Ungleicher Familienalltag in der Pandemie
Katharina Manderscheid, Lorenz Gaedke
Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 4-2024, S. 435–455.
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zu ungleichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Alltag von Familien aus verschiedenen sozio-ökonomischen Milieus vor. Theoretischer Ausgangspunkt sind soziologische Theorien der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Alltagsleben von Individuen und sozialen Gruppen, insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu. Die Auswertung der qualitativen Interviewdaten zeigt, dass alle Familien im Alltag von den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie betroffen waren. Die spezifischen Auswirkungen und die Intensität der Betroffenheit variieren jedoch abhängig von individuellen Faktoren wie habituellen Dispositionen, be-/entlastenden Umständen und strukturellen Rahmenbedingungen, z. B. Freiheit in der Gestaltung der Erwerbsarbeit, aufenthaltsrechtliche Bestimmungen etc., deutlich. Dies wird in einer Typologie dargestellt.
Schlagwörter: COVID-19-Pandemie, Alltag, Bildungsungleichheit, Habitus, Familien
Unequal family life in the pandemic
Abstract
This article presents findings from a research project on the unequal impact of the coronavirus pandemic on the everyday lives of families from different socio-economic backgrounds. The theoretical starting point is sociological theories of the reproduction of social inequalities in the everyday lives of individuals and social groups, in particular the work of Pierre Bourdieu. The analysis of the qualitative interview data shows that all families were affected by the measures to contain the coronavirus pandemic in their everyday lives. However, the specific effects and the intensity of the impact vary significantly depending on individual factors such as habitual dispositions, relieving circumstances and structural conditions, e.g. freedom in the organisation of gainful employment, residence regulations, etc. This is illustrated in a typology.
Keywords: COVID-19 pandemic, everyday life, educational inequality, habitus, families
1 Einleitung
Als zu Beginn des Jahres 2020 die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zur globalen Pandemie erklärt wurde, traf diese Entwicklung die Menschen in Deutschland völlig unvorbereitet. In dieser Situation wurde zunächst über das Virus als Gleichmacher spekuliert, das jeden Menschen treffen könne (Spiegel, 2020). Doch wiesen Sozialwissenschaftler:innen früh auf eine unterschiedliche Gefährdung der Menschen hin, abhängig von ihrer Lebens- und Wohnsituation sowie ihren Tätigkeiten (u. a. Manderscheid, 2020; Manemann, 2020).
Neben den unterschiedlichen Beschäftigungssituationen sahen sich Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter oder jünger durch die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten vor besondere Herausforderungen gestellt, da sie die Kinderbetreuung neu organisieren mussten (Möhring et al., 2020). Auf Unterstützungsnetzwerke, wie z. B. auf die Großeltern, konnte häufig wegen der Kontaktbeschränkungen und Risikogruppenzugehörigkeiten nicht zurückgegriffen werden. Aufgrund zeitlicher Entgrenzung der Berufstätigkeit oder eigener Bildungs- und Sprachlücken konnten manche Eltern ihre Kinder im Homeschooling kaum unterstützen (z. B. Lochner et al., 2021). Inzwischen zeichnen sich die ungleichen Folgen für die schulischen Leistungen und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ab.
Der Beitrag stellt Ergebnisse aus dem qualitativen Teil eines Forschungsprojekts zu ungleichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Alltag von Familien aus verschiedenen sozio-ökonomischen Milieus vor.1 Das Erleben der Pandemie aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen wird dabei in den Kontext des Familienalltags gestellt und es wird gefragt, inwieweit und an welchen Stellen sich soziale Ungleichheit im Alltag von Familien während der Pandemie reproduziert. Entsprechend sehen wir im Familienalltag und der Art und Weise, wie Eltern die neue Situation bearbeiteten, einen wichtigen Faktor für die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche.
Im Folgenden gehen wir zunächst auf die theoretischen Annahmen ein, insbesondere auf ein Verständnis von sozialen Strukturen und Alltagspraktiken als zusammengehörende Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Anschließend diskutieren wir den Stand der Forschung zu Familien während der Pandemie, stellen unser Forschungsdesign vor, um schließlich unsere Ergebnisse in komprimierter Form entlang von fünf zentralen Thesen und einer Typologie darzustellen. Im Fazit werden die Befunde zusammengefasst und Limitationen benannt.
