Theologische Legitimation und Deutung des Ukraine-Krieges seitens der Russisch-Orthodoxen Kirche

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 1-2023: „Es ist ein geistiger Kampf“: Predigten des Patriarchen Kirill im Kontext des Ukraine-Krieges

„Es ist ein geistiger Kampf“: Predigten des Patriarchen Kirill im Kontext des Ukraine-Krieges

Hans-Ulrich Probst

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 1-2023, S. 3-18.

 

Zusammenfassung: Neoeurasische Ideen, wie sie beispielsweise von Alexander Dugin formuliert werden, haben ihre semantischen wie inhaltlichen Bezüge zum orthodoxen Christentum. Die Vorstellung einer über die russischen Territorialgrenzen hinausgehenden Heiligen Rus bzw. einer orthodoxen Russischen Welt werden dabei auch von der Russisch- Orthodoxen Kirche vertreten. Im Kontext des Ukraine-Krieges ist Patriarch Kirill in verschiedenen Predigten an die Öffentlichkeit getreten, um den Angriff auf das Nachbarland theologisch zu rechtfertigen. Neben dualistischen Weltbildern, in denen die westlich-liberale Welt dämonisiert wird, sakralisiert Kirill die russische Nation und das russische Militär. Drei dieser Predigten dienen als empirisches Material dieses Artikels und erfahren eine vertiefte Betrachtung, um zwei Aspekten nachzugehen. Einerseits soll die politreligiöse Verschränkung von politischen und religiösen Sphären durch eine semantisch-orientierte Analyse der Predigten erkennbar werden. Andererseits wird mit Blick auf in den Predigten inszenierte und hergestellte Wissensdimensionen rekonstruiert, welche Rolle dem Konzept der Russischen Welt beigemessen wird und welche religionspolitische Dimension darin begründet liegt.

Schlüsselwörter: Orthodoxie, Neoeurasismus, Russische Welt, Heilige Rus, Patriarch Kirill

 

“It is a spiritual fight”: Patriarch Kirill’s sermons in the context of the Ukraine war

Summary: Neo-Eurasian ideas, such as those formulated by Alexander Dugin, have a semantic and content-based connection to orthodox Christianity. The idea of a Holy Rus or an Orthodox Russian World that crosses Russian territorial borders is also promoted by the Russian Orthodox Church. In the context of the Ukraine war, Patriarch Kirill has now gone public in various sermons to justify the attack on the country’s neighbour theologically. In addition to dualistic world views in which the Western liberal world is demonised, Kirill sacralises the Russian nation and the Russian military. Three of these sermons serve as empirical material for this article and are examined in depth in order to explore two aspects. On the one hand, the entanglement of political and religious spheres will become evident through a semantic-oriented analysis of the sermons. On the other hand, regarding the dimensions of knowledge staged and produced in the sermons, the role of the concept of the Russian World and its religiopolitical dimension will be reconstructed.

Keywords: Orthodoxy, Neo-eurasianism, Russian World, Holy Rus, Patriarch Kirill

 

1 Einleitung und Fragestellung

Für die Legitimierung des Krieges in der Ukraine lassen sich unterschiedliche Argumentationsweisen innerhalb der russischen Gesellschaft und Politik rekonstruieren. Der imperialistische Machtanspruch über das Territorium der Ukraine wird nicht erst seit Februar 2022 u. a. in Reden des russischen Präsidenten Vladimir V. Putin geostrategisch und geschichtspolitisch begründet. In den zurückliegenden Monaten ist in Predigten und Stellungnahmen der Russisch-Orthodoxen Kirche (in der Folge ROK) eine eigene theologische Legitimation wie Deutung des Krieges hervorgebracht worden, der unbedingt größere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte (Hovorun 2022). Beachtung fand in der internationalen medialen Auseinandersetzung in erster Linie die Predigt des Moskauer Patriarchen Kirill I. am 06. März 2022, in der er die erzwungene Durchführung von Gay-Pride-Paraden als Kriegsgrund anführte. Die kriegsunterstützende Haltung des Patriarchen ist hervorgehoben worden, ohne dass eine vertiefte theologische Analyse der Predigten stattgefunden hätte.

