Zur Intersektionalität ländlicher Armut

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 1-2022: Ländliche Armut im Kontext der Reproduktionskrise – Beitrag zur Reproduktionskrise

Ländliche Armut im Kontext der Reproduktionskrise – Beitrag zu einer intersektionalen Armutsforschung

Tine Haubner, Mike Laufenberg

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 1-2022, S. 34-47.

 

Zusammenfassung

Ländliche Armut stellt ein wissenschaftlich vernachlässigtes und zugleich komplexes Phänomen dar, in dem sich verschiedene Ungleichheitsrelationen in den Dimensionen von Geschlecht, Klasse und Raum kreuzen und überlagern. Um die Intersektionalität ländlicher Armut gesellschaftsanalytisch einzubetten, votiert der Beitrag für eine Betrachtung des Phänomens aus der Perspektive von Theorien sozialer Reproduktion. In diesem Rahmen werden aktuelle Forschungsbefunde einer feministischen politischen Ökonomie ländlicher Armutsräume präsentiert, die zeigen, dass ländliche Armut nicht nur als Resultat politischen Handelns verstanden werden kann, bei dem Betroffene sich zunehmend selbst überlassen werden; vielmehr werden ländliche Armutsbetroffene und insbesondere Frauen der Arbeiter*innenklasse auf doppelte Weise ausgebeutet.

Schlagwörter: Ländliche Gesellschaft, Armut, Intersektionalität, soziale Reproduktion

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Rural Poverty in the Context of the Reproductive Crisis – Towards an Intersectional Poverty Research

Abstract

Rural poverty is a scientifically neglected and at the same time complex phenomenon in which different relations of inequality intersect and overlap in the dimensions of gender, class and space. In order to embed the intersectionality of rural poverty in a socio-analytical perspective, this article argues for an analysis of the phenomenon from the perspective of theories of social reproduction. Within this framework, it presents current findings of a feminist political economy approach towards poor rural spaces, showing that rural poverty is not only a result of leaving those affected increasingly to their own devices; rural poor and especially women of the working class are also exploited in a twofold way.

Keywords: rural society, poverty, intersectionality, social reproduction

 

Einleitung

Ländliche Armut ist ein paradoxes Phänomen: Obwohl Bewohner*innen ländlicher Gebiete sogar häufiger von ihr betroffen sind als städtische Populationen (Maschke/Mießner/Naumann 2021, 60), stellt sie ein sowohl wissenschaftlich als auch politisch vernachlässigtes „Tabu-Thema“ dar (Franke 2015). Ländliche Armut weist dabei eine Geschlechtsspezifik auf, sind doch vor allem Frauen mehrfach und zugleich spezifisch benachteiligt. Im Folgenden möchten wir Armut als intersektionales Phänomen untersuchen und mit ländlicher Armut die vernachlässigte Ungleichheitsdimension des sozialen Raumes einbeziehen. Wir untersuchen ländliche Armut hierbei aus der Perspektive feministischer Theorien sozialer Reproduktion (Social Reproduction Theory, kurz: SRT), die intersektionale Unterdrückungsverhältnisse im Zusammenhang mit Ausbeutungsstrategien in den Blick nehmen und Armut im Kontext sozialräumlicher Peripherisierungsprozesse zu betrachten erlauben.

Auf empirischer Grundlage rekonstruiert der Beitrag die Ursachen und Wirkungen einer Reproduktionskrise ländlich-peripherisierter Räume. Dabei wird erstens (in Bezug auf die Ungleichheitsdimension Gender) demonstriert, dass Frauen von dieser Krise in besonderer Weise betroffen sind. Zweitens wird gezeigt, dass ländliche Armut nicht nur als Folge struktureller Abwertungsspiralen, sondern auch als Resultat politischer Rationalitäten bis hin zur Ignoranz seitens lokaler Entscheidungsträger*innen zu begreifen ist. Daraus resultieren drittens dominante Regierungsweisen von Armut, die einer erfolgreichen Armutsbewältigung entgegenstehen: Ländliche Armutsbetroffene, darunter insbesondere Frauen der Arbeiter*innenklasse, werden im Rahmen einer zahnlosen lokalen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht nur zunehmend sich selbst überlassen, sondern auch auf doppelte Weise ausgebeutet. Unser Beitrag ist wie folgt gegliedert: Zunächst stellen wir den Forschungsstand und insbesondere dessen Leerstellen hinsichtlich ländlicher Armut vor und skizzieren anschließend die theoretisch-konzeptionelle Rahmung. Daran schließt nach einer kurzen Erläuterung der zugrunde gelegten Methoden der empirische Teil an, in dem wir unsere Thesen auf der Grundlage aktueller Befunde aus einem laufenden Forschungsprojekt präsentieren.

