„Lehren aus dem Ukrainekonflikt“: Leseprobe

Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern

 

herausgegeben von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters

 

Über das Buch

Der Euro-Maidan in der Ukraine, die Annexion der Krim und der von Moskau unterstützte Separatismus im Donbass haben die schärfste Krise der Ost-West-Beziehungen seit 1989/90 ausgelöst. Die Deutung des Ukrainekonfliktes ist umkämpft. Was haben die Akteure gelernt? Die Konfrontation mit Russland gründet in fundamentalen Werte- und Interessenkonflikten, welche die Aussicht auf eine Rückkehr zu vertrauensvollen Beziehungen überschatten. Welche Schlussfolgerungen lassen sich für die Sicherheitspolitik, die Konfliktprävention und das Krisenmanagement ziehen?

Leseprobe aus den Seiten 239 – 242, Beitrag von Andreas Heinemann-Grüder

 

Was lehrt der Ukrainekonflikt?

 

von Andreas Heinemann-Grüder

 

Putins Krieg gegen die Vorstellung einer von Russland unabhängigen Ukraine hat einen ethno-kulturellen, politischen und militärischen Antagonismus demarkiert, aus dem zwei verfeindete Nationalstaaten und exclusive Loyalitäten hervorgehen, ein Prozess, der anhält. An die Stelle des früheren russisch-ukrainischen Multikulturalismus treten im hegemonialen Diskurs ideelle Monokulturen. Über den Gräben und an den Gräbern werden keine Hände gereicht, sondern Monumente errichtet, die kommende Generationen beauftragen, unvollendete Kriege zu beenden.

Putins Russland hat einen Pyrrhussieg errungen, es hat sich, durch eigene Hybris, Gegner herangezüchtet, die es absehbar nicht wieder losbekommt. Russlands Propagandisten mögen noch Teile der russischsprachigen Gemeinschaften erreichen, aber sie verlieren jene, die es zu „kleinen Brüdern und Schwestern“ degradieren wollte. Russland ist nach wie vor mächtig, da Atommacht und Petrostaat, aber es hat nur noch „Bündnispartner“, die sich ohne russische Gehhilfen nicht mehr halten können.

Die Tragik der politischen Klassen Russlands besteht darin, keinen Nationalstaat repräsentieren zu wollen, sondern ein Reich. Solange Russland seinen Reichsideen anhängt, ist es verdammt, ein Paria in den internationalen Beziehungen zu sein, gefürchtet, aber von niemandem geachtet.

Mittlerweile sind Pfadabhängigkeiten und strukturelle Realitäten geschaffen worden, die eine Rückkehr zum Status quo ante unwahrscheinlich machen. Gerade aufgrund seiner Fundamentalisierung scheint der Konflikt immer weniger verhandelbar. Die betroffenen Menschen, aber auch die Politik sind Geisel eines Konfliktes, in dessen Regelung immer weniger politisches Kapital investiert wird. Das Elend wird bestenfalls verwaltet. Alle konfliktbeteiligten Seiten beziehen Legitimation aus dem Konflikt, er stiftet kollektive Identitäten.

Wie also soll mit einem Konflikt umgegangen werden, an dessen Verstetigung sich alle strategischen Akteure angepasst haben? Im post-sowjetischen Raum stehen seit Jahren, in einigen Fällen schon drei Jahrzehnten, Territorien unter der Kontrolle von Separatisten bzw. Russland als Patronstaat. Die nichtanerkannten De-facto-Regime in Südossetien, Abchasien, Nagorny Karabach, Transnistrien und dem Donbasss sind beständig. Doch was bedeutet dies für den Umgang mit solche Entitäten? Zwischen den Extremen Abstrafung, Blockade und Sanktionen auf der einen und Anerkennung auf der anderen Seite gibt es ein weites Spektrum an Handlungsoptionen, gleichwohl aber wenig Orientierungswissen darüber, was das eigene Verhalten anleiten könnte.

