von Jürgen P. Rinderspacher
Über das Buch
Was hat Corona mit dem Faktor Zeit zu tun? Wie kommt es zur Inflation der Zeit im Lockdown? Neben anderen Herausforderungen sind viele Menschen in der Pandemie gezwungen, ihre zeitlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse den neuen Gegebenheiten anzupassen. Während Home-Office und Home-Schooling die Betroffenen auch zeitlich an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit bringen, werden andernorts zeitliche Kontingente freigesetzt, die den familialen Zusammenhalt und kreative Tätigkeiten fördern – und auf diese Weise den Menschen eine Ahnung davon geben, was mehr Zeitwohlstand für sie persönlich und die Gesellschaft insgesamt bedeuten könnte. Wie berechtigt sind die oft geäußerten Erwartungen, positive Impulse – insbesondere in Bezug auf den Umgang mit der Zeit – in einer Post-Covid-Ära weiterführen zu können? Der Autor skizziert darüber hinaus denkbare neue zeitpolitische Optionen für diese Ära auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, darunter Schule, Home-Office und Einzelhandel und zieht Schlüsse über ein neues Verhältnis von Raum und Zeit in unserem Alltag.
Leseprobe aus den Seiten 21 bis 25
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2.2.2 Beschleunigung und zugleich Stillstand im Alltag
Ein anderer zeitlicher Effekt des Vorhandenseins eines Virus wie COVID-19 besteht in seinen Auswirkungen auf die Fließgeschwindigkeit der Gesellschaft – angetrieben zum einen über die von Staat und Zivilgesellschaft eingesetzten Instrumente zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, zum anderen durch die alltägliche Kommunikation der Menschen über das Pandemiegeschehen im persönlichen physischen oder medial vermittelten Kontakt (auch wenn ersterer im Lockdown stark reduziert ist). Beschleunigt durch alte und neue Medien ist Corona seit Anfang 2020 das gesellschaftliche Top Thema geworden, und die Zeit- Intervalle der Beobachtung der Pandemie durch Medien und Menschen sind dabei ständig geschrumpft. In Abständen von Tagen oder gar Stunden werden die neuesten Fall-Zahlen und neue wissenschaftliche Ergebnisse als Schlagzeilen in der Tagespresse und über die Messengerdienste kommuniziert. Prompt folgen die Reaktionen der Politik mit zum Teil einschneidenden Auswirkungen auf die Aktionsfähigkeit von Wirtschaft, Einzelhandel oder Kultur, etwa wenn neue Kontaktverbote oder Schließungen angeordnet werden.
Hierdurch verändern sich die Verhaltensregeln des Alltagslebens in rascher Abfolge, in den Fabriken, Büros oder in den Schulen ebenso wie in Supermärkten und Arztpraxen: Welche räumlichen Abstände gelten? Besteht noch oder schon wieder eine Maskenpflicht und wenn ja, welche Masken – selbstgeschneiderte, OP-Masken oder FFP2-Masken – sind an welchen Orten und zu welchen Gelegenheiten vorgeschrieben und mit welchen Modalitäten? Wann aufsetzen oder abnehmen im Verlauf eines Restaurantbesuchs? Beim Übertritt von einem Bundesland ins andere ist jeweils für bestimmte Perioden entsprechend dem Pandemieverlauf mit unterschiedlichen Regelungen zu rechnen: So wurden die Fahrgäste in den Fernzügen der Deutschen Bahn im Herbst 2021 aufgefordert, entsprechend den Bestimmungen des Bundeslandes, das gerade durchfahren wurde, von der einfachen OP-Maske zur FFP2-Maske zu wechseln. Welche Quarantänepflichten bestehen für welche Dauer bei der Rückkehr aus welchem Ausland und wenn ja für wie viele Tage? Gilt die Lohnfortzahlung bei Einreise aus einem als Hochrisikogebiet ausgewiesenen Urlaubsland auch noch nach meiner Urlaubsreise? Welche Angebote an Kinderbetreuung bestehen unter welchen Bedingungen (noch) wie lange und besteht in der Schule Wechselunterricht, Digitalunterricht oder sind Eltern zum Home-Schooling aufgefordert – und für welche Dauer? Ist eine Booster-Impfung bei einem Restaurantbesuch mit 2 G plus gleichzusetzen mit einem Test – und wenn ja mit welchem? Hat der Arbeitgeber Home-Office zur Pflicht gemacht und wie sieht es hier mit Testpflichten aus – wie oft in der Woche und mit welchem Test? Und bei alledem: Wie lange sind diese Vorschriften gültig?