Forschungsstand: Leerstelle ländliche Armut

Unser Text versteht sich als Beitrag zu einer intersektionalen Armutsforschung, die über Ansätze auf der individuellen Verhaltens- bzw. Haushaltsebene (Andreß 1999) hinausgeht und für eine gesellschaftstheoretische Einordnung der Befunde im Sinne einer feministischen politischen Ökonomie ländlicher Armutsräume plädiert. Dadurch werden verschiedene Leerstellen der aktuellen Forschungslage adressiert. So wird ländliche Armut insbesondere als Phänomen des Globalen Südens untersucht, während sie für den Globalen Norden, mit Ausnahme der USA und Großbritanniens, bis heute wenig erforscht ist (Bernard et al. 2019) und im deutschsprachigen Kontext ein noch immer vernachlässigtes Randthema darstellt (Klärner 2017). Obschon die Landforschung Familien intensiv untersucht hat (Katras et al. 2015), bleiben zudem (intersektionale) Geschlechterverhältnisse in Bezug auf ländliche Armut unterbelichtet.

Die Geschlechterforschung hat wichtige Beiträge zur Armutsforschung geleistet, indem sie diese um die Analyse geschlechtsbasierter Faktoren der Armutsgefährdung erweitert hat (Hasenjürgen 2019). Angesichts der global überdurchschnittlich hohen Armutsbetroffenheit von Mädchen und Frauen wird seit den 1970er-Jahren von einer „Feminisierung der Armut“ (Pearce 1978) und dem „gender poverty gap“ (Casper/Garfinkel/McLanahan 1994) gesprochen. Die Geschlechterforschung hat aufgezeigt, wie Vermögens- und Eigentumsverteilungen, Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Arbeitsteilung, wohlfahrtsstaatliche Steuerungsmechanismen und Familien- und Haushaltsformen durch vergeschlechtlichte Macht- und Herrschaftsverhältnisse strukturiert sind, die Frauen einem durchschnittlich höheren Armutsrisiko aussetzen (Gornick/Boeri 2016). Sie hat zugleich geschlechtstypische Formen der „verborgenen Armut von Frauen“ (Stiegler 1998) analysiert, die häufig an patriarchale Abhängigkeitsmuster geknüpft sind. So sind Scheidung, häusliche Gewalt und alleinerziehende Mutterschaft ebenso wie der gender care gap erst durch die Geschlechterforschung als relevante Variablen für eine machtsensible Armutsforschung in den Blick geraten (u.a. Hammer/Lutz 2002).

Der Fokus auf weibliche Armut in der Geschlechterforschung läuft jedoch Gefahr, intersektionale Ungleichheitsdimensionen zu vernachlässigen, insbesondere entlang von Race/Ethnizität und Klasse, aber auch entlang von Alter, (Nicht-)Behinderung, Sexualität und Raum. Die agrarsoziologische Rurale Frauen- und Geschlechterforschung fordert hier eine stärkere Erforschung des Zusammenhangs von Geschlechterverhältnissen und ländlichen Räumen und beklagt die verbreitete Raumvergessenheit der intersektionalen Armutsforschung (Oedl-Wieser/Schmitt 2019, 75f.). Auch gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze sind bislang noch rar, die weibliche Armut nicht lediglich als Ergebnis von geschlechtsspezifischen Mustern der Benachteiligung betrachten, sondern als gesellschaftliches Verhältnis untersuchen, das konstitutiv mit kapitalistischen Ausbeutungs-, Produktions- und Akkumulationsverhältnissen verknüpft ist. Letztere, so unsere Kernannahme, manifestieren sich immer auch sozialräumlich durch multifaktorielle Entwicklungsprozesse der Zentralisierung und Peripherisierung  ̶  wobei letztere zugleich immer die politische und soziale Konstruktion von Räumen miteinschließt.

