Feministische care-ethische Perspektive auf unser Verständnis von Gesundheitssicherheit

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 1-2023: Sorgen in der Pandemie – eine Ethics of Care-Perspektive auf Gesundheitssicherheit

Sorgen in der Pandemie – eine Ethics of Care-Perspektive auf Gesundheitssicherheit

Katharina Wezel, Katharina Krause

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 1-2023, S. 24-37.

 

Zusammenfassung

In der Pandemie hat die (Un-)Sichtbarkeit und Fragilität von Fürsorgearbeit erneut sowohl an Relevanz als auch an Prekarität gewonnen. Zugleich macht die Pandemie lokale und globale Vulnerabilitäten sichtbar(er). Dies erfordert eine Perspektive auf Gesundheitssicherheit, die sowohl marginalisierte und hierarchisierte Sorge-Strukturen greifbar macht als auch die Wandelbarkeit der Bedarfe von Personen im Krisenkontext erfassen kann. Aus diesem Grund widmet sich dieser Artikel der Frage: Wie kann eine feministische care-ethische Perspektive unser Verständnis von Gesundheitssicherheit verändern? Diese Fragestellung untersuchen wir zunächst auf einer theoretisch-konzeptionellen Ebene aber auch hinsichtlich ihres normativen Potenzials. Hierbei betrachten wir den gesellschaftlichen Umgang und die Unsichtbarkeit von häufig prekären, randständigen und feminisierten Formen von Sorgearbeit aus einer kritischen feministischen Sicherheitsperspektive. Wir kritisieren, dass bestehende Sicherheitsverständnisse im Krisen- und Katastrophenfall ein selbsthilfefähiges Individuum voraussetzen, welches in starkem Kontrast zur Lebensrealität vieler Menschen in Care-Beziehungen steht. Wir führen diese Unsichtbarkeit, und damit die strukturelle Marginalisierung von Care-Beziehungen im Fall der Coronapandemie unter anderem darauf zurück, dass herkömmliche Perspektiven auf Gesundheitssicherheit nicht auf Fragen des Zusammenhangs von Care und sozialer Ordnungen eingehen.

Schlagwörter: Care-Krise; Covid-19-Pandemie; Gesundheitssicherheit; Ethik

 

Caring within a Pandemic – an Ethics of Care-Perspective on Health Security

Abstract

During the Covid-19 pandemic, questions of the (in)visibility and fragility of care work have once more gained both relevance and precariousness. At the same time, the pandemic makes local and global vulnerabilities (more) visible. This requires a perspective on health security that makes marginalised and hierarchical structures of care tangible and captures the fluidity and transformation of people’s needs in times of crises. Therefore, this article addresses the question: How can a feminist ethics of care-perspective change our understanding of health security? We first examine this question on a theoretical-conceptual level and also show its normative potential. Thus, the article analyses the social treatment and invisibility of often precarious, marginalised, and feminised forms of care work from a critical feminist security perspective. We criticise that conventional understandings of security in times of crisis and disasters presuppose an individual who is able to help themselves, which stands in stark contrast to the lived reality of many people dependent on care relationships. We attribute this invisibility, and thus the structural marginalisation of care relations in the case of the Covid-19 pandemic, to the fact that conventional perspectives on health security do not take questions of the connection between care and social orders into account.

Keywords: Care Crisis; Covid-19 Pandemic; Health Security; Ethics

 

Sorgen, Soziale Ordnungen und Sicherheit

Spätestens seit der Corona-Krise ist im öffentlichen Bewusstsein der Begriff der Gesundheitssicherheit keine merkwürdige Wortpaarung mehr. Einher mit der Versicherheitlichung von Gesundheit (Elbe 2010; Rushton 2019; Wenham 2019) geht eine wachsende Aufmerksamkeit für die Sichtbarkeit von gesundheitlichen Fragen im Sicherheitskontext.

