Zeitstruktur der Krisenmythen im Zentrum rechtsextremer und rechtspopulistischer Weltbilder

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie 2-2023: Ordnung, Verfall, Ausnahmezustand. Zur Zeitstruktur rechter Krisenmythen

Ordnung, Verfall, Ausnahmezustand. Zur Zeitstruktur rechter Krisenmythen

Leo Roepert*

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 2-2023, S. 253-274.

 

Schlüsselwörter: ‚Neue Rechte‘, Krise, Ausnahmezustand, Zeit, Kritische Theorie, Mythen

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Zeitstruktur der Krisenmythen, die im Zentrum rechtsextremer und rechtspopulistischer Weltbilder stehen. Geschichte erscheint in ihnen als zunehmende Zerstörung der ewigen Substanz der eigenen Ordnung durch schicksalhafte Verfallstendenzen oder die Verschwörung dunkler Mächte. Die Gegenwart als Ausnahmezustand ist bestimmt von einer apokalyptischen Zukunftsvorstellung, in der ein Kampf zwischen Gut und Böse über Rettung oder Untergang entscheidet. Diese Erzählung wird ausgehend von der Kritischen Theorie als Ausdruck der Radikalisierungsdynamik des autoritären Subjekts interpretiert. Unter Krisenbedingungen schlägt die konservative Haltung um in die konformistische Revolte, die darauf zielt, die bestehende Ordnung zu überwinden, damit sie werden kann, was sie immer gewesen ist.

Abstract: This article examines the time structure of the myths of crisis that are at the center of rightwing extremist and right-wing populist worldviews. They perceive history as the increasing destruction of the eternal substance of the social order by fateful tendencies of decay or the conspiracy of dark forces. The present as a state of emergency is determined by an apocalyptic conception of the future, in which a struggle between good and evil decides between salvation and doom. This narrative is interpreted on the basis of critical theory as an expression of the radicalization of the authoritarian subject. Under conditions of crisis, the conservative attitude turns into the conformist revolt that aims to overcome the existing order so that it can become what it has always been.

 

1. Einleitung

Das gegenwärtige Erstarken der extremen und populistischen Rechten wurde von den Sozialwissenschaften vielfach mit gesellschaftlichen Krisenprozessen in Verbindung gebracht. So wurde argumentiert, dass der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die zunehmende Aushöhlung westlicher Demokratien (vgl. Mouffe 2017, 2018; Schäfer/Zürn 2021) oder auf die Verwerfungen der neoliberalen Globalisierung darstellt (vgl. Manow 2018; Streeck 2017). Während die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen gesellschaftlichen Krisen und der Konjunktur autoritärer und populistischer Kräfte breit geteilt wird (vgl. Moffitt 2015), wurde der Frage, in welcher Weise rechte Akteur*innen Krisen interpretieren, bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil.

Der vorliegende Beitrag untersucht die Struktur zeitgenössischer rechter Krisenmythen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Zeitdimension. Dabei soll gezeigt werden, dass in diesen Krisendeutungen eine Radikalisierungsdynamik des rechten Denkens zum Ausdruck kommt. Was die extreme und populistische Rechte vom bürgerlichen Konservatismus unterscheidet, ist die Vorstellung von Geschichte als Verfall der eigenen Ordnung oder als Angriff feindlicher Kräfte. Die Gegenwart erscheint als apokalyptische Zuspitzung dieser Bedrohung. Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass eine Konfrontation mit dem Feind und ein Bruch mit dem status quo notwendig ist, um die als zeitlos gedachte Substanz des Eigenen zu bewahren oder wiederherzustellen. Die mythologische Zeitvorstellung dieser Krisenerzählung unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten von der funktionalen abstrakt-linearen Weltzeit, die den Normalbetrieb der modernen Gesellschaft strukturiert (vgl. Dux 1989): Durch das drohende Ende des Eigenen erscheint die Zeit als begrenzt. Sie ist zugleich zirkulär (statt linear), insofern sie die Wiederherstellung einer ewigen Substanz in Aussicht stellt; und sie ist konkret (statt abstrakt), da für das rechte Denken in Kollektivsubjekten das gegenwärtige Geschehen im Wesentlichen als Entfaltung von Handlungsintentionen erscheint.

