „allgemeinen philosophischen Entwicklung“, getragen von der „neuen Idee des Fortschritts“, als deren Einsatzpunkt im Ergebnis der bürgerlichen Revolution „die Gesellschaft“ identifiziert wird (Salomon 1955: 86 u. 73f.).4

Romantik und (frühe) Soziologie sind nach Salomons Analyse also nicht identisch; aber die begrifflichen „Gebärden“ (Gostmann/Ivanova 2019: 466) von Soziolog*innen und Romantiker*innen (die sich klassischerweise in Dichter-Kreisen vergemeinschaften), die Sprach- und Gedankenfiguren, mit denen sie ihre Anliegen verständlich zu machen suchen, gehen ineinander über. Mehr: Die intellektuelle Praxis von Soziolog*innen selbst kann, wie Salomon seinen exemplarischen Fällen – Henri de Saint-Simon, Comte und Marx – abliest, romantische Züge tragen (Salomon 1955: 67–81). Wäre es tatsächlich so, dass die heute sich vergesellschaftende Soziologie romantisch zu werden versucht, hätten wir es also zunächst nicht mit einem besonders irritierenden Vorgang zu tun, sondern mit einem impliziten Vorschlag zur Rückkehr in die intellektuelle Konstellation ihres Anfangs – von einem inzwischen akademisch konsolidierten Standpunkt aus. So wie die neuere Forschung zwischen der historischen „Epoche“ und dem transmodernen „Modell“ der Romantik unterscheidet (Matuschek 2021: 351–368), ließe sich fragen, ob nicht ohnehin die Soziologie seit ihrer Gründung gelegentlich ihre Anfänge als Kraft der Revolutionsbewältigung reproduziert hat – und in welchen konkreten Fällen und mit welchen konkreten Ausprägungen sie dabei romantische Züge angenommen hat.

Zeigt die Lektüre von Salomons Tyranny of Progress zwar, dass wir von der Verbindung von Soziologie und Romantik nicht besonders irritiert sein müssen, sorgt sie allerdings nebenbei für eine neue Irritation. Denn Salomon vermerkt für die allgemeine philosophische Entwicklung, aus der beide hervorgehen, nicht nur eine Idee des Fortschritts (wie sie z. B. bereits die Materialisten des 18. Jahrhunderts hegten), sondern geradezu Ausprägungen einer Religion des Fortschritts (Salomon 1955: 72f.). Romantischwerden würde demnach für die Soziologie bedeuten, dass sie in eine Wahlverwandtschaft mit einem Selbst- und Weltverhältnis sich begäbe, zu dem sie traditionell mindestens forschende Distanz zu halten sucht.

Die Voraussetzung dieser Überlegung ist, dass Salomon „Religion“ nicht nach dem Muster der „überlieferten Religion“, nicht nach dem Maß derer (für Geübte leicht kritisierbarer) Formen und Institutionen bestimmt (Salomon 1955: 71). „Religion“ liege vielmehr, transhistorisch betrachtet, immer dort vor, wo „eine innere Verbindung zu einem Wesen […] jenseits des Menschlichen [zur Darstellung]“ gebracht wird; wo etwas „als primäres Phänomen“ eingeführt wird, „das in letzter Konsequenz“ auf keine bekannten „Phänomen[e]“ reduzierbar ist und an dem „das Ganze der Wirklichkeit“ als „[e]inheitlich[es] […] „Sinnuniversum“ sich zeigen soll (Salomon [1952]2022: 106 f.).

Den Hintergrund des Auftretens von Religionen des Fortschritts bildet nach Salomons Beobachtung die Rückkehr einer Grundfigur „mythischen“ Sprechens im Zuge der Revolution: die Radikalisierung bestehender „sozialer Antagonismen“ zu neuen Formen des alten Gegensatzes von „Götter“- und „Dämonen“-Gleichen – in dem allgemeinen („existenziellen“) Schema von „Freund“ und „Feind“ (Salomon 1955: 70). Das Numen des Fortschritts ist das Mittel, das in der Folge die frühen Romantiker und die frühen Soziologen finden, um die mythisch aufgeladenen Kämpfe ihrer Epoche in etwas ,Höherem‘ aufzulösen – und auf verbesserter Grundlage, am Objekt der Gesellschaft, eine Ordnung wie die der älteren Zeit „[w]iederher[zu]stell[en]“ (Salomon 1955: 73).