Diese theologische Analyse soll im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen. Dabei soll untersucht werden, wie durch eine explizit theologische Legitimation des Krieges eine politisierte Religion der ROK greifbar wird. Weiter soll nach der Bedeutung des imperialen Konzeptes der Russischen Welt gefragt werden: Inwiefern trägt dieses zur Unterstützung des Krieges bei und welche religionspolitischen Haltungen der ROK folgen daraus? Drei Predigten des Patriarchen, die seit dem 24. Februar veröffentlicht wurden, liegen als empirisches Material dieser Analyse zu Grunde. Sie werden kontextualisiert, mit einer semantisch-orientierten Inhaltsanalyse betrachtet und auf ihre wissenspoetischen Dynamiken hin beschrieben. Die grundlegende Heuristik der Untersuchung besteht einerseits in der Befragung der Predigten, ob sie Ausdruck einer politisierten Religion sind; andererseits wird die Aufnahme des Konzeptes der Russischen Welt in den Predigten betrachtet. Dass die theologische Auseinandersetzung als wichtiges Teilgebiet der Rechtsextremismusforschung zu betrachten ist, soll durch den kursorischen Blick auf die Bedeutung der christlichen Orthodoxie für die Ideologie der Neuen Rechten in Russland am Beispiel von Alexander Dugin vorangestellt werden.

2 Zur Relevanz des orthodoxen Christentums für die Analyse der extremen Rechten: Das Beispiel Alexander Dugin

Alexander Gel’evič Dugin ist als ideologischer Vordenker und Theoretiker der extremen bzw. Neuen Rechten in Russland aus verschiedenen Perspektiven ausgiebig beschrieben worden (Laruelle 2006; 2019: 95). Dugin wurde dabei als ein zentraler Vertreter der international vernetzten Neuen Rechten benannt, der ideengeschichtlich an Akteure der Konservativen Revolution der Weimarer Republik anschließe (Salzborn 2021).1 Sein Konzept eines eurasischen Raumes bzw. seine neoeurasischen geopolitischen Ideen der russischen Einflusssphäre sind ebenfalls vermessen worden (u. a. Klitsche-Sowitzki 2011). Dugin ist stark von einem manichäischen Weltbild geprägt, das sich „antiliberal, antiwestlich, antiamerikanisch, antisemitisch“ (Salzborn 2021: 171) ausgestaltet: Der (angelsächsisch geprägte) Westen als Ausdruck des Individualismus und des Kulturverfalls steht im schroffen Gegensatz zu der Idee eines partikularen, eurasischen, traditionalistischen und christlich-orthodoxen Kulturraums (Hagemeister 2016).

Doch die Relevanz des orthodoxen Glaubens bzw. der orthodoxen Theologie für Dugin trat zumeist hinter die Betonung der Konservativen Revolution und der Idee einer eurasischen Machtsphäre als wegweisende Bezugspunkte zurück. Zwar wurde der Verweis auf die Rolle der Religion hergestellt, indem der eurasische Raum als Dugins sakrales Zentrum der Welt beschrieben wurde (Clowes 2011: 43–67), zu dem es zurückzukehren gelte: „It’s time to return to myth. And that means a return to the magical, sacred and amazing country – Bright Rus“ (Dugin 2015: 604, zit. n. Clowes 2011: 53). Doch dass sich beispielsweise mit dem antiaufklärerischen Glauben an und der Kommunikation von Verschwörungsnarrativen auch christlich gefasste apokalyptische Vorstellungen verbinden, wurde erst in jüngerer Vergangenheit beschrieben (Shnirelman 2019).

