„Mythos Reflexion“: Leseprobe

Mythos Reflexion

Zur pädagogischen Verhandlung von Reflexion zwischen Notwendigkeit und Unsicherheit

herausgegeben von Stephan Kösel, Tim Unger, Sabine Hering und Selma Haupt

 

Über das Buch

Reflexion wird zumeist als zentral für professionelles pädagogisches Handeln angesehen. Wie sicher ist aber unser Wissen über Reflexion? Ist Reflexion zu einem Mythos innerhalb der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit geworden, weil die etablierten Formen und Verständnisse von Reflexion mehr versprechen oder gar verschleiern, als sie halten können? Andererseits bedarf es gerade Reflexion als professionellem Anspruch, um widersprüchliche und komplexe Anforderungen zu versöhnen bzw. daraus resultierende Unsicherheiten zum Sprechen zu bringen. Die Autor*innen haben sich im Format des Denkkollektiv zu Workshops getroffen, um zwischen ihren jeweiligen Perspektiven auf den Mythos Reflexion disziplinäre Fragen, übergreifende Herausforderungen und Potentiale für Professionalisierungsprozesse zu klären und präsentieren ihre Ergebnisse in diesem Band.

Leseprobe aus den Seiten 7 bis 13

 

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Mythos Reflexion?

Stephan Kösel, Tim Unger, Sabine Hering, Selma Haupt

 

1 Anliegen und Entstehungszusammenhang des Bandes

Reflexion wird für professionelles pädagogisches Handeln zumeist als zentral angesehen. Wie sicher ist aber das Wissen über die Prozesse und Effekte von Reflexion? Inwiefern ist Reflexion tatsächlich eine conditio sine qua non für professionelles pädagogisches Handeln?

Die Beiträge sind das Ergebnis der kooperativen Forschungsarbeit von zehn Wissenschaftler*innen, die sich im Stile eines Denkkollektivs seit 2020 zum Thema Mythos Reflexion? mit der Frage befasst haben, inwieweit die Lehrer*innenbildung und die Soziale Arbeit das Normative von Reflexion erzählen und verhandeln. Dieser Band stellt die zentralen Erkenntnisse der beteiligten Forschenden vor und soll einen Beitrag dazu leisten, den professionstheoretischen Diskurs stärker auf die Auseinandersetzung mit der prekären Lage des Reflexionsbegriffs auszurichten.

Das gegründete Denkkollektiv ist ein vom Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft der RWTH Aachen University und der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Olten/Schweiz organisierter, in seiner Zusammensetzung wechselnder Verbund von Forschenden, der sich bewusst transdisziplinär und hochschulübergreifend konstituiert. Es begreift sich als ein kreativer Ort, der auf die Öffnung neuer Betrachtungs- und Handlungsmöglichkeiten der Erziehungswissenschaft und Pädagogik zielt. Neuheit meint hier die Ermöglichung einer produktiven Verschiebung des Blicks und das Entstehen eines Raums für ein möglichst offenes Denken. Ziel dieses Arbeitsformates war es, gemeinsam in Muße zu räsonieren und tiefer in die Kritik am Reflexionsbegriff eintauchen zu können, als dies zumeist auf Tagungen möglich ist.

Wichtig war uns, dass das Arbeitsformat im Sinne eines boundary crossing nach Guile/Griffith (2001) und Engeström (2016) als Zu-Mutung funktionieren sollte, um eigene Wissens- und Denkgrenzen kollaborativ zu erkennen. Wir haben dagegen nicht das Ziel verfolgt, eine Theorie des Mythos Reflexion zu entwerfen. Vielmehr trieb uns die Frage um, wo genau die Begrenztheiten des Reflexionsanspruchs sichtbar werden – in der Hoffnung, die Aufklärungsarbeit zu den Verdeckungen, Deformationen und Glorifizierungen voranzutreiben, die mit dem Reflexionsbegriff in Forschung und Praxis pädagogischer Professionen oft einhergehen.