Armutsforschung meets Social Reproduction Theory

Der theoretisch-konzeptionelle Ausgangspunkt des Beitrags ist, dass intersektionale Formen von Armut in peripherisierten ländlichen Regionen im Kontext einer feministischen politischen Ökonomie des ländlichen Raums und der mit ihr einhergehenden widersprüchlichen (Re-)Strukturierung von Produktions- und Reproduktionsverhältnissen betrachtet werden müssen. Wenngleich Theorien sozialer Reproduktion bislang die Kategorie Raum kaum zur Kenntnis genommen haben, bieten sie einen vielversprechenden Analyserahmen für eine intersektionale Perspektive auf ländliche Armut und Ausbeutung. Sie adressieren die gesellschaftlichen Voraussetzungen der (Wieder-)Herstellung menschlicher Arbeits- und Lebenskraft sowie den Nexus von Unterdrückungsverhältnissen mit Ausbeutungsstrategien. Dabei ist sowohl ein weiter Arbeitsbegriff, der neben bezahlter insbesondere unbezahlte und informelle Arbeitsformen umfasst, als auch ein intersektionaler Unterdrückungsbegriff leitend (Bhattacharya 2017, 3). Im Unterschied zu den dominanten Ansätzen in der Armutsforschung gehen diese Theorien mit ihrem Fokus auf ökonomisch, politisch, kulturell und sozial strukturierte Re-/Produktionsbedingungen sowie deren Widersprüchlichkeit über die Subjekt- und Haushaltsebene hinaus und vermeiden zugleich den ökonomischen Reduktionismus vieler polit-ökonomischer Ansätze durch die analytisch-gleichrangige Berücksichtigung multipel vermittelter Unterdrückungsprozesse. In dieser Theorietradition stehen außerdem Beiträge mit einem feministischen Ausbeutungsbegriff, wonach Ausbeutung nicht nur auf die Aneignung des Mehrwerts aus ‚produktiver‘ Lohnarbeit, sondern auch auf die Aneignung unbezahlter Sorgearbeiten bezogen und mit machtgestützten Unterdrückungspraktiken intersektional vermittelt wird (Haubner 2017; McKeown 2016).

Die hier präsentierten Forschungsbefunde liefern Einblicke in Spezifika ländlichintersektionaler Armut in Deutschland und skizzieren die theoretischen Vorteile einer Perspektive sozialer Reproduktion für die kritische Analyse der Bedingungen und Auswirkungen ländlicher Armut. Dabei gehen wir davon aus, dass sowohl die Frage der sozialen Reproduktion als auch die der Armutsgefährdung mehrdimensional, also im umkämpften Spannungsfeld von Ökonomie, Staat, Haushalt/Familie und sozialen Netzwerken zu konzeptionalisieren ist. Konkret bedeutet das, ländliche Armut im Spannungsfeld einer Krise sozialer Reproduktion zu betrachten, die sich aus Transformationen im Wohlfahrtsdreieck aus Staat, Markt und Familie ergibt. Wir folgen hierbei Brigitte Hasenjürgens (2019, 792) Vorschlag, dass Armut im Zusammenspiel der drei „Arenen“ Erwerbsarbeit, (sozial-)staatliche Regulation des Produktions- und Reproduktionsprozesses sowie private Haushalte als Ressourcenpools zu fassen ist.

Von einer Krise der sozialen Reproduktion für Individuen und Haushalte in ländlich-peripherisierten Räumen sprechen wir, wenn ihre alltäglichen Bedürfnisse nach Erhalt der lebenswichtigen Grundlagen wie Ernährung, Gesundheit oder Wohnen sowie die Absicherung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe im Zusammenhang mit veränderten gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen systematisch gefährdet sind. In erwerbszentrierten Reproduktionsregimen wie dem deutschen Wohlfahrtskapitalismus ist die soziale Reproduktion an Erwerbseinkommen geknüpft. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und der Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse, der nach 1989 auch in den ostdeutschen Ländern durchgesetzt wurde (Konietzka/Sopp 2006, 324ff.), hat die soziale Reproduktion für wachsende Bevölkerungsteile unter Druck gesetzt. Von einer Krise der sozialen Reproduktion kann jedoch erst dann ausgegangen werden, wenn die Defizite im Feld der Produktions- und Beschäftigungsverhältnisse auch durch komplementäre Mechanismen sozialer Reproduktionssicherung, wie den durch Rechtsansprüche geregelten sozialstaatlichen Sozial- und Transferleistungen und informelle Solidarmechanismen, nicht (ausreichend) kompensiert werden. Die nachfolgend präsentierten Befunde illustrieren die Krise sozialer Reproduktion für zwei ländlich-peripherisierte Regionen in Deutschland in Bezug auf krisenhafte Wandlungsprozesse im Wohlfahrtsdreieck von Staat, Markt und Familie, die insbesondere Frauen der ländlichen Arbeiter*innenklasse benachteiligen. Zu diesen zählen wir Frauen mit formal niedrigen oder mittleren Bildungsabschlüssen, die gering- bis mittelqualifiziert beschäftigt sind oder waren (z.B. im Hauswirtschaftsbereich und Einzelhandel, als Arzthelferin oder Grünanlagenpflegerin). Sie stammen in der Regel aus Haushalten, in denen die Eltern in der Industrie, in der Landwirtschaft oder im Handwerk gearbeitet haben.

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1 Wir beziehen die Kategorien Race/Ethnizität nicht in die Analyse mit ein, da die von uns untersuchten Räume durch eine weiße Homogenität charakterisiert sind, während nicht-weiße Migrant*innen v.a. in den größeren Kreisstädten leben. Inwieweit dies auf rassifizierte/ethnisierte Exklusionsmechanismen hindeutet, die der Konstitution der Dorfgemeinschaft vorgelagert sind, wäre in Folgeuntersuchungen weiter zu ergründen.

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