Dabei spiritualisiert und mythologisiert Dugin das dualistische Gegenüber von Land-Mächten (Eurasien) und Meeres-Mächten (USA), wenn er die ideokratischen Landmächte als „militärisch-autoritäre Zivilisation“ aufgrund ihrer Orientierung am „Landelement“ charakterisiert. Im Gegensatz dazu steht die chaotische, „wässerige“ demokratische Meeresmacht. Beide Elemente, Land und Wasser, seien in der „ganze[n] Geschichte der menschlichen Gesellschaften“ in einer Feindschaft begriffen (Dugin 1997: 15, zit. n. Salzborn 2021: 173). Diese mythologische und esoterische Beschreibung einer Feindschaft der Kulturräume wird von Dugin jedoch ebenfalls in christlicher Semantik aufgeladen: Der Traditionalismus steht gegen die Globalisierung und den Westen, welcher „seelisch“ vom „Antichristen“ geprägt sei (Dugin 2013: 213). Das dualistische Weltbild zeigt sich in synkretistischer Weise in mythologischer und christlich-orthodoxer Semantik: Dugin sieht den Antichristen in der Welt, der sich in einer geplanten Neuen Weltordnung zeige, welche das Ziel verfolge, zerstörerisch auf den eurasischen Raum bzw. Kultur zu wirken. Der Glaube eines hereinbrechenden apokalyptischen Endes der Welt und der Kampf gegen den Antichristen orientiert sich dabei an Aussagen des biblischen Buches der Johannes-Offenbarung, welche Dugins manichäisches Geschichtsbild grundiere (Shnirelman 2019: 448). Der Kampf mit dem Antichristen, in dem Russland die Figur des Katechons (2 Thess 2,3 f.), also einer abwehrenden Gegenkraft zum Antichristen, einnehme, ist dabei stets antisemitisch geprägt und führt zur kontrastiven Gegenüberstellung von Judentum und Christentum.

Die Orthodoxie ist für Dugin damit der einzige christliche Ort, wo christliche Metaphysik noch erkennbar sei, da sich der Katholizismus mit seiner Nähe zur westlichen Kultur historisch von dem „metaphysischen Gehalt des Christentums“ bewusst abgewandt habe (Dugin 1999: 208). Moskau steht damit in einer Reihe der translatio imperii der Zentren des Christentums Rom und Byzanz, aus der eine innere Logik einer Entwicklungsgeschichte von Macht und territorialen Ansprüchen für das Dritte Rom (=Moskau) folgt (Hagemeister 2016: 30–31): Moskau wird zum alleinigen Statthalter der Kulturbewahrung. Dugin wird durch die These des Dritten Roms auch als entscheidender ideologischer Wegbereiter des Konzeptes der Russischen Welt betrachtet (Kalaitzidis 2022: 154).

Die knappe Auseinandersetzung mit den Ideen Alexander Dugins soll andeuten, welche Rolle der Theologie zum Verständnis der Neuen Rechten zukommt. Dies gilt wesentlich für Russland, aber in gleicher Weise für die Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten in Europa und stellt durchaus ein Desiderat der Rechtsextremismusforschung dar.

3 Theoretische Sensibilisierung und methodische Reflexion der Analyse

Die folgende Analyse der Predigten Kirills beschreibt die orthodoxe Legitimierung von nationalistischen und imperialen Zügen russischer Politik ausgehend von theologischen Deutungen des Ukraine-Krieges. Hierbei soll der Verschränkung von Politik und Religion einerseits und der theologischen Begründung von imperialen Territorialansprüchen andererseits nachgegangen werden. Gefragt werden soll in diesem Zusammenhang nach der theologischen Akzentuierung der legitimierenden Deutung der Kampfhandlungen. In der Folge werden zwei theoretische Konzepte angeführt und vorgestellt, mit denen die Überschneidung zwischen orthodoxer Theologie und imperialen Zielen der russischen Politik erkennbar werden kann. Diese Konzepte stellen die theoretische Sensibilisierung der nachfolgenden Inhaltsanalyse der Predigten dar.

