Paradoxien des religiösen Nationalismus
Patrick Becker
RadiX – Zeitschrift für Radikalisierungsforschung und Prävention, Heft 1-2025, S. 83-115.
Abstract: Der Beitrag analysiert Formen des religiösen Nationalismus, die in den letzten Jahrzehnten in allen Teilen und Kulturen der Welt sichtbar wurden und daher als ein globales Phänomen der Moderne bestimmt werden. Als neuartig wird ausgewiesen, dass religiöser Fundamentalismus von einem politisch aufgeladenen Pragmatismus bestimmt wird, der die Allianz mit nationalistischen Bewegungen möglich und ihn gesellschaftlich wirkmächtig macht. Im ersten Schritt des Beitrags wird ein historischer Bogen gezogen, der die langfristigen Bezüge des Phänomens in Europa und seine heutige weltweite Wirksamkeit aufzeigt. Im zweiten Schritt wird die innere Logik und damit Attraktivität des religiösen Fundamentalismus anhand zweier Fallstudien nachgezeichnet, sodass die heutige Verknüpfung mit nationalistisch ausgerichteter Politik nachvollziehbar wird. Im dritten Schritt wird dieser Zusammenschluss theoriegeleitet analysiert und auf die Paradoxien, die ihn kennzeichnen, verwiesen. Diese werden abschließend als Ansatz für die politische Auseinandersetzung genutzt, indem daraus Hinweise auf eine mögliche Präventionsarbeit in Deutschland gewonnen werden.
Schlüsselbegriffe: Fundamentalismus; Religion; Nationalismus; Moderne
1. Das Aufkommen eines alten Phänomens
Mit der konfessionellen Aufspaltung des Christentums im 16. Jahrhundert verlor die katholische Kirche ihre weite Teile Europas einigende Kraft. Damit kam eine für den Kontinent wichtige politische Idee an ihr Ende: Seitdem Kaiser Konstantin das Christentum als einigenden Faktor des römischen Reiches entdeckte und förderte, blieb es auch über die Wirrungen der Völkerwanderung hinweg in dieser Rolle. Die einheitsstiftende Funktion erwies sich auch zu Beginn der Reformationszeit als wirksam, insofern nun die einzelnen Herrschaftsbereiche eine einheitliche christliche Denomination behielten. Zunehmende Migrations- und Säkularisierungsprozesse unterminierten sie allerdings.
Die gleichen Prozesse, die die (soziologisch verstandene) ‚Moderne‘ kennzeichnen, führten zu einem Verlust von religiöser Deutungshoheit und damit zur Unmöglichkeit, regionale Identität an eine bestimmte Denomination zu knüpfen. Auch wenn staatskirchliche Strukturen in einzelnen Ländern Europas bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen blieben, war die Anerkennung konfessioneller Vielfalt langfristig unausweichlich. Heute unterscheiden sich zwar in den Ländern Europas die Grade von Säkularität und damit auch der Zusammenarbeit von Religionen mit dem Staat, allerdings ist der Wegfall der Religionsfreiheit kaum mehr vorstellbar (Pollack/Rosta 2015; Dennaoui 2017).
Hinzu kommt der langfristige Bedeutungsrückgang von Religion insgesamt und des Christentums im Besonderen. In Europa ist in den meisten Ländern ein deutlicher Rückgang religiöser Überzeugungen festzustellen (Pollack/Rosta 2015). Die Rolle als einigende Kraft musste von einem neuen Konzept übernommen werden. Im 19. Jahrhundert wurde daher der Nationalismus stark: Mit Emile Durkheim lässt sich argumentieren, dass der säkulare Nationalismus von Religion ihre integrative Rolle übernahm (Soper/Fetzer 2018: 8), sodass sie sich transformieren und in ein neues Verhältnis zum Staat setzen musste (Spohn 2003: 269). Genauso wie Religion basiere der Nationalismus auf Narrationen, adressiere den Menschen ganzheitlich, begründe moralische Positionen sowie politische Macht und biete also insgesamt Sinnstiftung ( Joppke 2018: 42–48). Mit Smith kann Nationalismus sogar selbst als eine Form von Religion verstanden werden, da Rituale und Symbole eine politische Variante der jeweiligen religiösen Äquivalente etablieren und deren Funktion übernehmen (Smith 2000: 811). Daher traten Religion und Nationalismus im modernen Europa als Konkurrenten an, so der Befund von Roger Friedland (Friedland 2001: 127).
Aufgrund der Paradigmen der Moderne wurde der Wettbewerb zugunsten des Nationalgedankens entschieden. In Ländern Europas, in denen heute eher hohe Zustimmungswerte zur katholischen Kirche festzustellen sind wie in Polen, der Slowakei und Spanien, kann eine tiefe Verankerung des Katholizismus im jeweiligen Nationalbewusstsein festgestellt werden (vgl. die Beiträge zu einzelnen Ländern Europas in Wood 2016; Tomka/Szilárdi 2016). Man darf vermuten, dass die relative Stärke des katholischen Glaubens hier am hohen Nationalbewusstsein partizipiert (Becker 2018: 104–107).