Die Teilnehmenden haben sich im Frühjahr und Herbst 2021 online getroffen und in unterschiedlichen Formaten das Thema bearbeitet. Hierzu hatten sie im Vorfeld aus ihren disziplinären Arbeits- und Projektfeldern heraus ein Positionspapier verfasst, das im Rahmen des ersten Treffens diskutiert, danach überarbeitet und im Herbst erneut in den Diskurs gestellt worden war. Begleitet wurden wir von Michael Mittag (Pädagogische Hochschule FHNW), der die zentralen Themenfelder und auch die Prozesse des Diskurses – wie diesen Einleitungsartikel – mit Illustrationen dargestellt und dadurch einen alternativen Blick in das Denkkollektiv eingebracht hat. Wir möchten uns an dieser Stelle für seine Unterstützung herzlich bedanken. Ebenso bedanken wir uns für die zuverlässige Unterstützung im Lektorat von Corinna Henn, Anna Heus und Tanja Domenig.

 

2 Professionstheoretische Verortung und Relevanz des Reflexionsbegriffs

Zentrale Merkmale klassischer Professionen werden im Verständnis der Berufssoziologie (wie u. a. Gemeinwohlorientierung, Autonomie/Entscheidungsfreiheit, exklusives Handlungskompetenzmonopol (vgl. Kurtz 2002: 49)) eindeutig definiert und umrissen. In Bezug auf den Lehrberuf und den Bereich der Sozialen Arbeit als moderne Professionsgruppen wird hingegen ein „gewandeltes Begriffsverständnis“ deutlich, da ebendiese „durch eine hohe innere Dynamik und wachsende Vielfalt“ (z. B. ihrer Zuständigkeiten) gekennzeichnet sind und den Kriterien klassischer Professionen nicht universell entsprechen (Terhart 2011: 202). Ob jemand als ‚professionell‘, ‚professionalisiert‘ oder ‚professionell handelnd‘ anerkannt wird, kann historisch und wissenschaftstheoretisch unterschiedlich begründet werden. So wird die Soziale Arbeit im Kontext traditioneller berufssoziologischer Ansätze eher als „verstreute“ oder „bescheidene“ Profession gedeutet (vgl. Helsper 2021; Schütze 1992). Verstreut, weil sie eine professionelle Handlungsstruktur aufweist, die „in disparaten Handlungsfeldern im Spannungsfeld von Kontrolle und helfender Unterstützung, in einer, Doppelstruktur‘ sozialpolitisch-administrativer Vorgaben, gesetzlicher Regelungen und Kontrollen einerseits und personenbezogener pädagogischer Unterstützung und Beratung andererseits sehr verschiedene Formen annehmen kann.“ (Helsper 2021: 47, Herv. im Org.). Diese Doppelstruktur erweitert sich jedoch zum Tripelmandat durch den expliziten Bezugspunkt „einer Profession als Verpflichtung auf Wissenschaftsbasierung und professionellen Ethikkodex, der sich zentral an den Menschenrechten orientiert“ (Staub-Bernasconi 2015: 93). Dass diese professionsethischen Bezugspunkte auch wesentlich in der Gestaltung der Arbeitsbeziehung liegen können, zeigen etwa Grundwald und Thiersch (2018) in der Theorie der Lebensweltorientierung, in der u. a. mit den Strukturmaximen der Alltagsnähe und strukturierter Offenheit die alltagsweltlichen Eigenlogiken zu rekonstruieren und dann evolutionär zu verstehen sind: „In pädagogischen Arrangements entwirft und realisiert Soziale Arbeit Räume und Strategien gelingender Alltäglichkeit […], um das Gegebene dabei zu transzendieren (Grundwald/Thiersch 2018: 307, Herv. im Org.). Böhnisch (2018) verortet mit der Theorie der Lebensbewältigung bzw. mit dem dazugehörigen Drei-Ebenen-Modell das personal-dynamische Bewältigungsverhalten in Beziehung zu relational-intermediären Bewältigungskulturen und der sozialstrukturellen Ebene der gesellschaftlichen Entgrenzung von Bewältigungskonstellationen. Die drei Beispiele zeigen, dass das Tripelmandat Sozialer Arbeit einer professionstheoretischen Verortung jenseits offensichtlich dual organisational-interaktionistischer auch gesellschaftstheoretischer Verhältnisbestimmungen bedarf und diese Verortung nicht als gelöst zu bezeichnen ist.