3.1 Politisierte Religion

Wie lässt sich die Überschneidung von politischen und religiösen bzw. theologischen Phänomenen beschreiben? Heiner Bielefeldt und Wilhelm Heitmeyer betrachten politische und religiöse Kommunikation als zwei zunächst voneinander getrennte Diskursbereiche, wenn sie auch themenspezifisch inhaltlich aufeinander bezogen sind. Mit Blick auf die „Politisierung von Religionen“ stellen sie heraus, welche potenzielle Gefahr der Instrumentalisierung von Religion für Politik innewohne. Problematisch werde dann die Überlagerung,

„wenn religiöse Gebote unmittelbar auf alle Lebensbereiche übertragen werden und folglich auch das politische Gemeinwesen als ganzes unmittelbar fundieren sollen.“ [Hervorhebung im Original] (Bielefeldt & Heitmeyer 1998: 14)

Und weiter:

„Es bedeutet eine Krise demokratischer Verständigung, wenn die in einem theologischen Diskurs legitimen Kategorien von Glaube und Unglaube, Orthodoxie und Häresie, Berufung und Apostasie sich unmittelbar in politischen Debatten widerspiegeln“ (Bielefeldt & Heitmeyer 1998: 15).

Diese Überlappung zwischen politischem und religiös-theologischem Diskurs bleibe der jeweiligen Religion nicht nur äußerlich, sondern verändere diese substantiell. Mit dem Ziel, die Überschneidung von Politik und Religion abzuwehren, hat für die christliche Orthodoxie Cyril Hovorun (2018) ein Konzept der politisierten Religion weitergeführt. Für verschiedene orthodoxe Kirchen analysiert er die theologische Verformung durch eine Aufnahme politischer Aspekte innerhalb der Orthodoxie. Über die grundsätzliche Ablehnung der Überschneidung von Politik und Religion hinausgehend, beschreibt Hovorun für die Moderne eine Ambivalenz der kirchlichen Haltungen gegenüber säkularer Politik und Ideologien. Dabei unterscheidet er zwischen einer reflektierten Zivilreligion (civil religion), die aus dem Christentum erwachsen könne und sich im reüssierenden Fall emanzipatorisch und demokratisch auf Gesellschaften auswirke. Die Zivilreligion biete einer Gesellschaft identitätsstiftende religiöse Narrative an, zwinge den Einzelnen jedoch nicht zu deren Annahme.

Demgegenüber bestehe die Gefahr, dass aus einer falsch verstandenen Zivilreligion eine gewalttätige politisierte Religion (political religion) entstehe (Hovorun 2018: 13–46). Auch die politisierte Religion biete Identitätsstiftung an, zwinge jedoch ihre Anhänger:innen zur Annahme ihrer Regeln und Normen. Für den Kontext der ROK stellt Hovorun in seiner historischen Analyse heraus, dass bereits in der Epoche des Zaren Peter I. die russische Orthodoxie als eine politisierte Religion zu betrachten sei, da sie zu einer affirmativen Akteurin der Großmachtpolitik des Zarenreichs geworden sei. Politisierte Religion ist theologisch gewendet für Hovorun Häresie, die er insbesondere in der theologischen Legitimation von Nationalismus und Antisemitismus verortet. Als weitergehende Phänomenbereiche der politisierten Religion werden nach Dmitry Adamski die Sakralisierung und theologische Affirmation der nuklearen Abschreckung und des russischen Militärs betrachtet. Die Russische Orthodoxie sei nicht nur bestimmend für eine nationale Identität und Politik in Russland, sondern habe durch diverse kirchliche Handlungsfelder „in der russischen Gesellschaft eine pro-nukleare Weltsicht vermittelt“ (Adamski 2019: 2). Auch wenn sich Adamski auf die Verbindung von Nuklearwaffen und russischer Orthodoxie konzentriert, beschreibt er für die postsowjetischen Dekaden luzide eine zunehmende Klerikalisierung innerhalb des Staats-Kirchenverhältnisses sowie die „tiefe und fortlaufende Verschränkung von [christlich-orthodoxem] Glaube in der Politik“ in Russland (Adamski 2019: 9), die potenziell zu politreligiösen Positionen führen könne.

