Editorial zum Themenschwerpunktheft: Sozialarbeitsforschung. Zur Weiterentwicklung der Disziplin Soziale Arbeit durch Einbezug von Perspektiven der Rechtsextremismusforschung
Michaela Köttig, Esther Lehnert, Heike Radvan & Sebastian Winter
ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 2-2022, S. 191-195.
Die Rechtsextremismusforschung, die im Kontext Sozialer Arbeit stattgefunden hat, war jahrzehntelang fast ausschließlich eine Forschung über extrem rechts orientierte Jugendliche und die pädagogischen Möglichkeiten, sie von ihrem eingeschlagenen Pfad wieder abzubringen. Die Prävention durch Soziale Arbeit wurde und wird in der Öffentlichkeit – neben der Repression durch Polizei und Verfassungsschutz – oftmals als DER entscheidende Faktor zur Eindämmung und Verhinderung extrem rechter Entwicklungen und Mobilisierungen gesehen.
Dieser Zugang ist fraglich geworden: einerseits vor dem Hintergrund des in den letzten Jahren in der deutschen Transformationsgesellschaft reüssierenden gesellschaftlichen Rechtsrucks und den Herausforderungen, die sich durch die weit über die extreme Rechte hinausreichende (und auch die Akteur*innen Sozialer Arbeit selbst nicht auslassende) Verfestigung von Ideologien der Ungleichwertigkeit ergeben; andererseits durch die Kritik an einer Pädagogisierung und Entpolitisierung des Rechtsextremismus im Zuge der Kontroverse um das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit und dessen Umsetzung im Rahmen des ersten Bundesprogramms AgAG Anfang der 1990er Jahre (vgl. exemplarisch für den Debattenbeginn Scherr 1993; Krafeld 1993). Nach der Aufdeckung der Anfänge des späteren NSU in einem Jenaer Jugendzentrum ist die Skepsis noch einmal gewachsen.
Um Potenziale, Grenzen und Gefahren von Sozialer Arbeit/Pädagogik im Bereich der Prävention von Rechtsextremismus zu eruieren, braucht es nach wie vor eine feldspezifische Sozialarbeitsforschung. Aktuell ist eine Öffnung und thematische Verbreiterung dieser Forschungslandschaft zu verzeichnen, die insbesondere selbstreflexiver und -kritischer geworden ist.
Eine Debatte, in der fokussiert die eigene Profession und Disziplin betrachtet werden, begann erst vor wenigen Jahren, zunächst mit Bezug auf die Hochschulen. So warfen Albert Scherr und Renate Bitzan 2007 die Frage auf, welche Erfahrungen es mit Studierenden Sozialer Arbeit gibt, die sich rechtsextrem orientieren. Sie fragten, welche Strategien im Umgang damit bestehen und problematisierten, dass über die Existenz extrem rechter Studierender in der Sozialen Arbeit geschwiegen wird, obwohl es diese in einem „begrenzten aber relevanten Ausmaß“ (Scherr/Bitzan 2007: 9) gibt. Die Debatte, in der es auch Anwürfe gegen die Autor*innen gab, endete vergleichsweise schnell. Knapp zehn Jahre später diskutierten Esther Lehnert und Heike Radvan (2016: 59–120) Beispiele, die zeigen, dass extrem rechts eingestellte Personen Soziale Arbeit studieren und in der Praxis tätig sind, obwohl ihre Einstellungen und Ziele den professionsethischen Grundsätzen diametral entgegenstehen. Seit 2018 ist eine vertiefende und vermutlich nachhaltigere Hinwendung zu dieser Debatte in Disziplin und Profession zu beobachten. Dabei profitiert der Fachdiskurs auch von Analysen aus der ursprünglich zivilgesellschaftlich verorteten, imweiteren Verlauf professionalisierten Beratungspraxis gegen Rechtsextremismus: So wird die begriffliche Unterscheidung zwischen extrem rechts orientierten und organisierten Adressat*innen – ursprünglich vom Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Berlin (VDK/MBR 2006: 80–87) hinsichtlich der pädagogischen Erreichbarkeit in jugendpädagogischen Gruppenkontexten eingeführt – für Handlungsfelder der Profession (vgl. Lehnert/Radvan 2016) übernommen und für die Thematisierung im Hochschulkontext hinsichtlich der Frage nach einer Veränderbarkeit von Einstellungen im Studienverlauf weitergedacht (vgl. Radvan/Schäuble 2019: 223 ff.). Mittlerweile gibt es einen fachlichen Austausch zu extrem rechts organisierten Studierenden an Hochschulen, deren Vorgehen als strategisch rekonstruiert werden kann (vgl. Leidinger/Radvan 2021; Besche 2022: 150 ff.) und Überlegungen für präventive Interventionen (vgl. Gutsche 2022), in denen die Perspektiven potentiell Betroffener und die Lernatmosphäre für alle Studierenden berücksichtigt werden.
Aktuell existiert zu den Konsequenzen des Rechtsrucks für die Soziale Arbeit eine relativ breite professionstheoretische Auseinandersetzung in einschlägigen Fachzeitschriften, wie z. B. Sozialmagazin 5/6 2021 (Kopke 2021), Sozial Extra 44/2020 (Ehlert/Radvan/Schäuble/Thiessen 2020; Scherr/Thole 2020), DZI – Soziale Arbeit 4/2020 (Gille/Jagusch/Poetsch 2020; Köttig 2020), Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 2/2020: Soziale Arbeit und Rechtsextremismus (Großmaß 2020; Rahner/Quent 2020).