Das Verständnis von Sicherheit ging und geht hier über ein enges, traditionelles Verständnis (staatlich, militärisch, biopolitisch) hinaus. Zu Beginn der Pandemie wurde unter anderem Reinigungsarbeit, ein zuvor kaum beachteter Aspekt professionalisierter Sorgearbeit, als systemrelevant eingestuft und als kritische, also als sicherheitsrelevante, Infrastruktur identifiziert (Bose 2020). Auch wurden Pflegekräfte beklatscht und Notbetreuungen für Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen eingerichtet. Michael Fine und Joan Tronto (2020, 302) sehen Care in der Pandemie als „emerging from the shadows as a taken-for-granted afterthought in public life“. Care, das zeigte und zeigt die Pandemie deutlich, ist ein Grundpfeiler sozialer Ordnungen, im privaten wie im öffentlichen Sinne – vor, nach und gerade auch in Krisen (Tronto 1993, 117). „Care ist lebensnotwendig, auch im physiologischen, körperlichen Sinne“ (Villa 2020, 434). Anders ausgedrückt: Care ist sicherheitsrelevant.

Allerdings war diese Sichtbarkeit im pandemischen Kontext oftmals nur punktuell und kurzfristig – von der Systemrelevanz von Reinigungsarbeit, beispielsweise im Krankenhauskontext, spricht mittlerweile kaum noch jemand. Trotz des (temporären) Bewusstseins für die Komplexität und Zentralität von Sorgearbeit im Krisenfall, ist es nicht gelungen, Care-Arbeit in ihrer Breite politisch zu stärken und gesellschaftlich sichtbar(er) zu machen (Villa 2020). Der pandemische Kontext bietet somit einen konzeptuellen Einstieg, um diese Diskrepanz im Krisenkontext zu thematisieren und zu problematisieren.

Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Artikel der Frage: Wie kann eine feministische care-ethische Perspektive unser Verständnis von Gesundheitssicherheit verändern? Dafür geht dieser Artikel wie folgt vor: Zunächst wird Care mit theoretischen Perspektiven auf Gesundheitssicherheit verknüpft. Dabei werden gängige sicherheitstheoretische Lesarten gesundheitlicher Krisen diskutiert, um die Unsichtbarkeit von Care im Feld der Gesundheitssicherheit zu problematisieren. Demgegenüber führen wir eine sicherheitsethische Lesart des Pandemiekontexts ein, welche sich aus einer feministischen Sorge-Ethik, einer Ethics of Care, speist. Mithilfe dieses theoretischen Gerüsts können schlussendlich Potenziale einer solchen Care-Ethik für Gesundheitssicherheit –auch im (post-)pandemischen Kontext – aufgezeigt werden.

Wir kritisieren, dass herkömmliche Sicherheitsverständnisse im Gesundheitssicherheits-Diskurs der Internationalen Beziehungen (IB) im Krisen- und Katastrophenfall ein selbsthilfefähiges Individuum voraussetzen, welches in starkem Kontrast zur Lebensrealität vieler Menschen in Care-Beziehungen steht. Wir führen diese strukturelle Unsichtbarkeit, und damit die strukturelle Marginalisierung von Sorge- Beziehungen im Fall der Corona-Pandemie, unter anderem darauf zurück, dass herkömmliche Perspektiven auf Gesundheitssicherheit nicht auf Fragen des Zusammenhangs von Care und sozialer Ordnungen passen, da sie Gesundheitssicherheit nicht als komplexes interdependentes Netz an Sorgebeziehungen konzeptualisieren. Konkret kann eine care-ethische Perspektive auf Gesundheitssicherheit auf drei Ebenen Impulse geben, um den gesellschaftlichen Umgang mit Krisen und ihren Nachwirkungen zu bearbeiten. Erstens ist Sicherheit keine Thematik, die allein Staaten oder autonome Individuen betrifft, sondern Sicherheit basiert auf Beziehungsgefügen, die sich auf lokaler wie globaler Ebene manifestieren. Durch eine care-ethische Perspektive werden diese Beziehungsgefüge und die darin enthaltenen Abhängigkeiten, Verantwortungen und Machtstrukturen ins Zentrum gerückt. Zweitens erlaubt die care-ethische Perspektive grundsätzlich die Notwendigkeit von Sorgebeziehungen in den Mittelpunkt sicherheitsethischen und -politischen Handelns zu stellen und somit Care nicht als randständig, sondern als elementaren Bestandteil krisenfester Ordnungen zu betrachten. Denn ganz besonders in Krisenzeiten werden Belange von weniger sichtbaren und randständigen Personengruppen überwiegend den Belangen der mutmaßlichen gesellschaftlichen Mehrheit untergeordnet (Krüger/Wezel 2021). Drittens erwächst aus dieser Perspektive eine kritische und politische Agenda, die verlangt, Menschen, die Care-Arbeit leisten (sichtbar oder unsichtbar, bezahlt oder unbezahlt), nachhaltig in diesen Aufgaben zu stärken, gegebenenfalls zu entlasten und in ihren Bedarfen sichtbarer und hörbarer zu machen.