Außerhalb Europas ist kein ähnlich starker oder in Einzelfällen überhaupt kein Rückgang religiöser Überzeugungen festzustellen (Pickel 2013: 10–11). Länder wie die Türkei, in denen ein säkularer Staat unter Modernisierungsdruck nach europäischem Vorbild geschaffen wurde, erleben daher in jüngerer Zeit die „Entstehung einer neuen Form des muslimischen Nationalismus“ (Kanol 2024: 9). Scott Hibbard und Michael Walzer zeigen für Algerien, Ägypten, Indien und Israel auf, wie hier Säkularität als kolonialer Einfluss und damit als Fremdkörper wahrgenommen wird, der der eigenen nationalen Identität entgegensteht (Hibbard 2010; Walzer 2015).
Auch in diesen Ländern kann zwar nicht unbedingt eine Zunahme von Religiosität konstatiert werden, wohl aber eine Akzeptanz und Einforderung von stärkerer Sichtbarkeit der vorherrschenden Mehrheitsreligion. Der Punkt ist also nicht ihre Revitalisierung und gesteigerte Attraktivität, sondern ihr Zurückholen in die Öffentlichkeit und damit auch in die kulturelle wie staatliche Sphäre. Die moderne Ausdifferenzierung der Gesellschaftsbereiche, die insbesondere durch Ablehnung eines religiösen Allzugriffs erreicht wurde, wird so hinsichtlich der Rolle von Religion zurückgenommen. Ein Effekt davon ist die aktivere politische Betätigung, die gerade im Bereich fundamentalistischer Gruppierungen festzustellen ist (Tibi 1998).
Die höhere politische Wirksamkeit von Religion wird durch ihre nationale Aufladung verstärkt. In den USA und Lateinamerika sind es große national orientierte evangelikale Kirchen, die sich lautstark politisch zu Wort melden und dem rechten Lager Mehrheiten verschaffen können. Prägnante Fälle sind der US-Präsident Donald Trump und sein ehemaliges Brasilianisches Pendent Jair Bolsonaro, die sich bewusst in einen national eingefärbten christlich-religiösen Kontext begeben haben und dort starke Unterstützung erfahren (Cowan 2021).
Auch im fernöstlichen Kontext sind religiös aufgeladene nationalistische Gruppierungen und Strömungen festzustellen. So ist in Indien eine langfristige und heute mehrheitsfähige Bewegung vorzufinden, die mit Narendra Modi wiederholt einen Premier an die Macht gebracht hat, der sich explizit in einen hindu-nationalistischen Kontext stellt und dazu Konzepte rezipiert, die seit über 100 Jahren einen reinen hinduistischen indischen Staat propagieren (Hansen 1999; Rouhana/Shalhoub-Kevorkian 2021).
Weitere Beispiele für religiös aufgeladenen Nationalismus lassen sich auch in anderen Ländern und Regionen finden, für Europa sei auf die ausdifferenzierte und umfangreiche Zusammenstellung in Lo Mascolo 2023 hingewiesen. Es handelt sich also um ein globales Phänomen, das intrinsisch mit der Idee und Entfaltung von ‚Moderne‘ zusammenhängt. Während der Nationalismus in der Moderne zunächst als Alternative zur religiösen Identitätsstiftung fungierte, hat sich nun gezeigt, welche Kraft im Zusammengehen beider Formen entstehen kann: Es gelingen Sinnstiftung und die Begründung politischer Macht gleichermaßen mittels gemeinsamer Narrationen, mittels einer gemeinsamen ganzheitlichen Ansprache des Menschen und mittels gemeinsamer moralischer Vorstellungen. Daher lässt sich der religiöse Nationalismus auch nicht als vorübergehende Gegenbewegung abtun, sondern muss in seiner Eigenlogik als attraktives und aktuell hoch wirksames Phänomen der Moderne wahr- und ernstgenommen werden.
2. In Distanz zur Moderne: Zur Verbindung zweier ehemals konkurrierender Ideen
Mit Thomas Meyer kann man die Moderne als „eine Form des zivilisierten Umgangs mit Differenzen“ (Meyer 2011: 19) verstehen, die sich kulturgeschichtlich insbesondere in der grundlegenden Wertschätzung des Individuums und von Pluralität fassen lässt. Wenn in der europäischen Aufklärung die Autonomie des Subjektes und damit seine Freiheit in das Zentrum gestellt werden, steht dies auf der einen Seite in einer Linie mit der christlichen Botschaft und der seit der Antike feststellbaren höheren Wertschätzung des Individuums (Vernant 2012). Auf der anderen Seite kommt eine neue Gewichtung zum Tragen, weil nun das eher kollektive Verständnis, wie es in Antike und Mittelalter vorherrschte, durch ein stärker individualistisches ersetzt wird (Becker 2017: 319–320).
