Das erste Buch im Verlag Barbara Budrich, das auch als sogenanntes Living Handbook erscheint! Wir haben ein Interview mit den Herausgeber*innen Christine M. Klapeer, Johanna Leinius, Franziska Martinsen, Heike Mauer und Inga Nüthen zur Veröffentlichung von Printausgabe und eBook von Politik und Geschlecht. Perspektiven der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung geführt.
Interview zum Living Handbook „Politik und Geschlecht“
Liebe Herausgeber*innen, worum geht es in Politik und Geschlecht?
Mit dem Band positionieren wir die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung als ein Kerngebiet der Politikwissenschaft. Wir zeigen, dass Politik und Politikwissenschaft inhärent vergeschlechtlicht sind bzw. aktiv an einer Vergeschlechtlichung von z.B. politischen Inhalten, Konzepten, Erkenntnisprozessen oder Körpern mitwirken. Die Beiträge im Sammelband thematisieren dieses komplexe Verhältnis von Politik und Geschlecht aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven und anhand unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunkte.
Wichtig ist es uns, Machtverhältnisse und Ungleichheiten kritisch zu durchleuchten und Geschlecht als multidimensionale und historisch kontingente politische Ordnungs-, Identitäts-, ebenso wie Analysekategorie sichtbar zu machen. Dies geschieht u. a. aus einer intersektionalen Perspektive oder durch queer-theoretische Zugänge, mit denen Forschungsgegenstände der Politikwissenschaft einer Revision unterzogen werden: Während einige Beiträge die klassischen Teildisziplinen der Politikwissenschaft mit einem geschlechtersensiblen Blick vorstellen (Teil 1), zeigen andere, welche Erkenntnisse die Perspektive der politikwissenschaftliche Geschlechterforschung generiert (Teil 2) oder wie zentrale Themen der Politikwissenschaft aus einer solchen Perspektive ergründet werden können.
Von Wahlforschung zur Demokratie- oder Staatstheorie, von Materialismus zu Sexualität und von Gewerkschaftsarbeit zu Femiziden – unsere Autor*innen zeigen, dass man mit politikwissenschaftlicher Geschlechterforschung nicht nur ‚mehr‘ sehen kann, sondern dass einer Geschlechterperspektive ein zentraler analytischer Erkenntnis- und Erklärungswert zukommt, wenn es etwa um das Funktionieren moderner Staatlichkeit, den Erfolg rechtspopulistischer und extrem-rechter Bewegungen oder die Bedeutung von Gewalt für politische Ordnungen geht.
Was macht Politik und Geschlecht besonders?
Dieser als Buch erscheinende Sammelband ist eine Auskoppelung und Teil eines größeren digitalen Publikationsprojekts – dem digitalen „Living Handbook Politik und Geschlecht“. In Zusammenarbeit mit dem Verlag Barbara Budrich und ZB MED und dank einer Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) haben wir die Grundlagen für ein Handbuchformat entwickelt, das einen kontinuierlichen Austausch und eine beständige Aktualisierung und Erweiterung der Inhalte garantiert; es ist im Open Access auf einer eigenen Plattform verfügbar.
Dies bedeutet, dass im Gegensatz zu traditionellen Handbüchern neue Erkenntnisse und Themen zügig aufgenommen sowie Kritik und Hinweise auf Leerstellen besser aufgearbeitet werden können. Dies alles machen wir aber nicht alleine: Das Living Handbook lebt aufgrund seiner engagierten wissenschaftlichen Community. Wir ermuntern daher alle Forscher*innen, das Handbuch durch eigene Beiträge oder durch die Begutachtung der Beiträge ihrer Kolleg*innen – alle Beiträge durchlaufen einen double-blind peer-review – mit Leben zu füllen.
Ein „normales“ Handbuch unter Beteiligung zahlreicher Autor*innen herauszugeben, ist ja bereits spannend und herausfordernd. Wie haben Sie den Prozess beim Living Handbook Politik und Geschlecht empfunden?
