„To see a good man transform into a bad man“. Zur Frage der Normativität des Konzepts transformatorischer Bildungsprozesse
Hans-Christoph Koller
Pädagogische Korrespondenz, Heft 2-2024 (Nr. 70), S. 84-102.
In einem Interview beschreibt Vince Gilligan, der Erfinder der erfolgreichen US-amerikanischen Fernsehserie „Breaking Bad“, die Besonderheit dieser Serie1 so:
„To my way of thinking, Breaking Bad is an experiment in television. Historically, television is about stasis. It’s about maintaining a character at a certain place in time, sometimes for years or decades […]. But time does not stand still, and I thought it’d be interesting as an experiment to create a television show where a major point of the show was change – to see a good man transform into a bad man“ (Sepinwall 2012, S. 359f.).
Tatsächlich erzählt die Serie von einer erstaunlichen Wandlung: Zu Beginn erscheint Walter White, der Protagonist, als unauffälliger Chemielehrer und wohlmeinender Familienvater. Doch als er erfährt, dass er an Lungenkrebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat, beginnt er mit der Herstellung und dem Verkauf von Chrystal Meth, einem stark abhängig machenden Aufputschmittel, und entwickelt sich dann Schritt für Schritt zum immer rücksichtsloseren Drogenboss, der schon bald auch über Leichen geht, um sein Geschäftsmodell aufrecht zu erhalten (vgl. Gilligan/ Johnson 2008-2013 und für eine prägnante Nacherzählung dieser Entwicklung Rieger-Ladich 2014, S. 23ff.). Diesen sich über insgesamt fünf Staffeln hinziehenden Veränderungsprozess haben Olaf Sanders (2014) und Markus Rieger-Ladich (2014) zum Anlass genommen, zu fragen, ob diese Wandlung aus bildungstheoretischer Perspektive als Bildungsprozess zu verstehen sei. Beide beziehen sich dabei auf das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse, das Bildung als Transformation grundlegender Figuren der Art und Weise versteht, in der sich ein Mensch zur Welt, zu anderen und zu sich selber verhält, und das davon ausgeht, dass solche Transformationen durch Krisenerfahrungen ausgelöst werden, die die bisherigen Welt- und Selbstbezüge eines Menschen nachhaltig erschüttern. Sanders und Rieger-Ladich geht es um die Frage, ob jede Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses – und damit auch die Entwicklung Walter Whites from „a good man into a bad man“ – als Bildung bezeichnet werden soll oder ob dazu zusätzliche Kriterien erfüllt sein müssen. Beide kommen dabei zu gegensätzlichen Ergebnissen: Während Sanders die Beschreibung von Whites Wandlung als Bildungsprozess für potenziell erkenntnisförderlich hält und vorschlägt, den Bildungsbegriff um die Dimension einer „Bildung zum Bösen“ zu erweitern, kritisiert Rieger-Ladich eine rein formale Auffassung von Bildung als Transformation und hält es für unabdingbar, inhaltliche Kriterien zu formulieren, um die Richtung der Transformation näher zu qualifizieren.
Das Beispiel ist geeignet, eine wissenschaftstheoretische Frage zu erörtern, die in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft nach längerem Stillschweigen in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gefunden hat: die Frage nach der Normativität erziehungswissenschaftlicher Konzepte und Theorien. Einen wichtigen Bezugspunkt dieser Debatte bildet das Postulat der Werturteilsfreiheit bzw. der Wertneutralität von Wissenschaft. Dieses Postulat kann einerseits als charakteristisch für das Selbstverständnis weiter Teile erziehungswissenschaftlicher Forschung gelten, ist aber andererseits auch auf entschiedenen Widerspruch gestoßen, weil der Verzicht auf bewertende bzw. normative Aussagen sich in der Forschungspraxis nicht durchhalten lasse. Die folgenden Überlegungen greifen diese Diskussion auf, aber konzentrieren sich – ausgehend von dem Beispiel aus „Breaking Bad“ – auf die Frage nach den normativen Implikationen des Konzepts transformatorischer Bildungsprozesse.
Der Beitrag gliedert sich in drei Schritte: Er beginnt mit einer knappen Skizze des Konzepts transformatorischer Bildungsprozesse (I), um im zweiten Schritt die Frage nach dessen normativen Implikationen in die wissenschaftstheoretische Debatte über Normativität in der Erziehungswissenschaft einzuordnen (II). Der dritte Teil kehrt zum Verständnis von Bildung als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses und dem Beispiel aus „Breaking Bad“ zurück, um zu erörtern, welche Schlussfolgerungen aus der wissenschaftstheoretischen Debatte im Blick auf das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse gezogen werden können (III).
I
Zum Konzept transformatorischer Bildungsprozesse
Das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse, das vor allem auf Rainer Kokemohr (2007), Winfried Marotzki (1990) sowie Helmut Peukert (2015) zurückgeht und von mir und anderen weiterentwickelt wurde (vgl. Koller 2023), stellt eine Neubestimmung des Bildungsbegriffs dar, die versucht, diesen Begriff so zu reformulieren, dass er den Herausforderungen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen gerecht wird. Die Grundzüge des Konzepts lassen sich in erster Annäherung erläutern, indem man Bildungsprozesse von Lernprozessen unterscheidet (vgl. Marotzki 1990, S. 52f.). Lernen bedeutet demnach, sich neue Informationen anzueignen, während Bildung als höherstufiger Prozess zu verstehen ist, bei dem sich auch die Art und Weise der Informationsverarbeitung verändert. Bildung ist daher nicht nur als Akkumulation von Wissen oder Kompetenzen zu begreifen, sondern als Veränderung des Umgangs mit diesem Wissen oder allgemeiner formuliert: als eine Transformation der Art und Weise, in der ein Subjekt sich zur Welt, zu anderen und zu sich selber verhält.