Die Dynamik der entscheidungsrelevanten Kennziffern für die Bewältigung des Alltags wirkt sich in zweierlei Hinsicht auf die Befindlichkeit von Individuum und Gesellschaft aus: Außer dass sie allein durch ihr hohes Tempo und indem der Wandel der Logiken zur Verhängung von Lockdowns in konkreten Lebensbereichen für eine breite Öffentlichkeit oft nicht (mehr) nachvollziehbar ist und damit die allgemeine Verunsicherung fördert, zwingt sie die Menschen in kurzen Intervallen immer wieder zu weiteren Veränderungen ihrer eben neu erworbenen Alltagsroutinen. Hieran hängen neben Kontaktmöglichkeiten mit Familienmitgliedern auch Erwerbschancen, Art und Umfang der Freizeitgestaltung sowie allgemein die Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen.
Kurzum: Die Welt um uns herum bewegt sich hinter unserem Rücken wie ein sich ständig wandelndes Bühnenbild. Wer sich dem in seinem Verhalten nicht anpassen kann oder gar aus grundsätzlichen Erwägungen nicht will, läuft Gefahr, von seinen Mitmenschen Missbilligung zu erfahren, am Zutritt zu bestimmten öffentlichen Einrichtungen oder zum Einzelhandel gehindert oder gar mit empfindlichen Geldbußen belegt zu werden. Und schließlich muss, wer seiner bereichsspezifischen Impfpflicht nicht nachkommt, sogar mit dem Verlust des Arbeitsplatzes rechnen.
Noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg sind staatliche Direktiven, die das Agieren des Einzelnen in seinem Alltag betreffen, einschneidender gewesen und wahrscheinlich nie zuvor so häufig geändert worden, wie unter den Pandemiegesetzen und -Verordnungen von Bund, Ländern und Kommunen (Bundesgesetz- blatt 2021). Für das Verlassen der Wohnung sind, in anderen Ländern weitaus elaborierter als in Deutschland, präzise Zeitvorgaben erarbeitet worden, entweder in Stunden pro Tag oder in Form von Zeit-Slots. Auch totale Ausgangssperren, die nur für zweckgebundene Anlässe (Versorgung mit Lebensmitteln, Tiere ausführen, körperliches Training) mit und ohne Zeitbegrenzung unterbrochen werden dürfen, sollen der Reduzierung physischer Kontakte dienen. Die Zahl der Personen beziehungsweise Lebensgemeinschaften, mit denen Zusammenkünfte möglich sind, unterliegt einer strengen Regulation – und ändert sich ständig.
Durch weitere dynamisierte Regularien, die die Aktionsverbote den wechselnden Pandemielagen anpassen, werden die Anforderungen an die Wahrnehmungsfähigkeit wie auch die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft der Menschen enorm strapaziert. Vor allem weil sie über diese Art der Beschleunigung keinerlei Kontrolle haben, bedeutet diese für viele Menschen höchste Verunsicherung – sowohl in Bezug auf die konkreten Regelungen, die man nicht ignorieren kann, als auch auf die Maßstäbe, die diesen zugrunde liegen.
So wirkt dynamisierend auch, dass sogar die ethischen Standards, auf deren Grundlage staatliche Entscheidungen getroffen werden, als solche im Fluss zu sein scheinen: Galt zu Beginn der Pandemie der Schutz der Gesundheit und des Lebens als unbestritten höchste Aufgabe staatlichen Handelns (hierzu auch Habermas 2021), so differenzierten sich im Verlauf der Pandemie die Ziele und Gewichtungen weiter aus: Wirtschaftliche Argumente ebenso wie der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Langzeitschäden durch Schulschließungen und weitere Aspekte traten hinzu und wurden in der medialen Öffentlichkeit und von politischen Parteien, von Kirchen und Verbänden kontrovers diskutiert; ebenso Verpflichtungen und Grenzen des Staates, seine Bürger*innen zu schützen. Im Verlauf immer öfter betont wurde aber auch deren Verpflichtung, zu allererst eigenständig mit auftretenden Lebensrisiken fertig zu werden und sich entsprechend risikoavers zu verhalten. Als vorläufigen Höhepunkt dieser Dynamisierung politischer Leitziele und deren politisch-weltanschaulicher Hintergründe darf man in diesem Kontext das Umschwenken fast aller politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern von einer expliziten Ablehnung einer Impfpflicht hin zu ihrer ausdrücklichen Befürwortung ansehen. Am Ende konnte nicht einmal Einigkeit darüber hergestellt werden, ob es sich bei der Behandlung der Impfpflicht im Deutschen Bundestag um eine ethische Entscheidung handeln würde oder nicht.