2 Theoretische Fundierung und Konzeption
Die Studie stützt sich auf soziologische Theorien der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Alltagsleben und in den Praktiken von Individuen und sozialen Gruppen. Prominent nehmen die Arbeiten von Bourdieu (1996) die Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse durch die Praktiken der Akteur:innen im Alltag in den Blick. Anstatt aber die „Schuld“ für die ungleichen Folgen des Alltagshandelns den Individuen anzulasten, bezieht er dieses auf die spezifische Position im sozialen Raum bzw. in der Gesellschaftsstruktur. Das Zusammenwirken von individuellen Praktiken und sozialer Struktur erklärt er mithilfe seines Konzeptes des Habitus, womit ein dauerhaftes Set von, primär während der Kindheit in der Familie und im sozialen Umfeld erworbenen und verinnerlichten, Dispositionen, Orientierungen, Denk- und Wahrnehmungsmustern gemeint ist. Dieses strukturiert im Sinne einer generativen Grammatik in verschiedenen Situationen den Rahmen der wahrgenommenen und möglichen Handlungsalternativen. Der Habitus unterscheidet sich maßgeblich nach Klasse bzw. sozialer Schicht2, Geschlecht und Raumverortung (Bourdieu, 1996; Krais & Gebauer, 2002; Bourdieu & Wacquant, 1996).
Die soziale Klassenlage, von Bourdieu auch als Position im sozialen Raum bezeichnet (Bourdieu, 1996, 1983), ist geprägt von spezifischen Konstellationen sozialer Ressourcen, insbesondere des Einkommens (ökonomisches Kapital), der Bildung (kulturelles Kapital) und der sozialen Zugehörigkeit (soziales Kapital) (Bourdieu, 1983). Während die Vererbung des ökonomischen Kapitals unmittelbar einsichtig ist, erfolgt die Weitergabe des kulturellen Kapitals subtiler über die Bildungsinstitutionen, die einen bildungsbürgerlichen Erfahrungshorizont und entsprechende Verhaltensweisen mit schulischem Erfolg honorieren. Zudem spielt bei der Vererbung des kulturellen Kapitals, so Bourdieu (1983, S. 188, S. 197), die Familie und dabei vor allem die verfügbare Zeit sowie die Bildung des für die Kindererziehung zuständigen Elternteils – in der modernen Kleinfamilie der Nachkriegszeit typischerweise der Mutter (Hurrelmann, 2006, S. 134; Hobler et al., 2017) – eine große Rolle.
Zu den weiteren theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der vorliegenden Studie gehört das Konzept der alltäglichen Lebensführung (Voß & Weihrich, 2001), vor allem in seiner Zuspitzung auf die relationale familiale Lebensführung (Rerrich, 2000). Lebensführung meint hier die Art und Weise, wie die verschiedenen Sphären des Alltags – Erwerbs- und Care-Arbeit, Freizeit, Vergemeinschaftung etc. – zu einem Ganzen integriert werden, das dem:der Einzelnen dann als quasi äußerer Gesamtzusammenhang erscheint. Mit der Betonung der familialen Dimension wird in diesem Kontext die wechselseitige Verschränkung und Bedingtheit der Lebensführung innerhalb von Familien hervorgehoben, die jeweils spezifischen, aufeinander abgestimmten raumzeitlichen Mustern folgen. Die Arbeiten zur familialen Lebensführung zeigen, dass in individualisierten Gesellschaften der Familienalltag zur zunehmend komplexen Gestaltungsaufgabe wird. Insbesondere neue Anforderungen an die Alltagsorganisation, die bspw. aus gesellschaftlichen, ökonomischen oder individuellen Krisen resultieren, können je nach materiellen, kulturellen, sozialen und persönlichen Ressourcen neue Chancen, aber auch neue Risiken für Familien mit sich bringen und Handlungsspielräume erweitern oder zu einem Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit führen (Rerrich, 2000, S. 247).
Beiden Ansätzen gemeinsam ist der integrale Blick auf soziale Strukturen und Alltagspraktiken als zusammengehörende Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Soziale Ungleichheit ist hier kein Merkmal von Individuen, sondern sozialer Zusammenhänge, angefangen von Haushalten und Familien über soziale Gruppen und Milieus bis hin zu sozialen Klassen. Alltagspraktiken, Lebensführung und Lebensstile werden entsprechend nicht als individuelle Entscheidung oder Leistung, sondern als Effekt des komplexen Zusammenspiels von erlernten Dispositionen und verfügbaren Mustern, rahmenden Kontexten, Herausforderungen und Ressourcen sowie der Einbindung in soziale Zusammenhänge verstanden.
3 Stand der Forschung: Die Pandemie und der Alltag von Familien
Bereits mit Beginn der restriktiven Corona-Maßnahmen im März 2020 entstand ein großes Interesse, die Effekte und Auswirkungen zu messen und zu erforschen. Unter anderem kommen Huebener et al. (2021b, S. 113) schon sehr früh zu dem Ergebnis, dass die Lebens- und Familienzufriedenheit während des ersten Lockdowns bei Personen mit Kindern stärker zurückgegangen ist als bei Personen ohne Kinder. Am stärksten seien Befragte mit Kindern unter elf Jahren und mit geringer Bildung sowie Frauen betroffen gewesen. Geissler et al. (2022, S. 20) beobachten bei Müttern und Vätern „einen signifikanten Anstieg von Gefühlen der Hilflosigkeit in der Erziehung und einen Rückgang im Gefühl, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht werden zu können“. Nach der Lockerung der Restriktionen stieg die Lebenszufriedenheit wieder an (Bujard et al., 2023).
Auch im weiteren Pandemieverlauf erwiesen sich Eltern besonders stark belastet. Hövermann (2021, S. 10) kann zeigen, dass Anfang 2021 mehr Befragte als während des ersten Lockdowns von „sehr hohe[n] Belastungen der familiären und der Gesamtsituation“ (Hövermann, 2021, S. 10) berichteten. Erneut wiesen Mütter die höchsten Belastungen auf (Huebener et al., 2021a).
Die qualitativen Befunde von Knauf (2021) und ähnlich von Engelke et al. (2022) identifizieren das Vereinbaren von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung sowie die Beschulung der Kinder und Übernahme der Lehrer:innenrolle als belastende Herausforderung für Eltern (Engelke et al., 2022, S. 14). Es zeigen sich auch Zusammenhänge mit sozio-ökonomischen und -kulturellen Ressourcen: „So gaben beispielsweise 30 Prozent der befragten Eltern mit hoher Bildung und hohem Einkommen an, ihr Leben sei ruhiger geworden, aber nur 15 Prozent der Eltern mit einfacher Bildung und geringem Einkommen“, konstatiert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020, S. 8). Während des zweiten Lockdowns äußerten Eltern mit niedrigen Einkommen hinsichtlich Familien- und Gesamtsituation laut Hövermanns Datenauswertung (2021, S. 10) die allerhöchsten Belastungen.
Allerdings wurde die Pandemie nicht nur belastend erlebt. Qualitative Befragungen zeigen auch, dass viele Eltern die Phase des Zusammenseins während des ersten Lockdowns als Gewinn bewerteten und dabei sowohl die Entschleunigung als auch die Möglichkeit, Einblick in den Schulalltag ihrer Kinder zu erhalten, schätzten (Knauf, 2021, S. 14). Auch engere Beziehungen innerhalb der Kernfamilie wurden positiv hervorgehoben (Bujard et al., 2020, S. 52; Engelke et al., 2022, S. 106). Für Brandenburger Familien können Schabel et al. (2022, S. 25, 27) eine stabile familiale Kohäsion gegenüber äußeren Einflüssen und bei ca. der Hälfte der Befragten ein gesteigertes Zusammengehörigkeitsgefühl zeigen. Demgegenüber konnte nach dem ersten Lockdown ein Drittel der von Calvano et al. (2022, S. 11) befragten Eltern keine positiven Aspekte benennen.
1 Das Projekt wurde von der VolkswagenStiftung von Februar 2021 bis Juli 2022 gefördert. Eine ausführliche Ergebniszusammenstellung findet sich in Gaedke et al., 2022.
2 Während im französisch- und englischsprachigen Kontext selbstverständlich von sozialer Klasse gesprochen wird, ist dies in der deutschsprachigen Soziologie primär im Kontext marxistischer Theorien der Fall. In der Sozialstrukturanalyse und Gesellschaftspolitik wird häufiger von sozialen Schichten oder Milieus gesprochen (Mau & Verwiebe, 2020). Auch in der subjektiven Wahrnehmung der Menschen finden sich häufiger Schicht- als Klassenzugehörigkeiten (u. a. Brünning, 2021).
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