Dem Charakter von Tyranny of Progress entsprechend, das, wie Salomon der ersten deutschsprachigen Ausgabe vorausschickte, eher etwas für „nachdenkliche Leser“ als für ein „wissenschaftliches Publikum“ sein sollte (Salomon 1957), verdichtete er seine Untersuchung exemplarischer Fälle einer soziologischen Religion des Fortschritts zu einer bedenkenswerten Typologie, indem er eigentümliche „Affinität[en] zu […] bestimmten historischen Religion[en]“ anzeigte: „Comte“, der das „Modell der katholischen Kirche im Sinne einer irenischen Religion“ restituiert; Marx als Träger einer Art „Sozial-Mohammedanismus“, Proudhon als „Manichäer“ usw. (Salomon 1955: 84 f.). Wenn wir stattdessen bei der Untersuchung des Aufbaus der intellektuellen Gebärde bleiben, in der frühe Romantik und frühe Soziologie sich treffen, sind wir zurück bei der gegenwärtigen Tendenz, der das Thema des 41. DGS-Kongresses folgt, und bei dem, was wir mit Seitenblick ins Historische Wörterbuch der Philosophie über sie gelernt haben. Denn die Bearbeitung des Problems einer mythischen Aufladung sozialer Antagonismen, die seinerzeit Romantiker wie Soziologen leisten – um im Zuge dessen, nach Salomons Analyse, Religionen des Fortschritts auszubilden –, ist im Sinne der Romantiker*innen der Epoche die Bearbeitung des Problems der Polarität. Wir wollen uns die diese Bearbeitung tragende intellektuelle Gebärde in knappen Zügen exemplarisch veranschaulichen.

Folgt man Schellings Bericht Von der Weltseele, so liegt Antagonismen wie denen der Revolutionsära in letzter Konsequenz eine „in der ganzen Natur […] wirksam[e] […] Polarität“ zugrunde: ein „allgemeines Weltgesetz“, das in der Natur als Ganzer in Form mannigfaltiger „Erscheinungen“, so wie auch in jedem „untergeordneten Körper“, in den Natur emaniert, sich niederschlägt (Schelling 1798: 154 u. 175). Weil aber jede dieser polaren Erscheinungen auf die natürliche Einheit, an der sie sich zeigt, verweist – auf die Identität, die jeder Antagonismus birgt und verbirgt (vgl. Novalis [1795]1978: 8f.) –, muss die romantische Bearbeitung dieser Erscheinungen sich in einen religiösenAkt umstülpen: in die Anzeige oder Andeutung der eigenen Ahnung einer zukünftig „vervollkommneten Welt“ (Salomon 1955: 74). In genau diesem Sinn würden z. B. nach Friedrich Schlegels berühmtem 116. Athenäums-Fragment „das Leben und die Gesellschaft poetisch“ werden (und zugleich „die Poesie lebendig und gesellig“), wenn es einer „progressive[n] Universalpoesie“ gelänge, „Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie […] wieder zu vereinigen“) (Schlegel [1798]1967: 182 f.; Hervorhebungen PG). Und im gleichen Sinn spricht Schleiermacher von einer nur „in unbestimmten Umrissen“ zu bestimmenden „Gesellschaft der Religiösen“, deren jeder „Priester“ und „Laie“ ist (Schleiermacher [1799]2008: 121 u. 119), vermöge eines „religiösen Sinnes“, der in „zwei entgegengesetzte[n] Elemente[n]“, „Anschauungen und Gefühle[n]“, gegeben ist, um Mitteilungen eines „Weltgeist[es]“ gewahr zu werden (Schleiermacher [1799]2008: 56 u. 60).

1 Für Dieter Mans, mit Dank für langjähriges, ununterbrochenes kollegiales Wohlwollen.
2 Peter Gostmann ist Außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt.
3 Der vorliegende Text folgt einem auf dem Kongress (im Rahmen der Veranstaltung „Polaritäten und Dialoge“ der AG Ideen- und Sozialgeschichte der Soziologie) präsentierten Vortrag.
4 Alle Übersetzungen aus Tyranny of Progress stammen von mir/PG. Die vollständige Neuübersetzung der Schrift erscheint 2023 im Rahmen des fünften Bandes der Albert Salomon Werke.

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Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in Heft 1-2023 unserer neuen Zeitschrift Kieler sozialwissenschaftliche Revue erschienen.

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