Soweit man sehen kann, resultiert aus einer solchen komplexen Verflüssigung von Wertmaßstäben und Handlungsmaximen – oft in Verbindung mit früheren Erfahrungen, sich zum eigenen Nachteil äußeren gesellschaftlichen Veränderungsprozesse angepasst zu haben, wie der Integration der alten DDR- Wirtschaft in die Marktwirtschaft Westdeutschlands – ein Gefühl der Ohnmacht, das höchstwahrscheinlich eine der Quellen der Straßenproteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus darstellt (Nachtwey et al. 2020; zu den Motiven, sich nicht impfen zu lassen vgl. Betsch et al. 2021).
Dynamisierung der Lebensverhältnisse bedeutet in einer pandemischen Lage auch, dass sich die inhaltlichen Schwerpunkte der Alltagskommunikation zwischen den Menschen verändern. Zu normalen Zeiten bestehen millionenfach geführte Gelegenheitsgespräche zu einem sehr großen Teil darin, das tagsüber oder im Wochenverlauf Erlebte auszutauschen, also (einigermaßen) wahre Geschichten zu kolportieren, einzuordnen und zu kommentieren. In einer Pandemiesituation, in der die Menschen dazu gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und weder zur Arbeit noch zum Shoppen in die Fußgängerzone noch ins Kino oder zum Sport, noch in ihre Clique oder in ihre Kirchengemeinde gehen dürfen, fallen zentrale, eigenständig erfahrene Erlebnisinhalte weitgehend aus. Damit aber auch Kommunikationsinhalte: Ob digital oder face-to-face beschränken sich Gespräche nun einerseits immer öfter auf sekundäre Events, beispielsweise auf Gespräche über das Erleben der letzten Netflix-Serie und das Erzählen von Erzähltem (was andere neulich wieder darüber gesagt haben), zum anderen immer öfter auf den Austausch von Erkenntnissen über das Infektionsgeschehen oder über neue oder gerade wieder aufgehobene Kontaktbeschränkungen. So treten an die Stelle realer Ereignisse Gespräche über leider nicht mehr mögliche Ereignisse, die man gerne gehabt hätte und bald wieder gerne hätte. Wobei der Austausch von Corona-Novitäten mit möglichst hohem Neuigkeitswert gleichsam als neue Sportart fungiert.
All dies trägt dazu bei, die Fließgeschwindigkeit der Gesellschaft, hier auf der kommunikativen Ebene, noch einmal zu erhöhen. Doch während sich unter anderem in den eben genannten Bereichen das Alltagsleben in der Pandemie offensichtlich stark dynamisiert hat, ist es in anderer Hinsicht sehr viel langsamer geworden oder gar zum Stillstand gekommen. Ist Stillstand aber nicht genau das, was sich viele, denen die Welt bisher zu schnell lief, schon lange ersehnt hatten (hierzu Geißler 2008)?
Tatsache ist, dass in zuvor nie gekannter Weise und in unvorstellbarem Ausmaß wesentliche Treiber der Beschleunigung – die Industrieproduktion, der Güterverkehr, die Reisetätigkeiten, der Einzelhandel und anderes mehr – zum Erliegen gekommen sind. So konnte der Ruin namhafter Fluggesellschaften oder des weltgrößten Reisekonzerns nur mit staatlichen Beihilfen vermieden werden. Die CO2-Belastung sank durch den Rückgang wirtschaftlicher Tätigkeit in fast allen Branchen stärker, als es die restriktivste Klimapolitik je hätte durchsetzen können: Von Beschleunigung der Gesellschaft durch Corona kann in dieser Hinsicht also nicht die Rede sein, eher von unfreiwillig praktiziertem Degrowth in historischem Ausmaß.