Wenn auch nicht mehr als Semiprofession bezeichnet, so verweist die Konnotation Sozialer Arbeit als bescheidene Profession insbesondere auf die Verhältnisbestimmung zu anderen Professionen in den meist multiprofessionellen Arbeitsfeldern. Zum Beispiel sei professionelles Handeln davon abhängig,

„daß eine Profession ihre eigene abgegrenzte symbolische Sinnwelt zur Verfügung habe und nach außen hin abschirmen könne. […] All diese Voraussetzungen seien bei der Sozialarbeit nicht erfüllt: sie fuße mit ihren Diagnose- und Bearbeitungspraktiken nicht auf einer oder gar auf mehreren eigenkontrollierten wissenschaftlichen Fachdisziplinen. […] Sozialarbeit sei stattdessen ein relativ ohnmächtiger, verwaltungsabhängiger und von den mächtigen Professionen (u. a. Ökonomie, Medizin) kontrollierter Arbeitsbereich.“ (Schütze 1992: 142)

Dieser Befund wird auch in jüngerer Zeit bestätigt, indem mangels einer klar konturierten Deutungs- und Handlungsmacht „Soziale Arbeit darauf spezialisiert ist, nicht spezialisiert zu sein“ (Scherr 2015: 167) und Professionelle insofern vor der Anforderung stehen, die Relevanz ihrer Expertise argumentativ in den jeweiligen Entscheidungsprozessen durchzusetzen. Daher plädiert Burkhard Müller (2012) auch nicht für ein Professionsmodell, bei dem defizitäre Kontrastierungen zu klassischen Professionen abgearbeitet werden müssten. Er spricht von einer offenen Professionalität, die ohne eine monopolisierbare Expertendomäne auskommt (vgl. Müller 2012). Nicht umsonst konzipierte er seine multiperspektive Fallarbeit auf den drei Grundfragen des „Fall von“, „Fall für“, Fall mit“, wonach in dieser Trias Zuständigkeitsfragen von unterschiedlichen Professionen, Fallkonstruktionsfragen und Fallgestaltungsfragen mit den Klient*innen originär als professioneller Gegenstand erst immer hergestellt und dann gestaltet werden müssen (vgl. Müller 2019).

Im Gegensatz zur Lehrer*innenprofession, die durch die staatliche Schulpflicht und die damit verbundene, – weitgehend – von Marktlogiken befreite Institutionalisierung der Schulen als alleinzuständige Organisationen, welche immer mit dem Vorhandensein von Schüler*innen als Klientel rechnen kann, um darauf eine Arbeitsbeziehung aufzubauen, basiert Soziale Arbeit auf einer originären Offenheit, Legitimations-, Argumentations- und Gestaltungsnotwendigkeit. Während Fend (2008) in seiner Neuen Theorie der Schule anschaulich aufzählt, dass Schüler*innen in ihrer Schulkarriere bis zu 15.000 Schulstunden absolvieren (vgl. ebd.: 56), konstituiert sich in der Sozialen Arbeit ein Arbeitsbündnis oft gar nicht oder ist schon nach zehn Minuten wieder vorbei, weil der Klient bzw. die Klientin abbricht oder gar, ohne stellvertretende Deutung des Professionellen, für sich entscheidet, ausreichend Hilfe erhalten zu haben. Während in der Schulpflicht die „Neugierde als Konstitutionsbedingung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses systematisch aberkannt und disqualifiziert wird“ (Oevermann 2003: 63), bedarf es in der Sozialen Arbeit nicht nur des von Oevermann benannten Leidensdruckes, sondern insbesondere Vertrauenszuschreibungen an Professionelle, in die Sinnhaftigkeit des Starts, der Rekursivität der Arbeitsbeziehungen und das sinnvolle, selbstverantwortliche Austreten aus den selbigen.

Diese Notwendigkeiten der Herstellung und Gestaltung von Arbeitsbeziehungen führen im Kontext neoliberaler Markt- und Effektivitätslogiken in den Organisationen Sozialer Arbeit zu einem spezifischen Spannungsverhältnis von Organisations- und Professionslogik und auch zur Konnotation einer bedrohten Professionalität (Becker-Lenz et al. 2015). „Eine Bedrohung ergibt sich strukturell durch den Druck der Programmfinanzierungen und -administrationen, innerhalb der vorgegebenen Problemdefinitionen zu bleiben und diese erkennbar vorrangig zu behandeln […]. Ein nachvollziehbarer Opportunismus kann zu einer Unterschreitung fachlicher Mindeststandards führen“ (Pantuček-Eisenbacher 2015: 33).