Dies ist insofern wichtig, als damit eine gewisse Ambivalenz im Verhältnis des Christentums zur Moderne verstehbar wird. Sowohl die positive Annahme der modernen Freiheitsbotschaft als auch eine kritische Haltung gegenüber bestimmten Ausprägungen von ihr lassen sich mit Verweis auf christliche Tradition und die Bibel begründen. Die Kritik am modernen Freiheitsverständnis wird eher aus einem traditionalistischen Kontext heraus geübt. Als bekanntes Beispiel kann Papst Benedikt XVI. gelten, der seine Kritik daran am Egoismus und – seiner Überzeugung nach – an der in der modernen Gesellschaft vorherrschenden Beliebigkeit festgemacht hat (Becker/Diewald 2009).
Man mag in derartigen Gesellschaftsbeschreibungen ein fehlendes Verständnis für die moderne Kultur und ein Missverständnis von ihrer Wertschätzung von Diversität sehen. So ist es kein Zufall, dass sich Papst Benedikt selbst als Anhänger platonischer Philosophie bezeichnet und somit in den Kontext hellenistischer Philosophie sowie Weltanschauung gestellt hat. Er kann daher paradigmatisch für eine grundlegende Skepsis gegen die große kulturelle Verschiebung stehen, die sich in der Moderne vollzogen hat: Mit der Betonung individueller Freiheit geht die Wertschätzung diverser Lebensentwürfe einher. Diese Wertschätzung impliziert die Relativierung des eigenen Lebensentwurfs.
Die zentrale Erfahrung der Moderne ist die von Pluralität: Man kann mit Peter L. Berger daher den „Pluralismus in der modernen Zeit [als] die vorrangige Herausforderung für jede religiöse Tradition und Gemeinschaft“ (Berger 2015: 33) bezeichnen, schließlich führen die technischen Möglichkeiten und damit einhergehenden Effekte von Globalisierung zur intensiver und als näher empfundenen Wahrnehmung von Diversität nicht nur hinsichtlich individueller Lebensentwürfe, sondern auch anderer Gesellschaftsmodelle, religiöser Überzeugungen und kultureller Ausprägungen (Emerson/Hartman 2006: 129). Kurz: Die Moderne relativiert, und das kann als Bedrohung des eigenen Fundaments erfahren werden. Wenn diese Bedrohung als extrem und existenziell erfahren wird, muss die eigene Weltanschauung fixiert und immunisiert werden, wie Thomas Meyer ausführt (Meyer 2011: 29).
In diesem Vorgang sieht Meyer das vorliegen, was heute im Allgemeinen als Fundamentalismus verstanden und damit als Fremdzuschreibung benutzt wird. Zahlreiche Studien weisen empirisch nach, wie Pluralität in fundamentalistischen Gruppierungen abgelehnt wird. Bob Altemeyer und Bruce Hunsberger zeigen in einer Studie in den USA auf, dass ein Zusammenhang zwischen fundamentalistischen religiösen Ansichten, dem Bestehen von Vorurteilen und dem Hang zu autoritärem Denken besteht (Altemeyer/Hunsberger 1992). Eine weitere Studie mit dem gleichen Ergebnis liegt mit Laythe, Finkel und Kirkpatrick (2001) vor. Eylem Kanol dokumentiert in einer internationalen Studie zu christlichen und muslimischen Ländern, wie fundamentalistisches Denken mit der Abgrenzung zu und Ablehnung von Andersdenkenden und -glaubenden führt (Kanol 2021). Den direkten Bezug zwischen Fundamentalismus, der Ablehnung von Diversität und totalitärem Denken in Judentum, Christentum und Islam stellt Douglas Pratt her (Pratt 2018).
Der Zusammenhang zwischen Fundamentalismus, autoritärem Denken und der grundlegenden Ablehnung von Diversität kann also religions- und kulturübergreifend als empirisch gesichert gelten. Daher ergibt es Sinn, Definitionen von Fundamentalismus anhand dieser grundlegenden Haltung gegenüber einer von Pluralität gekennzeichneten Moderne zu entwickeln.
Es kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass dieser Haltung Identitätsprozesse zugrunde liegen, die mit kulturellen Verunsicherungen einher gehen. Geiko Müller-Fahrenholz weist darauf hin, wie Prozesse von Modernisierung traditionelle Strukturen schwächen, die Halt und Verlässlichkeit geben (Müller-Fahrenholz 2006). Das ist, so seine Pointe, ein in allen Kulturen anzutreffender Vorgang, wenn auch aus jeweils anderen strukturellen Gründen. Urbanisierung, Migration und koloniale Effekte treten in den verschiedenen Teilen der Welt zwar in unterschiedlichem Maße auf, seien nichtsdestoweniger aber globale Phänomene, die den Verlust stabiler Bedingungen und Beziehungen im familiären Umfeld oder im weiteren sozialen Netzwerk mit sich bringen können.
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