Die Grenzen von Gesundheitssicherheit: Problematisierung des Status Quo

Im Folgenden betten wir unseren Artikel in die IB-Literatur zu Gesundheitssicherheit und speziell in die Debatten der Feminist Health Security Studies ein. Hierbei zeigen wir, dass die enge Verknüpfung von Gesundheit und Sicherheit im wissenschaftlichen Diskurs mittlerweile anerkannt ist und vor allem auch in jüngerer Zeit mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit und sogar durch die wachsende feministische Literatur zu Gesundheitssicherheit jenseits des traditionellen Fokus auf Staaten, das Militär und Biopolitik untersucht wird. Allerdings fehlt bislang eine umfassende Konzeptionalisierung von Care in diesen Debatten. Diese in diesem Abschnitt herausgearbeitete Lücke bildet den Startpunkt und Kontext für unser Argument.

Gesundheit und Sicherheit in den Internationalen Beziehungen

Sicherheit ist ein mehrdeutiges und inhärent politisches Konzept (Buzan 1991, 7). Existierende Konzeptionen von Gesundheitssicherheit variieren hinsichtlich Referenzobjekt, existenzieller Bedrohung, der Akteur*innen, die Sicherheit herstellen und der Zielgruppe (Harman/Wenham 2018, 364). Bereits 1989 unterstreicht Caroline Thomas (1989, 273) ihre Forderung nach einer Auseinandersetzung in den IB mit dem Thema Gesundheit „not simply to facilitate containment of disease transmission across international borders but also because central notions of justice, equity, efficiency and order are involved“. Vor dem Hintergrund dieser Forderung und trotz der vielfältigen theoretischen sowie empirischen Zugänge in der akademischen Debatte, bleibt auffällig, dass Gesundheitssicherheit bisher kaum im Care-Kontext gedacht wird. Sicherheit ist vielmehr meist mit einem traditionellen Fokus auf Staaten, das Militär und Biopolitik verknüpft (Fidler 2004; Fidler/Drager 2006). Zwar setzen sich die kritischen Sicherheitsstudien innerhalb der IB insbesondere mit der Frage auseinander, wessen Sicherheit wie verhandelt wird und inwiefern sich hieraus Problematiken für die Gesundheit von ganzen Personengruppen ergeben. Aber auch diese Perspektiven bilden den Care-Kontext von Gesundheitssicherheit nicht ab.