Zur Interpretation der rechten Krisenmythen sollen die gesellschafts- und subjekttheoretischen Überlegungen der frühen Kritischen Theorie herangezogen werden. Das Weltbild der extremen und populistischen Rechten, so die These, ist Ausdruck einer krisenbedingten Aufkündigung der Identifikation mit der gesellschaftlichen Ordnung, die den bürgerlichen Konservatismus auszeichnet. An ihre Stelle tritt eine Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität, die zwischen einer zu rettenden Substanz der eigenen Ordnung einerseits und destruktiven Mächten und Verfallserscheinungen andererseits unterscheidet. Diese ermöglicht sowohl die Aufrechterhaltung verunsicherter Identität als auch kognitive und praktische Orientierung in einer gesellschaftlichen Krisensituation, indem mit Blick auf die Vergangenheit Ursachen angegeben werden, welche die Krise der Gegenwart erklären sollen und für die Zukunft Möglichkeiten zu deren Bekämpfung aufzeigen.

Untersuchen werde ich die rechten Krisendeutungen an ausgewählten Beispielen aus dem Feld der deutschsprachigen ‚Neuen Rechten‘.1 Unter diesem Begriff lässt sich ein Milieu von Diskursakteur*innen innerhalb der extremen und populistischen Rechten fassen, das es als seine zentrale Aufgabe betrachtet, öffentliche Debatten im Sinne der eigenen Agenda zu beeinflussen. Als Untersuchungsfeld ist die ‚metapolitische‘ ‚Neue Rechte‘ geeignet, weil ihre Begriffe, Ideen und Deutungsmuster vom breiteren Spektrum rechter Parteien und Bewegungen und zum Teil auch vom Diskurs der ‚Mitte‘ aufgegriffen werden (vgl. Keßler 2018: 127–199; Weiß 2011, 2017). Sowohl ideell als auch durch Netzwerke erfüllt sie daher eine Scharnierfunktion (vgl. Gessenharter 1994). Die Analyse neu-rechter Krisenmythen macht deutlich, dass Rechtspopulismus, extreme Rechte und bürgerlicher Konservatismus – bei allen Unterschieden, die eine typologische Begriffsbildung feststellen kann (vgl. etwa Rucht 2017: 35–38) – nicht als klar abgegrenzte Phänomene betrachtet werden können, sondern als Teil eines Kontinuums verstanden werden sollten, das durch eine immanente Radikalisierungsdynamik bestimmt ist.2

Die Untersuchung geht in sechs Schritten vor: Zu Beginn werden einige zentrale gesellschafts- und subjekttheoretische Überlegungen der frühen Kritischen Theorie skizziert, die als Interpretationsrahmen für die Analyse des Materials dienen (2.). Anschließend wende ich mich der Untersuchung der neu-rechten Krisenmythen zu und zeichne zunächst nach, wie das Eigene als zeitlose und zugleich historische Substanz charakterisiert wird (3.). Die Bedrohung dieser Substanz wird entweder auf eine schicksalhafte historische Verfallstendenz (4.) oder aber auf eine umfassende Verschwörung zurückgeführt (5.). Die gegen das Volk konspirierenden Mächte bedienen sich, so einige neurechte Autor*innen, auch des Ausnahmezustandes, was eine drastische Zuspitzung der Bedrohungslage anzeige und entschiedene und schnelle Gegenwehr nötig mache (6.). Das abschließende Kapitel fasst das Ergebnis der Untersuchung zusammen: Die neu-rechten Krisenmythen, die im Namen des ewig Geltenden zum Umsturz des Bestehenden aufrufen, können als Ausdruck einer immanenten Radikalisierung des Konservatismus verstanden werden (7.).

