Rap-Texte als Mittel und Ausdruck einer postmigrantischen Selbstkonstitution
Jasmin Donlic
ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management, Heft 1+2-2023, S. 27-42.
Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, welche Prozesse des Aushandelns, der Teilhabe und der gesellschaftlichen Positionierung sichtbar werden, wenn Jugendliche biografische Erfahrungen in Rap-Texten bearbeiten. In den selbstverfassten Rap-Texten und in den mit Rapper_innen geführten semistrukturierten Interviews zeigt sich, wie die Jugendlichen sich mit Religion, Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Alltag auseinandersetzen, welche Strategien sie entwickeln und wie sie sich in der Gesellschaft positionieren.
Schlüsselwörter: Postmigration, Postmuslimische Generation, Partizipation, Performativität, Ermächtigungsprozesse
Rap lyrics as a means and expression of post-migration “self-constitution”
Abstract
This article explores the negotiation, participation and social positioning mechanisms that are observed when young people process their biographical experiences through the writing of rap lyrics. The young people’s rap lyrics, and semi-structured interviews with them, illustrate how they deal with religion, belonging, exclusion, and everyday life, the postmigrant strategies they develop, and how they locate themselves within society.
Keywords: post-migration, post-Muslim generation, participation, performativity, empowerment processes
1. Einleitung
Im Bemühen darum, die Komplexität von Migrationsdynamiken sowie von Identitäts- und Lebensentwürfen zu verstehen, werden in der Forschung seit den 1990er Jahren vermehrt Perspektiven entwickelt, die Migrationsphänomene neu deuten und Denkalternativen aufzeigen (z.B. Hybridität, Transnationalität, Transkulturalität oder Superdiversität). Diese Lesart wird hier postmigrantisch genannt. Ein postmigrantischer Zugang stellt die Erfahrung von Migration ins Zentrum und befasst sich mit den bisher unsichtbar gebliebenen Biografien und Erfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland oder Österreich eingewandert sind. Die Jugendlichen, die hier als postmigrantische Generation1 bezeichnet werden, beginnen ihre Geschichten neu und kreativ zu erzählen – aus ihrer eigenen Sicht heraus (Ohnmacht/Yildiz 2021; Tuider 2020: 208). Die Vorsilbe post- bezieht sich hierbei auf die Perspektiven, die es ermöglichen, gängige und wirkmächtige Mythen über Migration aus den alltäglichen Erfahrungen heraus zu dekonstruieren und dabei ein neues Verständnis von Migration zu formulieren: Migrationsbewegungen werden als gesellschaftliche Grunderfahrung verstanden – und nicht als Ausnahmeerscheinung oder Störfall (Yildiz 2018; Peterlini 2016: 227f.; Gogolin/Krüger-Potratz 2020).
Das kreative und transformative Potenzial, das Migration entfalten kann, wird in diesem Beitrag am Beispiel von selbstverfassten Rap-Texten muslimischer Jugendlicher in Kärnten gezeigt. Die Lebenswelten der betreffenden Jugendlichen sind geprägt von Mehrfachidentitäten – sie entziehen sich verkürzten und eindimensionalen Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit, kulturellen Zuschreibungen oder ethnischen Kategorien. Ihre Auseinandersetzung mit diesen Themen kann nach Ulrich Beck (1996) als „Sub-Politik“ aufgefasst werden, eine Art Politik, durch die sich die Jugendlichen von eindeutigen Traditionen und Vorstellungen emanzipieren können.