Menschliche Sicherheit

Dies gilt auch für die Perspektive der Human Security (dt. menschliche Sicherheit), welche sich in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt etablierte (Wenham 2021). Die Human Security Perspektive bildet eine Ausnahme zum staatszentrierten Fokus, die auch in der Gesundheitssicherheits-Literatur rezipiert wird. Diesem Verständnis folgend werden Individuen und deren Bedarfe ins Zentrum von Sicherheitsfragen gestellt, anstatt ausschließlich staatliche Akteur*innen und Interessen (Kaldor 2007, 185; UNDP 1994). Im gesundheitlichen Kontext wird dabei die Frage der Sicherheit des Individuums eng mit strukturellen Faktoren wie Gesundheit und Armut und dem Zugang zu (guter) Gesundheitsinfrastruktur verknüpft. Diese Perspektive deutet auf die kaskadierenden Effekte globaler Sicherheitsfragen hin, die im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden von Individuen, beispielsweise durch Krieg, anderen Formen von Gewalt, aber auch Nahrung, Transport oder Care-Ketten, stehen.

Ausgehend vom Individuum als Referenzobjekt von Sicherheit konzipiert Ken Booth (1991, 319) ein emanzipatorisches Sicherheitsverständnis. Er stellt die Frage nach gerechter Verteilung von Sicherheit und ihrer Konsequenzen in den Mittelpunkt und verdeutlicht, dass ethische Fragen der Teilhabe und Gerechtigkeit im Sicherheitskontext sowohl theoretisch konzeptuell als auch ethisch-politisch relevant sind. Auch im Gesundheitskontext – insbesondere einer Pandemie – ist es notwendig, die Frage zu stellen, wessen Sicherheit warum zuerst priorisiert wird und welche Konsequenzen sich hieraus ergeben (Krause/Wezel 2022; Rushton 2011). Die Frage erlaubt es, aus einer kritischen Perspektive zu thematisieren, wessen Sicherheit nicht priorisiert wird, neo-koloniale Machtgefälle innerhalb dieser Entscheidungsstrukturen sichtbarer zu machen und als randständig wahrgenommene Personen (bspw. Pflege- und Reinigungspersonal) in ihren Bedarfen ernst zu nehmen.

Allerdings, so argumentieren wir, ist die Stärke der Human Security Perspektive, auf Individuen einzugehen, zugleich auch eine Schwäche, denn sie nimmt ein einzelnes Individuum in den Blick und kann zwischenmenschliche Interdependenzen und Sorgebeziehungen als stabilisierende Größe in Krisen kaum abbilden.

Feministische Gesundheitssicherheit

Aus feministischer Perspektive, insbesondere einer Care Ethik folgend, ist dieser Fokus zu eng, denn er übersieht die notwendige und stabilisierende Komponente von Beziehungsgefügen im Krisen- und Katastrophenkontext.

Eine zunehmende Zahl an Forschenden setzt sich inzwischen mit feministischen Studien und Texten auseinander und überträgt deren theoretische Argumente auf den Gesundheitskontext. Sophie Harman (2016) verweist zum Beispiel auf die Arbeiten von Shirin Rai, Catherine Hoskyns und Dania Thomas (2014) und speziell auf deren Konzept der „social reproductive work“ (dt. sozialen Reproduktionsarbeit). Soziale Reproduktionsarbeit verstehen Rai, Hoskyns und Thomas (ebd., 88f.) als „the level at which the resource outflows exceed resource inflows in carrying out social reproductive work over a threshold of sustainability, making it harmful for those engaged in this unvalued work“ und zeigen, dass weder Wert noch Kosten dieser Arbeit anerkannt und kompensiert werden. Erschöpfung als Folge dieser Dynamik beeinträchtigt nicht nur das Leben einzelner Personen, sondern hat auch negative Auswirkungen auf soziale Institutionen (zum Beispiel Familien oder Gemeinschaften), was schlussendlich zu einer Krise der Gesellschaft führt. Harman (2016) greift die Konzeptualisierung von Rai, Hoskyns und Thomas (2014) und die im Privaten und Öffentlichen stark feminisierte Sorgelast auf und überträgt diese auf den Umgang mit der Ebola Epidemie in West Afrika 2013-2016. Das zentrale Argument hierbei ist die „conspicious invisibility“ (dt. auffällige Unsichtbarkeit) von Frauen, die Harman (2016) in ihrem Text herausarbeitet und problematisiert.

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