Dennoch ist im Kontext der Corona-Pandemie, etwa in der medialen Öffentlichkeit, Paul Virilios (1992) berühmter Buchtitel „Rasender Stillstand“ oft bemüht worden, in der Hoffnung, damit den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft adäquat beschrieben zu haben (DLF 2020). Tatsächlich scheint alles genau dem zu entsprechen: Auf der einen Seite eine teilweise dramatische Entschleunigung durch den Wegfall beziehungsweise die Verlagerung von Arbeit, Arbeitsweg oder Schule in Verbindung mit dem Wegfall fast aller außerhäusigen Freizeitaktivitäten und so weiter. Das sieht stark nach Entzeitlichung des Alltagslebens aus – zumindest für diejenigen, die durch Corona zu privater und beruflicher Untätigkeit gezwungen sind und sich in ihren vier Wänden gelangweilt von Tag zu Tag schleppen.
Bei Virilio ist das Spannungsverhältnis von Raserei auf der einen Seite und Stillstand auf der anderen aber nicht einer Ausnahmesituation geschuldet, sondern wird als der Normalzustand moderner, hochindustrialisierter, vor allem „westlicher“ Gesellschaften beschrieben, auch ohne Corona. Diese Normalität gilt ihm jedoch, wie man sich denken kann, als eine hochgradig entfremdete. Virilio begreift den rasenden Stillstand als Endstadium einer langen Entwicklungsphase stetiger Beschleunigung. Angefangen von der Frühindustrialisierung und den dort eingeführten neuen Fortbewegungsmitteln und Produktionsanlagen bis hin zu hoch effizienten Datenübertragungstechniken, die die Menschen Raum und Zeit überwinden lassen – am Ende sogar ganz ohne, dass man sich bewegt. Die Menschen sitzen nun da und können nicht mehr hin, wo sie hinwollen, weil sie immer schon da sind – und sind dabei unzufrieden mit diesem Zustand.
Man könnte ergänzen: Pathogen ist die Situation auch deshalb, weil die Anforderungen an den Einzelnen und dessen Fähigkeiten, den Erwartungen der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft zu entsprechen, zu groß geworden sind. So, wenn einerseits sowohl ein Fremd- als auch ein Selbstanspruch der Individuen besteht, in dem sich immer schneller bewegenden Fluss der Alltagsgeschäfte mithalten zu können, andererseits einem Großteil der Menschen jedoch die Möglichkeit genommen ist, diesem Anspruch nachzukommen – und dies nicht nur, weil sie aus Altersgründen nicht mehr in der Lage sind, den zeitlichen Herausforderungen, die ihr soziales Umfeld an sie stellt, zu entsprechen (Rinderspacher 2019a). Und es sind am Ende gerade diejenigen, die die von der Gesellschaft eingeforderte Leistung erbringen und die Pathogenität der so genannten Normalsituation akzeptieren (vgl. King et al. 2018), die gleichsam in das schwarze zeitliche Loch des Stillstands fallen und darin sozial und psychologisch paralysiert werden. Ist also die Pandemie nichts weiter als ein weiterer Brandbeschleuniger, hier für die Beschleunigung der Gesellschaft, die systemisch- notwendig ins Nichts, in eine Art Selbstzerstörung führt?
Den Verlockungen des hübschen Bildes vom rasenden Stillstand zu erliegen ist nachvollziehbar, führt jedoch, wenn es um die Beschreibung der gegenwärtigen zeitlichen Lage der Gesellschaft unter Coronabedingungen geht, in die Irre. Gemeint ist doch die Klage: Die Zeit rast und wir mit ihr, doch wir drehen uns dabei im Kreise, wir kommen nicht voran! Wo aber wollen wir eigentlich hin, wo sollen wir hin wollen? Zu Recht kritisiert Virilio wie einige andere Autor*innen vor und nach ihm, dass die immanente Steigerungslogik der Zeitverwendung, die auch als die „infinitesimale Verwendungslogik der Zeit“ beschrieben worden ist (Rinderspacher 1985a), verheerende Folgen für Mensch und Umwelt habe und letztlich in die Katastrophe führe (Reheis 2019). Und sehr nachvollziehbar das frustrierende Gefühl der Menschen in einer „Kultur der knappen Zeit“ (Rinderspacher 1988a), dass Zeiterfahrung im Wesentlichen mit dem Verschwinden der Zeit assoziiert ist oder in anderer Form als „Leiden an der Zeit“ (Theunissen 1991; vgl. Kap. 5.3) erlebt wird. Tatsächlich kann sich die Erfahrung zeitlichen Stillstands je nach sozialem Kontext, in der sie vorkommt, als eine negative Erfahrung darstellen. Aus der eigenen Anschauung kennt man die Situation im Fahrstuhl oder bei Langeweile in der Freizeit, aber auch am Arbeitsplatz (vgl. Goodstein 2005).
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