Der partizipative und performative Ansatz wurde gewählt, um die Stimme der Heranwachsenden hörbar zu machen. Die selbstverfassten Raps sollen den jungen Menschen dazu dienen, Mitbestimmung und Teilhabe zu erlangen und möglicherweise schmerzhafte Erlebnisse anzusprechen, deren Thematisierung auch positive Erfahrungen im Sinne einer Selbstkonstitution erlaubt (Donlic et al. 2020; Seeliger 2022). Ein essenzieller Aspekt von Partizipation ist die Repräsentation. Folglich können in postmigrantischen Räumen neue Formen des Ausdrucks und der Sichtbarkeit gezeigt werden (Wulf/Zirfas 2006: 291). Vor allem Hip- Hop bietet als ein „dritter Raum des Aussprechens“, also als Ort der Artikulation nach Homi K. Bhabha (1994: 38), „eine Identifikations- und Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Gruppen“ (Bock et al. 2007: 12). „[A]uf der Suche nach eigenen Identitätsentwürfen werden ethnische und kulturelle Marginalisierungen bzw. postkoloniale Benachteiligungen im Hip-Hop thematisiert und verarbeitet“ (ebd.: 13) – so können die Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Emanzipation im Rap verstanden werden. In Anlehnung an Denzin (2003) kann das Verfassen von Rap-Texten und die Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Geschichten als ein „performativer Akt“ (Struger 2017: 49) verstanden werden. Die Beschäftigung mit der eigenen (Lebens-)Geschichte in einem Rap-Text ist auch ein performativer Akt; das Erlebte wird nicht bloß erinnert, sondern in der Auswahl von pointierten Worten und Inhalten auch in seiner Bedeutung neu verhandelt und inszeniert. Dieses Verschriftlichen kann für Jugendliche ermächtigend sein. Das Verfassen und Vortragen der eigenen Rap-Texte, die Performance, ermöglicht einen sinnstiftenden „Gemeinschaftssinn“, kann Machtstrukturen hinterfragen und tabuisierte Themen wahrnehmbar machen (Winter/Niederer 2008: 192).
Dieser Beitrag widmet sich den Fragen, wie sich Jugendliche in ihrem Alltag bewegen, wie sie von diesem geprägt werden und ihn zugleich performativ, im Sinne von Handlungsfähigkeit (Agency), mitgestalten. Performativ bezieht er sich hierbei auf das, was sich in Äußerungen oder Handlungen zeigt und verbirgt (Zirfas 2017; Fischer-Lichte 2021). Nach Zirfas (2017) kann das Performative als Set von Inszenierungs- und Aufführungspraktiken sozialen Handelns verstanden werden. Butler (2006) argumentiert, dass durch den Gebrauch von Sprache auch Machtverhältnisse, die sich in Diskursen etabliert haben, performativ bestätigt und so wiederum wirkmächtig werden. Performanz birgt aber nicht nur die Gefahr der Reifizierung, sondern bietet auch die Chance, abwertende Ausdrücke und einengende Kategorien durch Ironie und positive Aneignung zu hinterfragen und ihre Bedeutung zu verändern. In den Rap-Texten kann dies durch Sprache ausgedrückt werden, da die Sprache des Rap unkonventioneller ist und Jugendlichen Identifikationsmöglichkeiten bietet.
In meiner Analyse geht es auch darum, aufzuzeigen, welche Prozesse des Aushandelns, der Teilhabe und der gesamtgesellschaftlichen Positionierung sichtbar werden. In Analogie zum Postmigrationsdiskurs rückt der Begriff des Postmuslimischen in den Fokus; dieser beschreibt die Auseinandersetzung mit der „muslimischen Differenz“ (Yildiz 2020: 19f.; vgl. Donlic/Yildiz 2022). Jugendliche, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, zeigen in Rap-Texten ihre Positionierungs-, Bewältigungs- und Gestaltungsstrategien und entwickeln ihre eigenen Perspektiven auf Alltagsthemen und Erfahrungen der Migration. Die zugeschriebenen Differenzen werden hinterfragt und transformiert, entgegen eindeutigen Zuschreibungen von außen (ebd.). Im Unterschied zur Elterngeneration, die sich vielfach im gesellschaftlichen Leben defensiv positionierte, nehmen die Heranwachsenden der postmuslimischen Generation eine offensive Haltung in Hinblick auf religiöse Orientierungen und andere Alltagsthemen ein. Sie nutzen kreative Strategien und Gegenstrategien der Selbstkonstitution im Sinne der hybriden Identitäten, die sie im Alltag erleben.
Im Folgenden geht es zunächst um die Genese des Postmigrationsdiskurses (Kap. 2), bevor ausgewählte theoretische Perspektiven zu Postmigration und ästhetischer Praxis, Performativität und Partizipation im Kontext von Migration und Flucht sowie am Beispiel des Umgangs mit Religiosität aufgezeigt werden (Kap. 3). Dem schließen sich Erläuterungen zum methodischen Vorgehen der diesem Beitrag zugrunde liegenden empirischen Studie an (Kap. 4) sowie weiters eine Ergebnisdarstellung (Kap. 5) und Verdichtung (Kap. 6). Im empirischen Teil werden die Positionierungs-, Bewältigungs- und Gestaltungsstrategien am Beispiel von selbstverfassten Raps präsentiert und diskutiert. Die Jugendlichen erzählen ihre eigenen Geschichten und machen bisher marginalisierte Perspektiven sichtbar. Der Beitrag schließt mit einem Fazit und Ausblick (Kap. 7).
2. Zur Genese des Postmigrationsdiskurses
Der Begriff postmigrantisch ist nach Espahangizi (2016: o.S.) „kein Kind der Akademie“, sondern nahm seinen Ausgang in den 2000er Jahren im Kontext der darstellenden Kunst (Foroutan 2021: 46), genauer im Postmigrantischen Theater in Berlin. Dieses wollte Menschen mit Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation auf die Bühne bringen, um ihre Sichtweisen und Erfahrungen bzw. Geschichten als „Netzwerk kritische[r] Wissensproduktion in der postmigrantischen Gesellschaft“ sichtbar zu machen (Foroutan 2016: 230). Shermin Langhoff (Donath 2011: o.S.), Intendantin des Postmigrantischen Theaters in Berlin, beschreibt ihre Intention folgendermaßen:
„Wir haben uns das Label ‚postmigrantisch‘ gegeben, weil wir […] den Zustand brechen wollten. Gleichzeitig geht es um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht ‚postmigrantisch‘ in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.“
Langhoff spricht damit Projekte wie Kanak Attak2 oder Migrantenstadl3 an, welche die von außen zugeschriebenen Merkmale aufgreifen, verarbeiten, subversiv-ironisch umdeuten und kreativ auf die Bühne bringen. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Postmigration findet sich in zahlreichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Publikationen wieder (exemplarisch Yildiz/Hill 2018; Foroutan et al. 2018; Foroutan 2021; Gaonkar et al. 2021; Siouti et al. 2022). Der wissenschaftliche und künstlerische Gebrauch des Begriffs ist facettenreich. Er reicht von der postmigrantischen Kunst- und Kulturszene über postmigrantische Urbanität und postmigrantische Lebensentwürfe bis hin zur postmigrantischen Gesellschaft. Dabei wird der Begriff aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und theoretisch weitergedacht. Das Post- in Postmigration steht dabei nicht nur für „nach der Migration“, sondern vor allem für einen radikalen Perspektivwechsel (Yildiz 2022: 82), der mit hegemonialen Migrationsdiskursen bricht und auf plurale und transnationale Lebenswelten aufmerksam macht, indem Lebensentwürfe „als Schwellen, als Orte des Übergangs, der Bewegung“ konzipiert werden (Yildiz 2020: 36). Insofern erweisen sich die postmigrantischen Diskurse als widerständig gegen „eine hegemoniale Geschichtsschreibung und Wissensproduktion“ (Riegel et al. 2018: 286). Dem postmigrantischen Zugang ist es ein Anliegen, dass sich die Migrationsforschung mit der Analyse der gesamten Gesellschaft beschäftigt (Hill 2019: 37). Nach diesem Verständnis ist Migrationsforschung keine Sonderforschung, sondern Gesellschaftsanalyse (Bojadžijev/Römhild 2014: 10f.; Yildiz 2019: 16).
3. Theoretische Perspektiven
Für diese Studie wurden theoretische Zugänge herangezogen, die sich mit der postmigrantischen Generation befassen. Empirische Studien in Verbindung mit den angesprochenen theoretischen Zugängen dienen vor allem dazu, sich mit deren Alltagspraxis im Kontext von Religion, Postmigration und Performativität auseinanderzusetzen.
Ohnmacht und Yildiz (2021) legen in „Postmigrantische Generation: Von der Hegemonie zur konvivialen Alltagspraxis“ historische Zusammenhänge im Umgang mit Migration dar, denn es hat sich im Laufe der Zeit eine spezifische Haltung gegenüber Personen mit Migrationshintergrund entwickelt. Vielfach werden Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Österreich oder Deutschland eingewandert sind, auf ihre Kultur, Herkunft und Ethnizität reduziert. Im empirischen Teil des Beitrags von Ohnmacht und Yildiz offenbaren Jugendliche ihre persönlichen Erfahrungen in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung. Die Autoren unterstreichen dabei die Wichtigkeit einer postmigrantischen Sichtweise und der kritischen Auseinandersetzung mit verfestigten negativen Bildern von Migration, speziell um etwaige Konsequenzen für weiterführende Migrationsforschung im Blick zu behalten.
Donlic, Lehner und Peterlini (2021) haben sich in ihrem Beitrag „Partizipation als Gestaltungsmerkmal. Gesehen und Gehört werden“ mit partizipativen und performativen Methoden im Kontext von Flucht auseinandergesetzt, insbesondere mit Ermächtigungsprozessen in Zusammenhang mit gesellschaftlicher Teilhabe. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf Jugendlichen mit Fluchterfahrung, die eine höhere Schule in Österreich besuchen. Deren Erfahrungen wurden in Form von Vignetten dargestellt bzw. mittels Rap-Songs im Rahmen einer Performance dargelegt. Die Autor_innen sehen hierbei das Potenzial, Räume der Teilhabe und Prozesse von Partizipation bzw. Nicht-Partizipation darzustellen.
Ebenfalls grundlegend für meine Untersuchung ist Ritters Monografie „Postmigrantische Balkanbilder. Ästhetische Praxis und digitale Kommunikation im jugendkulturellen Alltag“ (2018). Der Autor befasst sich hierin vor allem mit postmigrantischen Balkanbildern in sozialen Netzwerken und arbeitet heraus, wie Jugendliche ihre gemeinsame Herkunft auf vielfältige Weise in Szene setzen. Die daraus resultierenden Fotografien und Kollagen thematisieren dabei vorrangig stereotype Vorstellungen des Balkans. Die Publikation ermöglicht Einblicke in die Medienwelt postmigrantischer Jugendlicher im deutschsprachigen Europa. Die beforschte Online-Kommunikation macht Praktiken, Symbole und Narrative dieser Jugendkultur sichtbar, die – hier zusammen mit nationalen Diskursen – zu neuen Erzählungen über das Balkanischsein, wie es Ritter ausdrückt, führen.
Hills Beitrag „Religionsandere? Re-/De-/Konstruktion einer Biografie“ (2020) thematisiert das Verständnis der fremden „Anderen“ und hinterfragt dieses kritisch. Das Bild der „armen, unterdrückten muslimischen Frau“ im deutschsprachigen Raum wirkt hierbei vor allem als Instrument der Diskriminierung. Bei Hill kommen folglich vor allem junge muslimische Frauen zu Wort, die nicht den weithin etablierten Vorstellungen entsprechen, denn sie sind gut ausgebildet und erfolgreich. Ihre Erzählungen regen einen Diskurs an, der zum Umdenken führt und somit auch eine andere Sichtweise erlaubt. Vor diesem Hintergrund erachtet Hill subjektorientierte und biografische Zugänge als besonders erkenntnisversprechend und zeitgemäß. Sie eröffnen eine differenzierte und diversitätsorientierte Perspektive auf Integrationsdiskurse und zeigen Antworten auf die Frage auf, wie biografische Konstruktionsprozesse angesichts von diskriminierenden Integrationsdiskursen aussehen.
In Analogie zum Postmigrationsdiskurs verwenden Donlic und Yildiz (2022) den Begriff der postmuslimischen Generation. Postmuslimische Jugendliche brechen Gestaltungs- und Positionierungsprozesse durch das performative Mitformen, indem sie ihre Geschichte neu erzählen (etwa im Rap), die „Utopie der Sesshaftigkeit“ (Yildiz 2010: 326) reflektieren und ihre eigenen Erfahrungen im „in-between space“ (Bhabha 1994: 38) entwerfen. Wie es auch Langhoff als Ziel ihres Theaterprojekts definiert hat, sollen dabei jene, die nicht selbst migriert sind, aber ihren Migrationshintergrund als Wissen und Erfahrung mitbringen, Aufmerksamkeit finden und ihre persönlichen Geschichten performativ aufbauen und neu (er-)finden können. Das gemeinsame Rappen ist ein die Gruppe verbindendes und zugleich ermächtigendes Medium, das junge Menschen auf die Bühne bringt und ihre Lebensentwürfe sichtbar macht.
1 Ich lehne mich an das Generationskonzept von Karl Mannheim (1964) an. Für mich besonders relevant für die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Generation ist, dass es Mannheim in seinem Konzept nicht primär um Alterskohorten geht, sondern um Gleichaltrige, die gemeinsame Erfahrungen besonders in ihrer Jugendzeit/im frühen Erwachsenenalter gemacht haben und die von ähnlichen historischen Ereignissen geprägt wurden.
2 Kanak Attak: https://www.kanak-attak.de/ka/aktuell.html.
3 Migrantenstadl: dasmigrantenstadl.blogspot.com.
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in Heft 1+2-2023 unserer ZDfm – Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management erschienen.
Mehr Leseproben …
… finden Sie auf unserem Blog.
© Unsplash 2023, Foto: Matthew Moloney