Außerdem wurden in den letzten Jahren Sammelbände vorgelegt zu Fragen nach Gegenstrategien und Möglichkeiten bzw. Grenzen von Sozialer Arbeit und politischer Bildungsarbeit im Umgang mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus (Biskamp 2017; Gille/Jagusch/Chehata 2022; Lehnert/Misbach 2022), aber auch zur Auseinandersetzung mit dem Thema aus der normativen Perspektive einer menschenrechtsorientierten und damit politischen Sozialen Arbeit (Köttig/Röh 2019; Haase/Nebel/Zaft 2020; Boehnke/Thran/Wunderwald 2019) sowie zu den Herausforderungen für spezifische Handlungsfelder (vgl. u. a. Bringt 2021; Lehnert/Mayer 2020; Dietrich 2019, Raab/Radvan 2020; Stützel 2019). Zudem liegen bundeslandbezogene Studien zu Vorkommen und Einflussnahmen der Neuen Rechten in der Sozialen Arbeit vor: für Nordrhein-Westfalen (Gille/Jagusch/Poetsch 2020) und Mecklenburg-Vorpommern (Gille/Krüger/Wéber 2022). Mehrere Tagungen bearbeiten das Thema fokussiert oder auf einzelnen Panels. Wohlfahrtsverbände widmen sich dem Thema (Besche/Wagner 2020) und fördern damit eine fundierte Auseinandersetzung in der Praxis. Qualitative Erkenntnisse zur sozialpädagogischen, biografisch-rekonstruktiven Arbeit mit Aussteiger*innen (vgl. Köttig 2004; Sigl 2018) sowie zur jugendpädagogischen Antisemitismusprävention (Radvan 2010) liegen vor.
Nach und nach halten auch die Perspektiven von Opfern und Angehörigen der Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt, rechten Terrors und speziell des NSU-Komplexes Einzug in wissenschaftliche Analysen und interdisziplinäre Auseinandersetzungen (Bozay/Aslan/Mangitay/Ö zfirat 2017; Karakayali/Kahveci/Liebscher/Melchers 2017; Cholia/Jänicke 2021). Diese Perspektiven stoßen wichtige Aufarbeitungsprozesse an und geben so auch notwendige Impulse für eine angemessene Erinnerungs- und Gedenkpolitik (Fischer 2018; NSU Watch 2020) sowie für intersektionale Ansätze in der politischen Bildungsarbeit.
Diesen Entwicklungen widmen wir – als Mitherausgeber*innen der ZRex und als Forscher*innen in diesem Gebiet – einen Themenschwerpunkt unserer Zeitschrift, um die begonnenen Diskurse zu inspizieren, weiterzuentwickeln und aktuelle Forschungsergebnisse zu präsentieren. Wir gliedern das Heft in folgende Themenbereiche: (1.) Angriffe auf die Soziale Arbeit. Hierzu finden sich in unserem Heft die Forschungsberichte von Christine Krüger, Christoph Gille & Júlia Wéber: Einflussnahmen der extremen Rechten auf die Soziale Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern – Rechtsextremismus als Forschungsthema der Sozialen Arbeit (Beitrag 1 im Heft) sowie von Marion Mayer: Schluss mit dem Dornröschenschlaf ?! – Auswirkungen (extrem) rechter Orientierungen sowie menschenrechtsfeindlicher Handlungen auf Beratung (Beitrag 3). (2.) Die Akzeptanz extrem rechter Ideologie in Sozialarbeitsangeboten. Mit dieser Thematik beschäftigen sich im vorliegenden Heft der ZRex die Beiträge von Tobias Neuburger: „Projektionsfläche rechtsextremen Gedankenguts“ – zur Dynamik des institutionellen Antiziganismus in der kommunalen Praxis (Beitrag 2) und von Lucia Bruns & Esther Lehnert: Zur Entpolitisierung von Männlichkeiten im Kontext des sozialpädagogischen Handelns mit rechten Jugendlichen Anfang der 1990er-Jahre (Beitrag 4). (3.) Angriffe auf Betroffene von Rassismus. Diesem Thema widmet sich der Beitrag von Gesa Köbberling: Rassistische Gewalt als Erfahrung der Markierung und Unsichtbarmachung (Beitrag 5).
In den nicht schwerpunktgebundenen, offenen Teil des Heftes, haben wir Texte aufgenommen von Felix Schilk & Gregor Gegenfurtner, die Selbst- und Feindbilder im Compact-Magazin analysieren, von Lea Lochau über die Anastasia-Bewegung und Philipp Bergs sozialpsychologische Analyse der antifeministischen Männlichkeitsinszenierung eines Pegida-Anhängers.
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Das Schwerpunktheft Sozialarbeitsforschung. Zur Weiterentwicklung der Disziplin Soziale Arbeit durch Einbezug von Perspektiven der Rechtsextremismusforschung der ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung ist am 20.10.2022 im Open Access erschienen.