3.2 Russkij Mir: Die Russische Welt

Welche legitimierende Bedeutung der Idee einer die russischen Territorialgrenzen überschreitenden Russkij Mir (Russische Welt) im Kontext des Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2014 bzw. im Jahr 2022 zukommt, ist deutlich hervorgehoben worden (Hovorun, 2016; Flogaus 2022a). Vonseiten zahlreicher orthodoxer Theolog:innen ist das Konzept der Russischen Welt in der „Erklärung zur Lehre von der Russischen Welt (Ruskij Mir)“ als häretisch verworfen worden.

Marlene Laruelle bezeichnet grundsätzlich die Vorstellung einer multinationalen Russischen Welt als eine „geopolitische Imagination, ein verschwommener mentaler Atlas“, dessen Unschärfe dem Konzept strukturell innewohne (Laruelle 2015: 1). Dem pflichtet Thomas Bremer bei, wenn er die Russische Welt als ein „diffuses Konzept“ beschreibt, für das „weder klar ist, ob es sich um den Raum oder um Nationen handelt, noch die Bedeutung der russischen Kultur, insbesondere der Sprache, deutlich ist, und außer der Idee vom Zusammenhalt gibt es auch kein Ziel.“ (Bremer 2016: 17) Recht lose würden mit Verweis auf eine gemeinsame Zivilisation und Kultur die russische Einflusssphäre über die Russische Föderation hinausgehend begründet und alle ehemaligen Bürger:innen der Sowjetunion zusammengebunden, wobei Russland, die Ukraine, Belarus und die Republik Moldau als zentrale Staatsterritorien benannt werden, die integraler Teil der Russischen Welt seien.

Die historische Verankerung der Russischen Welt und Verknüpfung der modernen Staaten lägen zwar in der Heiligen Rus bzw. der „Christianisierung (Taufe), die als konstitutives Merkmal schlechthin verstanden wird“ (Bremer 2016: 7). Dies bedeute jedoch nicht, dass alle Angehörigen der Russischen Welt Teil der ROK sein müssten. Die Russische Welt stelle vielmehr einen groben Gegenentwurf zu einer als verdorben und dekadent beschriebenen westlichen Welt dar,2 in dem sich religionsübergreifende Allianzen erkennen ließen, wenn beispielsweise die moralische Übereinkunft mit konservativen sexualmoralischen Interpretationen des Islams hervorgehoben wird (Bremer 2016: 8–9). Nach Thomas Bremer spielt die Russische Orthodoxie somit als Bewahrerin von Moral und Tradition eine zentrale Rolle für die Bestimmung der Russischen Welt. Doch Bremer betont zugleich: „die Religion verliert in dieser Betrachtung ihre eigene Position und wird zu einem Instrument gemacht, das dazu dient, ein bestimmtes Wertesystem gesellschaftlich zu verankern.“ (Bremer 2016: 9) Die Idee einer Russischen Welt ist ein gesellschaftlich homogenisierendes und identitätsstiftendes Instrument mit Kohäsionskraft, für das „Elemente wie Stammesverbünde oder vor- und frühmoderne Staatsbildungsprozesse“ außer Acht gelassen werden (Bremer 2016: 7). Weiter hebt Bremer hervor, dass sich Vertreter:innen der ROK gegen ein „national verengtes Verständnis“ der Russischen Welt stark machten und die kirchlichen Positionen zu diesem Konzept „keine explizite Verbindung zu politischen Projekten haben“ (Bremer 2016: 17). Marlene Laruelle zeigt ebenso die (auch institutionell) sekundierende Haltung von Vertretern der ROK gegenüber der Russischen Welt, legt jedoch auf dessen kirchenpolitische Relevanz keinen eigenen Schwerpunkt. Die ROK sei „eine der treibenden Kräfte“, was sich jedoch in erster Linie auf moralische Aspekte beziehe (Laruelle 2015: 22).