Die Profession der Lehrer*innen hat, trotz einer zunächst weitgehenden Alleinzuständigkeit und der Schulpflicht, in ihrer Entwicklung gleichwohl auch ein Gestaltungsproblem, gilt es dieses jedoch anders zu bewältigen. Auch wenn die Arbeit von Lehrkräften nicht berufsförmig, sondern professionsspezifisch strukturiert ist, wurden Lehrkräfte bis in das 20. Jahrhundert hinein, u. a. aufgrund ihrer unsicheren Wissens- und Kompetenzbasis, als „semiprofessionell“ bezeichnet (vgl. Terhart 2011: 205). Professionsdiskurse in der Lehrer*innenbildung zielen daher verstärkt auf die grundlagentheoretische Aufarbeitung und empirische Untersuchung des professionellen Handelns, u. a. in Bezug auf die gestiegenen Anforderungen und Problemlagen in der modernen und fragilen Leistungsgesellschaft, mit denen Professionelle in ihrer Arbeit konfrontiert werden (vgl. Helsper 2021; Tiefel 2004). Im Bereich der Lehrer*innenbildung dominieren kompetenz- und berufsbiografische Ansätze, während in der Sozialen Arbeit vor allem strukturtheoretisch und interaktionistisch argumentiert und geforscht wird (vgl. u. a. Schütze 1996). Im Folgenden werden vier Ansätze zur Bestimmung pädagogischer Professionalität unterschieden und damit einhergehende Herausforderungen professionellen Handelns sowie die Relevanz des Reflexionsbegriffs im Umgang mit ebendiesen skizziert: der kompetenztheoretische, der strukturtheoretische, der interaktionistische und der berufsbiografische Ansatz (vgl. Heinrich et al. 2019; Kunze 2021; Terhart 2011).

2004 wurden durch die Kultusministerkonferenz kompetenztheoretische Standards für die Lehrer*innenbildung in den Bildungswissenschaften definiert (vgl. KMK 2004). Professionalisierung in diesem (bildungspolitischen) Verständnis geht mit der Entwicklung von berufsspezifischen Kompetenzen, wie z. B. Erziehen, Unterrichten, Diagnostizieren und Beurteilen einher. Die Professionalisierung und Reflexion der eigenen Könnensentwicklung ist in Ausbildungsphasen und institutionenbezogen verankert. Diverse Könnens- Bereiche, die für den Umgang mit berufsspezifischen Anforderungen erforderlich sind, sollen institutionell verankert und dementsprechend qualitativ abgesichert sowie zertifiziert entwickelt und gefördert werden.

Im Unterschied zum kompetenztheoretischen Ansatz legen die strukturtheoretische (u. a. Helsper 1996/2016; Oevermann 1996) und interaktionistische Professionsforschung (u. a. Schütze 1992/1996) einen anders gelagerten Fokus auf Professionalisierung und professionelles Handeln. Beide Ansätze gehen davon aus, dass professionell Handelnde mit konstitutiven Spannungen und Ungewissheiten umgehen müssen, die sich aus den spezifischen Struktur- und Anforderungsbedingungen der Handlungspraxis ergeben. Typisch für den Alltag von Professionellen sind Zielkonflikte (bzw. Antinomien, Paradoxien), die bei der Umsetzung des gesellschaftlichen Zentralwertes der Profession (Erziehen, Bilden, Heilen) erzeugt werden. Im Zentrum des strukturtheoretischen Ansatzes steht die Frage, inwieweit Reflexivität bzw. „kommunikativ- dialogische Praxisreflexionen“ (Berndt/Häcker/Leonhard 2017: 10) zu einem konstruktiven Umgang mit widersprüchlichen, aber nicht aufhebbaren Anforderungen an das professionelle Handeln führen (vgl. Helsper 2021). Professionelle sind, so scheint es, auf Selbstreflexion angewiesen, je unbestimmter und voraussetzungsreicher die Handlungssituation erscheint, um mit dieser Selbstreflexion den individuellen Umgang mit strukturtheoretisch bedingten Spannungsfeldern ordnen zu können, welcher eben oft erst für diese Handlungsunsicherheit sorgt.

Gut erforscht ist, welche Widerspruchskonstellationen in einzelnen pädagogischen Handlungsfeldern wie Unterrichten, Erziehen und Beurteilen auftreten können (vgl. Helsper 1996; Rothland/Terhart 2007; Schütze/Breidenstein 2008; Wiesemann 2000). Herausforderungsvoll bleibt jedoch die Frage, ob diverse Ansätze zur Reflexion, z. B. von Theorie-Praxis-Konzepten, Studierenden helfen können, auftretende Spannungsfelder verstehen und bewältigen zu können.