Herausgeber*innenschaften sind immer bereichernd, aber insbesondere die Kommunikation mit den Autor*innen auch zeitintensiv. Hier hatten wir den klaren Vorteil, dass Franziska Deller und (bis 2023) Vivian Sper vom Verlag Barbara Budrich uns hier sehr kompetent und tatkräftig unterstützt haben.
Trotz Corona-Pandemie und den immer wieder überraschenden Wendungen bei der technischen Entwicklung der Open-Access-Plattform haben wir es gemeinsam geschafft, die Begeisterung für das Projekt durch die Jahre zu tragen – das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil auch an der großartigen Unterstützung durch den Verlag.
Darüber hinaus war auch die Zusammenarbeit zwischen uns Herausgeber*innen von großer Solidarität, kollegialer Wertschätzung und Vertrauen geprägt. Wir konnten in dem Handbuch auf unsere guten Kommunikations- und Kooperationsstrukturen aufbauen, die wir bereits als Sprecher*innen der DVPW Sektion „Politik und Geschlecht“ (von 2016-2021) entwickelt hatten.
Was ist Ihre Vision: Wie sieht das Living Handbook in 5 Jahren aus?
Unsere Wunschvorstellung: In 5 Jahren ist das Living Handbook gewachsen und erschließt noch umfassender theoretische und methodische Zugänge und Themenfelder der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung.
Da uns bewusst ist, dass auch innerhalb der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum bestimmte Perspektiven marginalisiert sind und werden (z.B. Schwarze-feministische oder trans*-feministische Perspektiven), möchten wir besonders darauf hinarbeiten, diese Zugänge im Rahmen dieses Handbuches zu stärken und sichtbar zu machen.
Wir würden uns wünschen, dass das Handbuch sich als zentrales Einführungswerk in der Politikwissenschaft etabliert und Lehrende es sowohl für ihre Einführungsvorlesungen in die Politikwissenschaft als auch für themenspezifische Seminare nutzen. Die Plattform budrich.publisso.de fungiert hierbei als Ankerpunkt des fachlichen Austauschs und der kollektiven Weiterentwicklung der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung und wird von einer aktiven Gemeinschaft engagierter Forscher*innen getragen.
Durch die gemeinsame kritische Reflexion werden die jetzt erschienen Beiträge einem Bearbeitungsprozess unterzogen und viele neue Beiträge sind dazu gekommen. So bildet das Handbuch die Breite und Innovationskraft der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung gut ab.
Und im Sinne der Nachhaltigkeit des Living Handbook würden wir uns wünschen, dass sich weitere Finanzierungsquellen für dieses tolle und wichtige Projekt auftun, um dessen hohe technische und inhaltliche Qualität auch in der Zukunft zu gewährleisten.
Darum sind wir Autor*innen bei Budrich
Beim Verlag Barbara Budrich haben wir immer ein ehrliches Interesse an den Inhalten unserer Arbeit und den Einsatz für die feministische Politikwissenschaft gespürt. Budrich hatte den Mut, neue Formate für Open-Access-Publikationen zu erproben und hat uns mit dem Projekt begeistert. Kompetente Unterstützung und kollegiales Miteinander ist bei Budrich Programm – das sehen wir auch an unserem Living-Handbook-Projekt.
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Christine M. Klapeer, Johanna Leinius, Franziska Martinsen, Heike Mauer, Inga Nüthen (Hrsg.):
Reihe Politik und Geschlecht, Band 34
auch im Open Access verfügbar
als Living Handbook verfügbar auf budrich.publisso.de
Die Herausgeber*innen
Christine M. Klapeer ist Politikwissenschaftler*in und seit 2024 Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies sowie Direktoriumsmitglied des „Center for Diversity, Media, and Law“ (DiML) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie forscht, lehrt und publiziert u.a. zu transnationalen LGBTIQ+ Politiken und queeren Menschenrechten, zu Fragen von Sexualität, Geschlecht und (demokratischer) Staatsbürger*innenschaft sowie zu heteronormativer Gewalt und Diskriminierung im Kontext von Kolonialität, Intersektionalität und neuen Formen des Antifeminismus. Von 2017 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und aktuell ist sie Sprecher*in der Themengruppe „Queer_feministische Politikwissenschaft und LGBTIQ+ Studies“.