Einen eigenen Akzent des Verständnisses der Russischen Welt legt Kristina Stoeckl vor, die die Zugehörigkeit zur Russischen Orthodoxie hervorhebt. Stoeckl arbeitet heraus, dass mit dem Konzept der Russischen Welt Machtansprüche der ROK verbunden seien: Wer unter dem Schirm der Russischen Welt stehe, müsse grundsätzlich auch beschützt und bewahrt werden. Aus der Idee der Russischen Welt würden daher gleichermaßen territoriale Ansprüche der weltlichen Macht und der kirchenjuristische Geltungsbereich des Moskauer Patriarchats abgeleitet (Stoeckl 2020: 313). Der Anspruch des Moskauer Patriarchats zur kirchlichen Rechtssprechung beziehe sich, wenn auf die Russische Welt verwiesen wird, auf fast alle postsowjetischen Staaten. Das Konzept der Russischen Welt, das bereits zu Zeiten der Sowjetunion traditionalistischen Orthodoxen in Russland einen wichtigen Anknüpfungspunkt für das Idealbild des zaristischen Russlands dargestellt habe, stelle auch heute für die Leitung der ROK einen zentralen Machtaspekt dar: Die Russische Welt sei „das Territorium, über welches das Moskauer Patriarchat kirchliche Jurisdiktionsansprüche stellt“ (Stoeckl 2020: 313). Demnach besteht für Stoeckl eine innere Verbindungslinie zwischen der Imagination einer Russischen Welt und den kirchlich-juristischen Machtansprüchen der ROK. Ähnlich bezeichnet Pantelis Kalaitzidis die Idee der Russischen Welt als ein „ethnotheologisches Konzept“, in dem sich Orthodoxie und russische Kultur in ihrer historischen Bezogenheit auf die Heilige Rus eng miteinander vermengten (Kalaitzidis 2022: 151). Innerhalb der Russischen Welt könne es nur eine einzige kirchliche Hierarchie geben, die im Patriarchen von Moskau liege.

1 Ob Dugin tatsächlich in dieser Art und Weise zentraler Akteur innerhalb der Neuen Rechten ist oder gar das „Gehirn Putins“ sei, wurde dabei kritisch angefragt (Laruelle 2019). Laruelle benennt die Vielzahl unterschiedlicher politischer Akteur:innen, die als faschistische Vertreter:innen zu verstehen sind, hebt aber auch dort Dugin hervor (Laruelle 2021, 112). Auch Andreas Umland betont, dass Dugins Wirkung zwar darin bestehe, dass das „politische und intellektuelle Zentrum Russlands nachhaltig nach rechts“ verschoben sei. Ihn als strategischen Hauptakteur der Neuen Rechten in Russland darzustellen, führe jedoch in die Irre (Umland 2019). Anton Shekhovtsov sieht für das Jahr 2014 und den Krieg in der Ost-Ukraine die Ideen Dugins in einem Mainstream der politischen Debatte Russlands angekommen (Shekhovtsov 2017). Dugins Auswirkungen innerhalb eines politischen Diskurses sind demnach sicherlich zentral, wenn auch die polit-strategische Rolle der Einzelperson Dugin nicht überschätzt werden sollte. Maruelle betont: Dugin gilt es, als „the main manufacturer of a neofacism à la russe“ darzustellen (Laruelle 2019: 95).
2 Die Abgrenzung von Ideen, die mit dem Westen konnotiert werden, hat ihre eigene Tradition innerhalb der Orthodoxie, die sich auch heute in „traditionalistischen Orientierungen“ wiederfindet (Makrides 2021: 152). Die Abwehr gegen einen projizierten Westen schuf in der Geschichte der Orthodoxie „bei vielen Orthodoxen nicht nur ein Gefühl des Auserwähltseins, da sie einen „treuen und frommen Überrest“ in einer gefallenen Welt darstellten, sondern führte auch zu Selbstgefälligkeit, Selbstgenügsamkeit, Isolationismus, Abschottung und Introvertiertheit“ [Hervorhebung im Original] (Makrides 2021: 153).

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