Auch im interaktionistischen Ansatz wird das professionelle Handeln grundsätzlich als fehler- und störanfällig betrachtet. Dies bedeutet, dass die Gestaltung der Interaktionsbeziehung mit nicht lösbaren, aber reflexiv verfügbaren Paradoxien verbunden ist, mit denen der oder die Professionelle in der jeweiligen Praxissituation umzugehen hat. Insbesondere im Zuge des gesellschaftlichen Wandels (vgl. Beck 1996; Giddens 1995) sind Professionelle zudem vermehrt „zu einem aufmerksamen und kritischen Professions- und Selbstbewusstsein“ aufgefordert, um ebendiese Paradoxien „händeln zu können“ (Tiefel 2004: 116).

Im Rahmen des biografieorientierten Ansatzes wird Professionalität als berufsbiografisches „Entwicklungsprojekt“ betrachtet (vgl. Jaekel 2019; Terhart 2011: 208). Im Fokus steht der Zusammenhang von Biografie und beruflicher Entwicklung, insbesondere „die Kontinuität und Brüchigkeit der beruflichen Entwicklung über die gesamte Spanne der beruflichen Lebenszeit“ (Terhart 2011: 208). Relevantes Professions- und Reflexionswissen wird biografisch erworben und ist biografisch, d.h. im Wechselverhältnis mit der Selbst- und Weltsicht des Professionellen, verankert. Die Biografie kann dabei Ressource und Belastung zugleich sein: Ressource, wenn Professionelle an biografische identitäts- und orientierungsstiftende Sinnbezüge anknüpfen und dies zu Stabilität und Kontinuität/Kongruenz im Handeln beiträgt und Belastung, wenn Erfahrungen zu Blindstellen im Handeln oder zur Missachtung und Abwehr bestimmter Problemlagen führen (vgl. Helsper 2021: S.115). Reflexion, hier verstanden als ein Prozess bzw. Vorgang der Bewusstmachung und Distanzierung von solchen Blindstellen, wird dann zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für das professionelle Handeln.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in den vorgestellten Ansätzen sowohl professionstheoretische als auch modernisierungstheoretische Annahmen zur Relevanz und Tragweite des Reflexionsbegriffes deutlich werden. So wird Reflexion auf unterschiedliche Weise mit dem Adjektiv „professionell“ verknüpft, u. a. in der Form eines „notwendige[n] Korrektiv[s] zu Routine“ (Tiefel 2004: 116), als personale Kompetenz im Umgang mit den Auflösungs- und Ungewissheitstendenzen der Moderne (u. a. vgl. Beck 1996) oder als „Motor und Instrument für Bewegung, Veränderung und Innovation“ (Tiefel 2004: 116, Herv. im Org.). Ausbildungsstätten, wie Hochschulen und Praxiseinrichtungen, sind daher gleichsam dazu aufgefordert, Räume für die Reflexion, z. B. von professionellen Strukturmerkmalen, zu eröffnen und diese zu gestalten.

Reflexion gilt insgesamt – so wird deutlich – im Professionalisierungsdiskurs als Konsensformel oder auch Schlüsselkompetenz (vgl. Berndt/Häcker/ Leonhard 2017: 11; Häcker 2021/2019; Leonhard 2020) und stellt z. B. für den Lehrer*innenbildungsdiskurs ein Gravitationszentrum dar. Die Professionali13 sierung angehender Lehrkräfte wird dabei unmittelbar mit der Steigerung von Reflexivität in Verbindung gebracht (vgl. Reh 2004: 369, siehe auch Helsper 2021). Reflexionsfähigkeit bzw. -kompetenz kann sich dabei auf „das pädagogische Gegenüber, das pädagogische Handeln, die pädagogische Beziehung, und/oder das pädagogische Selbst“ beziehen (Göhlich 2011: 138). Die Hinweise auf die drei genannten Theorien Sozialer Arbeit verdeutlichen, dass sich in der Sozialen Arbeit der Anspruch einer Reflexivität nicht nur aus der Herstellungs- und Gestaltungsnotwendigkeit der fragilen Arbeitsbeziehungen ergibt, sondern Reflexion als professionelle Tätigkeit sich auch auf die Verhältnisbestimmung zu anderen, in derselben Organisation tätigen Professionen beziehen muss, um die Frage, wer, wie, wann welche Deutungs- und Entscheidungshoheit aufgrund welcher gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesse erhält und ausgestalten kann bzw. fachlich sollte, beantworten zu können.

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