Mehr Informationen auf der Website der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Johanna Leinius ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Geschäftsführerin des Cornelia Goethe Centrums für Geschlechterforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Vorher war sie als Postdoc am Fachgebiet Soziologische Theorie und im Programm ,Ökologien des Sozialen Zusammenhalts‘ der Universität Kassel beschäftigt. Sie wurde 2017 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den Politikwissenschaften promoviert und war von 2011 bis 2017 am Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies (FRCPS) beschäftigt. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Ihre Forschungsinteressen sind postkolonial-feministische Theorie, politische Ontologie, Geschlechterverhältnisse in der sozial-ökologischen Transformation sowie Protest- und Bewegungsforschung.
Mehr Informationen auf der Website des Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung der Goethe-Universität Frankfurt.
Franziska Martinsen ist promovierte Philosophin und habilitierte Politikwissenschaftlerin. Sie forscht und lehrt als Professorin für Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen (UDE) nach Stationen in Basel, Hannover, Greifswald, Wien, Kiel, Bremen und Bonn. Von 2017 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und ist derzeit Mitglied im Gesamtvorstand der DVPW. Seit 04/2024 ist sie Vorstandsvorsitzende des transfakultären Centre for Global Cooperation Research der UDE. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der feministischen Politischen Theorie, Demokratie- und Gerechtigkeitstheorien.
Mehr Informationen auf der Website des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.
Heike Mauer ist Politikwissenschaftlerin und forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen zu Hochschule und Gleichstellung. Mit einer Arbeit zu Intersektionalität und Gouvernementalität, die die Regierung von Prostitution untersucht, wurde sie 2015 an der Universität Luxemburg promoviert. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Für ihre Forschungen zu Intersektionalität, Rechtspopulismus und Antifeminismus ist ihr 2019 der Preis für exzellente Genderforschung des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen worden.
Mehr Informationen auf der Website des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW der Universität Duisburg-Essen.
Inga Nüthen ist Politikwissenschaftler*in und vertritt im laufenden Sommersemester die Professur für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt der Konstitution und Politik der Geschlechterverhältnisse an der Universität Münster. Ansonsten ist sie wissenschaftliche Referent*in des Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg und war zuvor dort am Institut für Politikwissenschaft als wissenschaftliche Mitarbeiter*in tätig. Sie wurde 2022 an der Universität Koblenz-Landau im Fach Politikwissenschaft promoviert. Von 2018 – 2022 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und ist aktuell Sprecher*in der Themengruppe „Queer_feministische Politikwissenschaft und LGBTIQ+ Studies“. Ihre Forschungsinteressen sind queer_feminstische politische Theorien, Queere Klassenpolitiken, queer-feminitsische Perspektiven auf historisch-politische Bildung und politikwissenschaftliche LGBTIQ+ Studies.
Über das Living Handbook „Politik und Geschlecht“
Was bedeutet politikwissenschaftliche Geschlechterforschung beziehungsweise feministische Politikwissenschaft? Das Buch bietet einen einführenden Einblick in unterschiedliche politikwissenschaftliche (Forschungs-)Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Geschlecht – insbesondere auch unter Miteinbeziehung queerer und postkolonialer Ansätze. Welche Konsequenzen wirft diese Perspektivierung im Hinblick auf Methoden und Ideengeschichte auf, welche Kontroversen und offenen Fragen ergeben sich daraus? Die einzelnen Beiträge fassen den aktuellen Forschungsstand zusammen, bieten eine Kontextualisierung in breitere politikwissenschaftliche Debatten und geben durch Lese-Empfehlungen Ansätze für die tiefere Auseinandersetzung. Das Buch ist somit eine perfekte Anlaufstelle für einen ersten kompakten Überblick zum Themenfeld Politik und Geschlecht.
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© Foto Heike Mauer: Bettina Steinacker, Portraitzeichnung Inga Nüthen: Dominique Kleiner, Fotos Christine Klapeer/Johanna Leinius/Franziska Martinsen: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com