Eine konstruktivistische Lehr-Lernform auf dem Prüfstand: die Rolle sozialer Verhandlungen für die soziale Integration Studierender
Marion Reindl
ZeHf – Zeitschrift für empirische Hochschulforschung, Heft 2-2023, S. 127-144.
Zusammenfassung: Basierend auf der Selbstbestimmungstheorie und der Theorie der sozialen Interdependenz lassen sich für die soziale Integration von Studierenden verschiedene Entwicklungsverläufe (Zunahme, Abnahme) ableiten. Welche Rolle dabei soziale Verhandlungen als konstruktivistische Lehr-Lernform spielen (positiver, negativer Effekt), lässt sich ebenfalls nicht eindeutig aus den Bezugstheorien ableiten. Bisherige Befunde erlauben noch keine klaren Rückschlüsse auf die angesprochenen Effektmuster. Daher hat die vorliegende Studie das Ziel, die Entwicklung der sozialen Integration von Studierenden und den Einfluss der sozialen Verhandlungen darauf zu untersuchen. Die offenen Fragestellungen werden mittels einer Stichprobe des Nationalen Bildungspanels (NEPS) von n = 7,619 Studierenden an einer Hochschule in Deutschland untersucht. Diese wurden im dritten und im fünften Semester befragt. Die Ergebnisse der True-Change-Modelle zeigten, dass soziale Integration innerhalb eines Jahres geringfügig abnahm (d = .08). Für Einflüsse der sozialen Verhandlungen zeigte sich nur ein positiver Effekt auf die soziale Integration, die zur selben Zeit erfasst wurde (Intercept). Hingegen zeigte sich kein Effekt auf die Entwicklung der sozialen Integration vom dritten bis zum fünften Semester (Change). Die Ergebnisse werden im Zusammenhang theoretischer Modelle zu Gruppenbildungsprozessen diskutiert.
Schlüsselwörter: soziale Integration, soziale Verhandlungen, Konstruktivistische Lehr-Lernform, Entwicklung, Universität
Constructivist teaching and learning put to the test: The role of social negotiations for the social integration of university students
Summary: Based on the self-determination theory and the theory of social interdependence, various developmental trajectories (increase, decrease) can be derived for the social integration of students. The role played by social negotiation as a constructivist form of teachinglearning (positive, negative effect) cannot be clearly deduced from the reference theories as well. Findings to date do not yet allow clear conclusions to be drawn regarding the related effect patterns. Therefore, the present study aims to investigate the development of students’ social integration and the influence of social negotiation on it. The analyses rely on a nationally representative sample of n = 7,619 students at a university in Germany (NEPS data set) and cover the time span between the 3rd and 5th semester in a longitudinal design. True-Intraindividual-Change Models were applied to tap intra-individual social integration trajectories predicted by constructivist teaching. The results indicated that social integration decreased slightly over the course of one year (d = .08). Constructivist teaching showed significant positive effects on the level of social integration (intercept) and no effect on the development of social integration (change). The results are discussed in terms of theoretical models regarding group formation processes.
Keywords: social integration, social negotiations, constructivist teaching, development, university
1. Einleitung
Während des Studiums stehen Studierende vor der Herausforderung, Kontakte zu Personen an der Universität, wie Dozierenden und Mitstudierenden (Peers), aufzubauen und sich dadurch sozial zu integrieren. In der vorliegenden Studie wird die soziale Integration in ein stabiles Peernetzwerk fokussiert, da Studienergebnisse die Bedeutung sowohl für das Lern- und Leistungsverhalten (Hepworth et al., 2018; Noyens et al., 2019; Severiens & Schmidt, 2008) und das Wohlbefinden (Suhlmann et al., 2018) als auch für das Risiko, das Studium abzubrechen (Maunder, 2018), belegen. Aussagen zur Entwicklung der sozialen Integration im Studienverlauf sind bisher nur eingeschränkt möglich. Erste Ergebnisse geben zwar größtenteils Hinweise darauf, dass die soziale Integration im ersten Studienjahr zunimmt (Pan & Gauvain, 2012; Zander et al., 2018). Allerdings gibt es für die weitere Entwicklung nach dem ersten Studienjahr noch keine aussagekräftigen Ergebnisse.
Für die Förderung der sozialen Integration können konstruktivistische Lehr-Lernformen, die auf dem Prinzip der sozialen Verhandlungen (Palincsar, 1998) basieren, eine zentrale Rolle spielen. Ermöglichen Dozierende den Studierenden, sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen, schafft dies Gelegenheiten, neue Kontakte zu Mitstudierenden aufzubauen. Erste Ergebnisse bestätigen bereits den positiven Zusammenhang zwischen den sozialen Verhandlungen und der sozialen Integration Studierender (Severiens & Schmidt, 2008). Allerdings berichten Studierende, die mit anderen Studierenden zusammenarbeiten, auch oft von Herausforderungen wie dem zeitlichen Aufwand, die als belastend empfunden werden können (Phipps et al., 2001) und sich negativ auf die soziale Integration auswirken können. Zur Erklärung sowohl positiver als auch negativer Effekte sozialer Verhandlungen auf die soziale Integration werden die Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) und die Theorie der sozialen Interdependenz (Thibaut & Kelley, 1959) herangezogen. Das Ziel dieser Studie besteht folglich darin, die Entwicklung der sozialen Integration im zweiten Studienjahr und den Einfluss sozialer Verhandlungen darauf zu untersuchen.
1.1 Soziale Integration: Definition und Entwicklung
Soziale Integration bezieht sich nach Tinto (1993) auf soziale Interaktionen mit wichtigen Sozialisationsagenten an der Universität wie Dozierenden und Peers (siehe auch Wolf-Wendel et al., 2009). Die soziale Integration ist demzufolge als ein strukturelles Merkmal aufzufassen, das sich auf die Vernetzung und den Kontaktaufbau bezieht (Gottlieb & Bergen, 2010). Soziale Interaktionen werden somit in ihrer Quantität und Struktur und weniger in ihrer Qualität betrachtet. Eine der sozialen Integration verwandte Dimension ist die soziale Eingebundenheit. Diese wird nach der Selbstbestimmungstheorie als Gefühl der Zugehörigkeit definiert (Ryan & Deci, 2020) und stellt eines von drei zentralen psychologischen Grundbedürfnissen dar, neben der Autonomie und der Kompetenz.
Unterschiedliche Verläufe der sozialen Integration während des Studiums lassen sich demnach auch mithilfe der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) erklären. Diese geht davon aus, dass Menschen ein angeborenes psychologisches Grundbedürfnis haben, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Das Ausmaß der sozialen Integration spielt dabei eine bedeutende Rolle (O‘Keeffe, 2013). Studierende, die während ihres Studiums verstärkt soziale Kontakte aufbauen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihr Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit zu befriedigen. Aufgrund dieser Argumentation ist ein Anstieg in der sozialen Integration während des Studiums zu erwarten, da Studierende ihr Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit befriedigen möchten. Darüber hinaus lassen sich aus der Selbstbestimmungstheorie noch weitere Annahmen zur Entwicklung der sozialen Integration ableiten. Diese besagt, dass die Erfüllung des Grundbedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit auch von Person-Umwelt-Interaktionen abhängt (La Guardia & Patrick, 2008). Die Theorie der sozialen Interdependenz (Kelley & Thibaut, 1978; Van Lange & Balliet, 2015) beschreibt, wie Erfahrungen aus vergangenen Person-Umwelt-Interaktionen zu Entscheidungen führen, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder abzubrechen. Diese Entscheidungen sind wiederum abhängig von individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen. Machen Personen demnach in Interaktionen die Erfahrung, dass das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit befriedigt wird, stellt dies einen Nutzen sowohl für das Wohlbefinden als auch für den Lernzuwachs der Studierenden dar (Suhlmann et al., 2018). Soziale Interaktionen werden dahingehend intensiviert und die soziale Integration verbessert sich. Eine Verschlechterung der sozialen Integration lässt sich hingegen über einen reduzierten Nutzen und zu hohe Kosten sozialer Interaktionen erklären. Mitstudierende können beispielsweise ihr Verhalten im Verlauf des Studiums verändern und nicht mehr in einer wertschätzenden Art und Weise auf die Bedürfnisse der Person reagieren. Personen machen die Erfahrung, dass Beziehungen keinen emotionalen und/oder instrumentellen Nutzen mehr haben. Gleichzeitig können sich die Kosten dieser Beziehungen erhöhen, beispielsweise indem man sich durch die Unterstützung anderer Studierender Nachteile verschafft. Eine mögliche Ursache hierfür kann der Wettbewerb um zukünftige Arbeitsplätze sein (Weber, 2007).
Neben individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen können auch strukturelle Bedingungen eine wichtige Rolle für die Veränderung der sozialen Integration spielen. Zum Beispiel bricht ein relativ hoher Prozentsatz der Studierenden in den ersten Semestern das Studium ab (Neugebauer et al., 2019). Studierende, die eventuell in vorherigen Semestern noch wichtige Bezugspersonen waren, verlassen das direkte Umfeld einer Person, worauf sich die sozialen Interaktionen mit dieser ebenfalls reduzieren. Unklar bleibt, ob sich deswegen die soziale Integration der Studierenden verschlechtert oder neue Kontakte mit anderen Studierenden aufgebaut werden, um die soziale Integration auf einem stabilen Niveau zu halten.
Bisher gibt es nur vereinzelt Studienergebnisse, die Rückschlüsse auf den Verlauf der sozialen Integration zulassen. Eine Studie von Zander und Kolleg:innen (2018) zeigte zum Beispiel für Studierende der Erziehungswissenschaft, dass die Integration in ein unterstützendes Peernetzwerk im ersten Semester im Mittel zunahm. Im Gegensatz dazu zeigte sich bei einer Studie von Noyens et al. (2019) keine nennenswerte Veränderung der sozialen Integration im ersten Semester. Hinweise zum Verlauf der sozialen Integration im zweiten Studienjahr lassen sich ausschließlich aus den Ergebnissen einer Studie von Pan und Gauvain (2012) ableiten. Hierbei zeigte sich, dass diese im zweiten Studienjahr auf einem stabilen Niveau blieb. Allerdings ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Studierende des deutschen Hochschulsystems eingeschränkt, da es sich bei dieser Studie um eine selektive Stichprobe von hochqualifizierten Studierenden einer chinesischen Universität handelte. Generell muss im Hinblick auf alle Studienergebnisse kritisch angemerkt werden, dass keine intraindividuellen Veränderungen in der sozialen Integration betrachtet wurden, sondern Veränderungen nur über Mittelwertvergleiche abgebildet wurden.
1.2 Soziale Verhandlungen: eine konstruktivistische Lehr-Lernform Im Konstruktivismus wird Lernen als soziale Aktivität aufgefasst, bei der Wissensinhalte auch immer durch eine soziale Gruppe mitkonstruiert werden (De Kock et al., 2004; Palincsar, 1998). Diese Annahme wird in den sozialen Verhandlungen als Lehr-Lernform aufgegriffen. Soziale Verhandlungen beziehen sich demnach auf soziale Interaktionen, durch die die Entwicklung von höheren mentalen Prozessen gefördert wird (Driscoll, 2005). Die Umsetzung des Prinzips der sozialen Verhandlungen in der konkreten Lehr-Lernsituation erfolgt über Methoden, die dem kollaborativen Lernen zugeordnet werden können (Driscoll, 2005). Diese haben zum Ziel, dass Dozierende ein Lernumfeld gestalten, in dem Studierende die Möglichkeit erhalten, sich einzubringen und den Austausch über relevante Themen sowohl mit Studierenden als auch mit Dozierenden zu pflegen (Bruffee, 1984; Matthews, 1996; zusammenfassend Davidson & Major, 2014).
Basierend auf der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) und der Theorie der sozialen Interdependenz (Thibaut & Kelley, 1959) lassen sich für den Einfluss sozialer Verhandlungen auf die soziale Integration sowohl positive als auch negative Effekte annehmen. Positive Effekte sind zu erwarten, da soziale Verhandlungen eine wichtige Voraussetzung für das Anbahnen von Kontakten darstellen. Neue Beziehungen können aufgebaut werden, womit dem Bedürfnis der Studierenden nach sozialer Eingebundenheit Rechnung getragen wird. Des Weiteren kann der Austausch über gemeinsam relevante Inhalte einen Nutzen für den Lernzuwachs der Studierenden darstellen (Lazonder & Harmsen, 2016; Phipps et al., 2001), woraufhin soziale Interaktionen mit den Mitstudierenden intensiviert werden. Allerdings können im Rahmen sozialer Verhandlungen auch Kosten entstehen, die dazu führen, dass Studierende die Interaktionen mit den Mitstudierenden reduzieren. Der Austausch von Lerninhalten mit anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen kann beispielsweise soziale Vergleichsprozesse in Gang setzen (Festinger, 1954), bei denen Wissensvorsprünge bzw. Defizite zu Mitstudierenden als Kosten wahrgenommen werden. Gerade im Zusammenhang mit einem möglicherweise zunehmenden Konkurrenzdenken unter den Studierenden, je näher der Abschluss rückt, kann die Wahrnehmung solcher Differenzen zu einer Reduzierung des Kontaktes führen (Lomi et al., 2011). Weitere Kosten können durch den zusätzlichen Arbeitsaufwand entstehen, der sich aus der Zusammenarbeit mit anderen Studierenden ergibt (Phipps et al., 2001).
Aussagekräftige Ergebnisse zum Einfluss sozialer Verhandlungen als konstruktivistische Lehr-Lernform auf die Entwicklung der sozialen Integration nach dem ersten Studienjahr fehlen bisher. Allerdings gibt es erste Hinweise aus bisherigen Studienergebnissen, die Rückschlüsse auf die Wirkrichtung zulassen. Zum Beispiel bestätigen Ergebnisse den positiven Effekt konstruktivistischer Lehr-Lernformen auf die soziale Integration Studierender, die den Aspekt der sozialen Verhandlungen explizit berücksichtigen, wie das problemorientierte Lernen (Severiens & Schmidt, 2008) oder kollaborative Lehr-Lernformen (Braxton et al., 2000). Ergebnisse aus einer aktuellen Studie von Schaeper (2020), die mit demselben Datensatz wie in der vorliegenden Studie durchgeführt wurde, legen den Schluss nahe, dass soziale Verhandlungen einen positiven Effekt auf die soziale Integration haben. Allerdings wurden in dieser Studie ausschließlich soziale Interaktionen mit Dozierenden berücksichtigt. Ähnliches Ergebnis zeigte sich bei Freeman et al. (2007). Die Ermutigung zur aktiven Teilnahme der Studierenden an Lehrveranstaltungen und die Interaktion mit den Studierenden förderten deren Empfinden der Zugehörigkeit. Insgesamt stützen bisherige Befunde die Annahme eines positiven Effektes der sozialen Verhandlungen auf die soziale Integration, allerdings basieren diese Befunde ausschließlich auf querschnittlichen Analysen im ersten Jahr des Bachelorstudiums.
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