Bildungsprozesse in diesem Sinne vollziehen sich dem Konzept zufolge nicht nur durch die harmonische „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“, wie es Wilhelm von Humboldt (1980, S. 235f.) formuliert hat, sondern kommen zustande, wenn Menschen mit krisenhaften Erfahrungen konfrontiert werden, für deren Bearbeitung ihre etablierten Welt- und Selbstbezüge nicht ausreichen. In formelhafter Verdichtung kann Bildung als Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses gefasst werden, der durch Krisenerfahrungen ausgelöst wird, die die bisherigen Welt- und Selbstbezüge eines Menschen nachhaltig in Frage stellen.
Die genauere Ausarbeitung einer empirisch fundierten Theorie transformatorischer Bildungsprozesse muss nun die Fragen beantworten, wie sich Welt- und Selbstverhältnisse als Gegenstand solcher Transformationen theoretisch erfassen lassen, wie man die Problemlagen näher bestimmen kann, die den Anlass für solche Bildungsprozesse darstellen und welche Bedingungen ausschlaggebend dafür sind, ob es angesichts der Konfrontation mit neuartigen Problemen statt zur Restabilisierung zu einer Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses kommt.
Für das Thema dieses Beitrags besonders relevant ist aber eine weitere Frage, nämlich die nach den normativen Implikationen dieses Konzepts. Wie eingangs skizziert steht dabei die wissenschaftstheoretische Frage zur Debatte, ob es sich hier um ein rein deskriptives Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse von Bildungsprozessen handelt oder um ein normatives Konzept, das besagt, welche Transformationen als pädagogisch wünschens- und unterstützenswert gelten sollen. Anders gefragt: Soll jede grundlegende Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen – und d.h. z.B. auch die Entwicklung Walter Whites vom Chemielehrer und Familienvater zum vor Gewalt nicht zurückschreckenden Drogenproduzenten – als Bildungsprozess bezeichnet werden oder sind für eine solche Bezeichnung weitere Bedingungen erforderlich?
Für ein Verständnis dieser Entwicklung als Bildungsprozess spricht in erster Annäherung, dass es sich bei Whites Veränderung nicht nur um den Erwerb neuen Wissens und neuer Kompetenzen handelt, sondern dass davon auch das gesamte Welt- und Selbstverhältnis der Figur betroffen ist. Die Krebs-Diagnose wäre dann als Krisenerfahrung zu deuten, die Whites bisheriges Welt- und Selbstverhältnis grundlegend in Frage stellt – Sanders (2014, S. 72) spricht von einer „Bildungsherausforderung“. Dass White sich mit seinem schmalen Lehrergehalt und einer schlechten Krankenversicherung weder teure medizinische Behandlungen leisten kann, noch in der Lage ist, für Frau und Kinder vorzusorgen, falls er bald sterben sollte, gibt dann den Ausschlag dafür, in die Drogenherstellung einzusteigen, und damit für eine sich allmählich vollziehende Transformation von Whites Welt- und Selbstverhältnis, die in der Serie in zahlreichen Facetten dargestellt wird. Äußerlich zeigt sich diese Veränderung etwa darin, dass White, als ihm aufgrund seiner Krebsbehandlung die Haare ausfallen, sich eine Glatze rasiert und für seine geschäftlichen Aktivitäten den Decknamen „Heisenberg“ zulegt, während seine innere Wandlung u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass er zwar zunächst sichtbare Schwierigkeiten hat, einen Menschen umzubringen, im Laufe der Zeit dann aber immer skrupelloser im Umgang mit Freund und Feind wird. Die Analyse dieses Transformationsprozesses ließe sich durchführen, ohne sie zu bewerten und das Postulat der Wertneutralität zu verletzen.
Gegen eine Auffassung dieser Transformation als Bildungsprozess spricht allerdings, dass der Bildungsbegriff in der pädagogischen Tradition in aller Regel positiv konnotiert ist. Bildung gilt als etwas Erstrebenswertes, das es durch pädagogisches Handeln zu befördern gilt (vgl. z.B. Ruhloff 2000, S. 118) – und das scheint bei der skizzierten Veränderung doch mehr als fraglich – auch wenn die komplexe Struktur der Serie die moralische Bewertung des Protagonisten von „Breaking Bad“ weniger eindeutig erscheinen lässt, als die Formulierung „from a good man into a bad man“ nahelegt (dazu später mehr).
1 „Breaking Bad“ ist aber keineswegs die einzige Serie, deren Charaktere komplexen Veränderungen unterliegen. Ähnliches ließe sich etwa auch von „The Sopranos“ oder „The Wire“ sagen (vgl. Rieger-Ladich 2014, S. 17f.).
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