2. Kritische Theorie: Krise und konformistische Revolte

Die gesellschafts- und subjekttheoretischen Überlegungen der (frühen) Kritischen Theorie, die der Untersuchung als theoretischer Rahmen dienen, schließen an die von Karl Marx entwickelte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft an. Marx (2007: 591–639) zeigt, dass die kapitalistische Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft durch den Zwang zur Akkumulation bestimmt ist. Kapitalistische Privatproduzenten setzen Produktionsmittel und Arbeitskraft ein, um Waren herzustellen, die mit Profit verkauft werden sollen. Um in der Konkurrenz zu bestehen, sind sie gezwungen, einen Teil des Profits zu reinvestieren und ihr Kapital auf „erweiterter Stufenleiter“ (Marx 2007: 605) zu reproduzieren. Die kapitalistische Ökonomie hat damit zum einen eine zirkuläre Struktur, da das durch den Verkauf der Waren erwirtschaftete Geld zum Ausgangspunkt für einen neuen Produktionszyklus wird; zum anderen gehorcht sie einer Steigerungslogik, da der Imperativ der Akkumulation zu einer permanenten Umwandlung der Elemente der Produktion – zur Anschaffung neuer Produktionsmittel, zur Erfindung neuer Produktionsmethoden, zur Anpassung und Qualifizierung der Arbeitskraft und so weiter – zwingt. Da das Kapital einen ständigen Formwandel vollziehen muss, um sich zu erhalten, ist die bürgerliche Gesellschaft durch ein spezifisches Verhältnis von Dynamik und Konstanz geprägt (vgl. Postone 2003: 431–461; Rosa 2012: 257–279). Während von der Ökonomie ein Dynamisierungszwang ausgeht, der zu einer – mal kontinuierlichen, mal disruptiven – Veränderung der materiellen wie kulturellen Elemente der Gesellschaft führt, zeichnen sich die institutionellen Rahmenbedingungen durch eine relative Dauerhaftigkeit aus.

Diese temporale Struktur prägt auch das spezifische Zeitverständnis der Moderne. Die Dynamik und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft führt zur Durchsetzung eines historischen Bewusstseins auf der Grundlage eines Begriffs chronologisch-linearer und abstrakter Weltzeit, welche die Koordinierung von Gleichzeitigem ermöglicht (vgl. Dux 1989: 312–348; Koselleck 2000; Nassehi 2008: 299–317). Damit einher geht die Vorstellung einer offenen Zukunft (vgl. Luhmann 1990), an die sich die Fortschrittkonzepte des liberalen wie die Reform- und Revolutionsperspektiven des linken Denkens anschließen, während die Postulate ewiger Werte und Ordnungen, die im Zentrum des Konservatismus stehen, sich auf die relative Dauer institutioneller Grundstrukturen beziehen können.

Die dynamische Struktur der kapitalistischen Ökonomie übt auf Individuen versachlichte Handlungs- und Anpassungszwänge aus (vgl. Adorno 2003a). Als politische Subjekte sind sie mit gleichen Freiheitsrechten ausgestattet und damit von personaler Herrschaft befreit; als Subjekte der kapitalistischen Ökonomie haben sie jedoch keinen unmittelbaren Zugang zu den materiellen Grundlagen ihrer Reproduktion und sind darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft oder Waren auf Märkten zu verkaufen. Die Kritische Theorie zeigt, dass sich die Freiheit des bürgerlichen Subjekts auf diese Weise in Selbstzwang verkehrt: sein Denken und Handeln wird zu einem Mittel der Anpassung an den „stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 2007: 765) und die damit verbundenen Normen (vgl. Adorno 2003a: 14 f.; Fromm 2021: 80–91; Horkheimer 1990).3 Die Position des Subjekts ist strukturell prekär. Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich, so Theodor W. Adorno, durch „die Undurchsichtigkeit und Zufälligkeit des Ganzen für das Individuum“ aus (Adorno 2003b: 152; vgl. auch Adorno 2003c: 53 f.). Da das Marktgeschehen durch Konkurrenz und Intransparenz geprägt ist, ist nie sicher, ob und wie die ökonomische Reproduktion sichergestellt werden kann. Hinzu kommt, dass dem Kapitalismus die „Möglichkeit der Krise“ (Marx 1956: 510) innewohnt – von konjunkturellen und branchenbezogenen Krisen bis hin zu globalen Wirtschaftskrisen.

Aus dem Interesse der frühen Kritischen Theorie an den Mechanismen, die Individuen in heteronome Ordnungen integrieren, entsteht die Theorie des autoritären Charakters (vgl. Jay 1991: 143–174, 261–296). Dieser reagiert auf die Krisenhaftigkeit seiner Subjektposition mit einer „Flucht vor der Freiheit“ (Fromm 2021: 8). Er passt sich den gesellschaftlichen Anforderungen an, indem er sich Autoritätsfiguren (wie dem Vater, Vorgesetzten, Politiker), aber auch abstrakten Autoritäten wie Konventionen, Werten, Weltanschauungen unterwirft und mit ihnen identifiziert. Angst- und Ohnmachtsgefühle werden verdrängt, während gesellschaftlich erzeugte Frustrationen und die daraus entstehenden Aggressionen auf sozial Schwache und Außenseiter umgeleitet und an ihnen ausagiert werden (vgl. Adorno 1995, 2003d; Fromm 1993, 2021: 207–133).

Das autoritäre Syndrom ist jedoch nicht einheitlich und stabil, sondern in sich widersprüchlich und dynamisch (vgl. Adorno 1995: 1–15, 303–313). In den Studien zum autoritären Charakter unterscheidet Adorno daher verschiedene Typen des Autoritären (vgl. ebd.: 314–338). Für die folgende Argumentation sind vor allem der konventionelle und der klassisch autoritäre Typus einerseits und der rebellische Typus andererseits von Relevanz. Die ersten beiden Typen teilen den „konformistischen Aspekt“ (ebd.: 324) und weisen Überzeugungen auf, die sich als bürgerlich-konservativ charakterisieren lassen (Betonung von Ordnung und Stabilität, Idealisierung von Macht, starke Identifikation mit Familie und Nation, stereotype Geschlechterbilder).4

* Leo Roepert, Universität Hamburg, Kontakt: leo.roepert@uni-hamburg.de
1 Die Auswahl und Interpretation der Texte erfolgte theoriegeleitet. Ausgewählt wurden aktuelle Texte aus dem Diskurs der ‚Neuen Rechten‘, an denen sich die typischen Komponenten und unterschiedlichen Temporalitäten rechter Krisenerzählungen und das dynamische Verhältnis zur Autorität in den Selbst- und Fremd- beziehungsweise Feindbildern besonders gut untersuchen ließ. Ein weiteres Kriterium war der vermutete Einfluss innerhalb des neurechten Diskursfeldes und darüber hinaus. So stammen einige der untersuchten Texte von prominenten Politikern der AfD wie Björn Höcke und Alexander Gauland, die zugleich in der neurechten Publizistik aktiv sind, andere aus der Zeitschrift Sezession, einem zentralen Diskursorgan der deutschsprachigen ‚Neuen Rechten‘.
2 Eine ähnliche Perspektive, wenn auch mit anderem theoretischem Hintergrund, vertreten Natascha Strobl (2021) und Thomas Biebricher (2023).
3 Zur Rekonstruktion der Theorie versachlichter Herrschaft bei Marx vgl. Mau (2021).
4 Autoritarismus und Konservatismus werden in der Kritischen Theorie jedoch nicht gleichgesetzt; zum einen wird immer wieder auf autoritäre Tendenzen bei Liberalen und Linken hingewiesen, zum anderen werden genuin Konservative vom Autoritarismus abgegrenzt, vgl. hierzu etwa Adorno (1995: 205–219).

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