Der Ukrainekonflikt zog einen Paradigmenwechsel im Verhalten gegenüber Russland nach sich, und doch steckt das nötige Lernen aus der Krise, insbesondere in der Politik, erst in den Anfängen. Krisenlernen ist ein mühseliges Geschäft, das durch Routinen der Interpretation, der Diplomatie und gefällige Selbstbilder behindert wird. Macht ist das Privileg, nicht lernen zu müssen, formulierte der Politikwissenschaftler Karl Deutsch sinngemäß. Mit anderen Worten, erst wenn die Ohnmacht der Akteure unerträglich ist, werden sie bereit sein zu lernen. Dies mag erklären, warum die Lehren des Ukrainekonfliktes bisher so spärlich ausfallen. Nach dem Irakkrieg von 1992 verfasste Karl Otto Hondrich einen Essay mit dem Titel „Lehrmeister Krieg“. Seine These: Die Dominanz des Siegers (oder der Sieger) muss von den Unterlegenen als Niederlage der eigenen Werte akzeptiert werden (Hondrich 1992). Der Gewaltkonflikt in und um die Ukraine – wie auch viele Kriege nach 1989 – endete jedoch mitnichten mit dem Sieg der militärisch überlegenen Macht, sondern mit Pyrrhussiegen, einem Patt oder anhaltendem Stellungskrieg. Russland beherrscht die Krim und Teile des Donbass, aber es verlor die Ukraine als Verbündeten. Nur wenn die Kapitulation bedingungslos ist, nötigen Kriege auch zur mentalen Unterwerfung (wie im Falle Deutschlands nach 1945), ansonsten sinnen die Verlierer auf Revision. Der bzw. die Sieger können sich ihrer militärischen Überlegenheit nur selten sicher sein. Die letzten drei Jahrzehnte lehren zuvörderst, dass militärische, ökonomische und ideelle Dominanz von Großmächten nur die Chimäre von politischer Gestaltungsmacht erzeugt. Geländegewinne sind Pyrrhussiege, denn Staats- und Nationsbildung unter den Auspizien von Großmächten ist ein Widerspruch in sich. Marionettenregime oder Protektorate können bestenfalls semi-souverän sein, das gilt für Afghanistan, aber auch für alle De-facto-Regime.

Die billigende Hinnahme eines subalternen Status hat nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes aufgehört, ein beherrschendes Muster der internationalen Beziehungen zu sein. Sofern Dominanz noch „akzeptiert“ wird, basiert sie auf Abhängigkeiten, Verwundbarkeiten und dem Angebot klientelistischer Güter durch den Großmachtpatron. Liefert der Patron nicht mehr, fallen alle „Freunde“ ab. Großmächte mögen so militärisch überlegen sein – so wie Russland im Ukrainekonflikt –, aber ihre Dominanz ruft mehr Widerspruch als Akzeptanz hervor.

Neben dem „Lehrmeister Krieg“ gibt es den „Lehrmeister Frieden“. Nur eine überlegene Gesellschaft, fähig zur Problemlösung und zur gesellschaftlichen Integration, kann Zustimmung und gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten. Der „Lehrmeister Krieg“ lehrt Wachsamkeit, Früherkennung, Abschreckung, Eindämmung, Verteidigung, die Notwendigkeit zur Einhegung des Krieges und zur Einhaltung des humanitären (Kriegs-) Völkerrechtes. Der „Lehrmeister Frieden“ lehrt, dass die Lebensfähigkeit von Regimen von Institutionenvertrauen, sozialem Ausgleich sowie der Fähigkeit zum Angebot öffentlicher Dienstleistungen bestimmt wird.

Der Konflikt innerhalb der Ukraine wurde ausgelöst durch die Legitimationskrise des Ancien Régime unter Präsident Janukowytsch. Der Konflikt verwandelte sich hernach in einen Kampf um Köpfe und Herzen, um die Legitimationsnarrative. Im Ukrainekonflikt geht es mithin nicht nur um Geopolitik, sondern darum, glaubwürdig gegenüber der eigenen Bevölkerung zu sein. Wer kann den Glauben an legitime Herrschaft – jenseits des Staatsrechts – erzeugen?

Der Ukrainekonflikt ist darüber hinaus eine Projektionsfläche für die Obsession russischer Eliten mit dem eigenen Großmachtstatus. Russlands Führung verkauft sich dem heimischen Publikum als überlegen, gerade um von den Einkommenseinbußen seit der Finanzkrise von 2008, der wachsenden Einkommensschere und der Legitimationskrise des autokratischen Regimes abzulenken. Die Propaganda des putinschen Regimes hat den Statusverlust Russlands nach der Auflösung der Sowjetunion sowie das verbreitete Unbehagen darüber, von den Ex-Bündnispartnern in Osteuropa und von China wirtschaftlich überholt worden zu sein, sowie die uneingestandene Scham über die sowjetischen Massenverbrechen durch Stolz auf die historische Größe Russlands und der Sowjetunion ersetzt.

Die Revanche für das russische Versailles– Syndrom seit Auflösung der Sowjetunion ist außenpolitisch gefährlich, weil die wissenschaftlich-technologische Unterlegenheit durch aggressives Gebaren kompensiert wird. Russlands Verhalten bewirkt freilich das Gegenteil des Beabsichtigten, nämlich die Abkehr von potenziellen Partnern. Russlands Großmachtpolitik ist so in einem Paradoxon verfangen – je mehr es Einflusssphären reklamiert, umso mehr Gegnerschaft ruft es hervor. Russland kann keinen Frieden gewinnen, Solange es an einem Selbstbild festhält, das seinen Nachbarn nur einen nachgeordneten Status zugesteht.

 

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Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters (Hrsg.):

Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern