Debatten um politische Meinungsumfragen systematisch aufgearbeitet: Interview mit Michel Dormal zu seinem neuen Buch Meinungsforschung und Demokratie. Einfluss, Kritik und Wandel von Umfragen im politischen Diskurs – frisch erschienen bei Budrich.
Interview zu „Meinungsforschung und Demokratie“
Lieber Michel Dormal, worum geht es in Meinungsforschung und Demokratie?
Es geht im Kern um die Frage, wie der Aufstieg der Meinungsumfragen seit dem frühen 20. Jahrhundert politisch zu bewerten ist. Sind die Umfragen eine sinnvolle Lösung für bestimmte Probleme, mit denen Demokratien zu kämpfen haben? Beispielsweise, weil sie uns schnelleres und genaueres Wissen über den tatsächlichen Willen der Bevölkerung liefern? Oder schaden sie im Gegenteil der Demokratie? Etwa, weil sie Artefakte produzieren, bloßen Stimmungen zu viel Raum geben oder weil sie angeblich Wahlen beeinflussen?
Über solche Punkte wurde von Anfang an durchaus kontrovers gestritten. Einige bekannte Sozialwissenschaftlicher*innen des 20. Jahrhunderts wie Theodor W. Adorno oder Pierre Bourdieu haben sich dabei eingemischt. Aber das Thema hat auch politische Akteure und viele Bürgerinnen und Bürger immer wieder beschäftigt.
Diese Debatten habe ich systematisch aufgearbeitet, mit einem Fokus auf die jeweils etwas unterschiedlichen Kontexte in Amerika, Frankreich und Deutschland. Insbesondere will ich zeigen, welche konkurrierenden Konzepte von Demokratie hier jeweils im Hintergrund verhandelt wurden.
Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?
Mein Stein des Anstoßes war der ganz praktische Kontrast, tagsüber an der Uni große, raffinierte Demokratietheorien zu unterrichten und abends im ZDF dann die neuesten Politbarometer-Zahlen vorgestellt zu kriegen. „Minister XY springt im Beliebtheitsranking einen Platz nach oben“ und dergleichen. Das passte für mich einfach nicht zusammen.
Es war mir total unklar, was diese Umfragen mir als Bürger Relevantes sagen sollen und können. Das ist jetzt nicht primär wertend gemeint, sondern einfach von den Phänomenen her: Die Lehrbücher der Demokratietheorie ignorieren die Umfragen meist schlicht, oder kanzeln sie nebenbei ab, obwohl diese in der Realität sehr einflussreich sind. Die Umfrageindustrie tut hingegen umgedreht so, als bedürfe es gar keiner näheren Erklärung mehr, warum Öffentlichkeit und Politik sich brennend für ihre Ergebnisse interessieren sollten.
Da habe ich mir gedacht: Hier ist eine echte Leerstelle, darüber sollte ich schreiben.
In Meinungsforschung und Demokratie schreiben Sie, dass Meinungsforschung nie bloß ein neutrales Instrument war. Wie ist dies zu verstehen?
Es gibt in der Literatur manchmal das Narrativ, dass Politik immer ungefähr konstant funktioniert, und es nur unterschiedlich effiziente Mittel gibt, die dafür genutzt werden.
Da wird etwa gesagt: Eigentlich haben die Regierenden immer schon versucht, herauszufinden, was die Bevölkerung denkt. Früher gab es halt Salongespräche, Petitionen und Briefe, das war nicht sehr präzise, daher erfand man die Umfragen. Und dann diskutiert man die Vor- und Nachteile auf einer eher technischen Ebene: Wie aufwändig ist es, wer hat die Fähigkeiten usw.
Aber das greift zu kurz. Die Umfragen formen vielmehr auch mit, wie wir die politische Wirklichkeit deuten und ordnen.
So wurde etwa früher – sehr vereinfacht gesprochen – politische Repräsentation oft so verstanden, dass große gesellschaftliche Interessen vertreten und verhandelt wurden. Durch die Dominanz der Umfragen hat Repräsentation sich jedoch verflüchtigt und individualisiert. Die Gesellschaft wird nicht mehr als sperrige Landschaft konkurrierender, aber relativ stabiler kollektiver Interessen angesprochen, sondern als Strom individueller Datenpunkte vergegenwärtigt, dessen Gestalten in Abhängigkeit der jeweils gestellten Fragen andauernd neu entstehen und zerfallen.
Dadurch verändern sich auch politische Identitäten, repräsentative Rollenverständnisse, die Art und Weise, wie wir uns die anderen vorstellen usw. Das ist ein Punkt, der ähnlich ja auch in gegenwärtigen Debatten über die Auswirkungen der Digitalisierung gemacht wird. In vielerlei Hinsichten war Demoskopie hierfür unmittelbarer Vorläufer. Letzteres arbeite ich in dem Buch auch heraus.
Wie kann die Rolle von Umfragen in der Demokratie der Moderne begriffen und gestaltet werden?
In der älteren öffentlichen Kontroverse – ich spreche hier von den 50er und 60er Jahren – standen sich die Gegner und Befürworter der Umfragen teils sehr harsch gegenüber. Man warf sich gegenseitig vor, die wahre Demokratie zu sabotieren. Darüber ist man, auch wenn die Leidenschaft nachgelassen hat, im Grunde danach demokratietheoretisch nie wirklich hinausgelangt.
Daher war es für mich klar, dass es nicht darum gehen kann, erneut ein simples Schwarz-Weiß-Argument zu machen. Stattdessen argumentiere ich, dass wir es mit zwei sehr unterschiedlichen Logiken der Demokratie zu tun haben, die aber zunächst beide ihre Berechtigung haben.
Die Logik der Umfragen ist etwa durch Information, Unparteilichkeit und die Fähigkeit zur Zerlegung geprägt. Sie ist daher beispielsweise geeignet, differenziert Meinungen ans Licht zu bringen, die noch kein etabliertes, starkes Sprachrohr in der Öffentlichkeit haben. Das kann bestimmte politische Diskussionen bereichern.
Zugleich tendieren Umfragen aber dazu, Meinungen ortlos und seltsam steril werden zu lassen, weil nicht mehr klar ist, wer spricht hier zu wem, was ist der Resonanzboden? Das, was hier verloren geht, nenne ich „Konfiguration“. In dem Buch argumentiere ich, dass wir beide Logiken in einer guten Mischung brauchen, so dass sie sich gegenseitig in Schach halten und ausbalancieren.
Man kann dies dann als eine Neuauflage der alten Mischverfassungsidee interpretieren, der zufolge die beste Verfassung verschiedene Funktionsprinzipien in sich verbindet. Dazu bräuchte es in der Praxis u.a. gewisse Leitplanken, die verhindern, dass eine Seite die andere erstickt.
In dem Buch schaue ich mir beispielsweise auch die hitzigen parlamentarischen Debatten an, die seinerzeit in Frankreich darüber geführt wurden, wann und mit welchem Ziel man die Veröffentlichung von Umfragen per Gesetz einschränken sollte. An manches könnte man heute auf andere Weise anknüpfen. Sinnvoll wäre etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Selbstverpflichtung von Medien oder Parteien, nicht schon wenige Wochen nach einer Wahl wieder neue Wahlumfragen durchzuführen. Denn solche Umfragen hängen im leeren Raum, sie haben öffentlich wenig Mehrwert und sabotieren das durch klare zeitliche Rhythmen geprägte Spiel elektoraler Delegation und Verantwortlichkeit.
Darum bin ich Autor bei Budrich
Der Verlag wurde mir von Kolleg*innen empfohlen und ich habe die Entscheidung nicht bereut. Denn Budrich bemüht sich sehr um seine Autor*innen, man wird gut begleitet und findet ein offenes Ohr bei Fragen oder eigenen Vorschlägen.
Und nicht zuletzt gibt es hier ein tatsächliches Interesse daran, dass am Ende ein gutes Buch herauskommt, das auch gelesen wird. Das ist bei manch größerem Wissenschaftsverlag leider nicht selbstverständlich.
© Foto Michel Dormal: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com

Michael Dormal:
