von Gudrun Quenzel, Michael Beck, Sebastian Jungkunz
Über das Buch
Demokratie muss gelernt und gelebt werden – ein idealer Ort dafür ist die Schule. Das vorliegende Buch zeigt, wo Schüler*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in ihren Schulen mitbestimmen können und wie sie hierbei Toleranz, Empathie und Selbstwirksamkeit erlernen. Die Studie macht deutlich, dass Mitbestimmung in der Regel außerhalb des Unterrichts stattfindet, obwohl für junge Menschen gerade eine stärkere Beteiligung an Unterrichtsthemen besonders interessant ist.
Leseprobe aus den Seiten 7 bis 11
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1 Relevanz von demokratischer Erziehung in der Schule
Gudrun Quenzel, Sebastian Jungkunz und Alessandro Renna
A democracy is more than a form of government; it is primarily a mode of associated living, of conjoint communicated experience (John Dewey)
Eine demokratische Gesellschaft ist kein Selbstläufer – Demokratie muss gelernt und praktiziert werden (Habermas, 1992). Das gilt sicherlich immer, aber angesichts eines erstarkenden Populismus in Europa (Sandrin, 2021; Mudde, 2021), steigender sozialer Unsicherheit und eines sinkendes Vertrauen in gesellschaftliche und politische Entwicklungen (Bone, 2021; Bynner & Heinz, 2021), einer geringen Wahlbeteiligung junger Menschen (European Union, 2021) und dem verbreiteten Gefühl, dass sich Politikerinnen und Politiker wenig um die Belange junger Menschen kümmern (Bastedo, 2015), scheint es aktuell besonders dringlich, der Frage nachzugehen, wo und wie junge Menschen die Demokratie lernen können.
1.1 Schule als Ort, Demokratie zu lernen
Der viel zitierte Satz, dass eine Demokratie ohne Demokratinnen und Demokraten auf Dauer nicht (über-)lebensfähig ist, lenkt den Blick von Politikerinnen und Politikern auf Bürgerinnen und Bürger und wirft die Frage auf, wie aus Bürgerinnen und Bürgern Demokratinnen und Demokraten werden. Als zentraler Ort, an dem junge Menschen Demokratie lernen können, gilt in demokratischen Gesellschaften die Schule. Erziehung und Demokratie wurden in der politischen Philosophie traditionell eng zusammengedacht. Denker wie Immanuel Kant, Émile Durkheim und John Dewey betonten die Bedeutung öffentlicher Erziehung als Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf die politische Mündigkeit. Denn Menschen müssten zunächst lernen, frei zu denken und frei zu sein, bevor sie Mitglied eines sich selbst regierenden Staatsvolks werden können. Auch müssten sie lernen, andere Menschen als gleichberechtige Partnerinnen und Partner wahrzunehmen und ihre Perspektive zu verstehen und anzuerkennen (Honneth, 2012, S. 429).
Diese grundsätzlichen Überlegungen zur engen Verbundenheit von Schule und Demokratie sind intuitiv einleuchtend. Aber was bedeutet es konkret, dass junge Menschen in der Schule „Demokratie“ lernen? Wodurch lernen sie demokratische Werte? Welche Kenntnisse und Kompetenzen sind für den Erhalt und die Weiterentwicklung eines demokratischen Gemeinwesens wichtig? Wie können junge Menschen diese Kenntnisse und Kompetenzen erwerben?
1.2 Welche Kompetenzen sind wichtig, damit aus Kindern und Jugendlichen politisch interessierte und aktive Bürgerinnen und Bürger werden können?
Jugendliche wachsen heute in einer Gesellschaft auf, die von einer zunehmenden Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung geprägt ist. Folgt man Fritz Scharpf (1998), dann ist Wissen eine entscheidende Voraussetzung für politische Teilhabe, denn in einer demokratischen Gesellschaft benötigen die Bürgerinnen und Bürger zumindest ein Grundverständnis der politischen Prozesse. Sonst können sie die Entscheidungen ihrer gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten – unabhängig davon, ob sie diesen zustimmen – nicht länger rational nachvollziehen, und die politischen Institutionen und eventuell sogar das politische System insgesamt verlieren ihre demokratische Legitimationsgrundlage. Es ist deswegen wichtig, der nachkommenden Generation Kenntnisse über politische Prozesse, Entscheidungsverfahren und demokratische Regeln zu vermitteln. Wissen und Kenntnisse über politische Prozesse scheinen dabei an Bedeutung noch zuzunehmen, da politische Entscheidungen vermehrt in internationalen Kontexten gefällt werden, dadurch an Komplexität gewinnen und beschleunigt werden (Amlinger & Nachtwey, 2021; Müller-Salo & Westphal, 2018; Rosa, 2013).
Hinzu kommt, dass die westlichen, demokratischen Gesellschaften aufgrund von Migration und Individualisierungstendenzen heterogener werden, was für die Nachvollziehbarkeit und die Legitimation politischer Entscheidungen ebenfalls eine Herausforderung ist (Pickel & Pickel, 2018; Wintermantel, 2020). Pluralistische Gesellschaften können als demokratische Gemeinwesen nur dann funktionieren, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger ein hohes Maß an Offenheit, Toleranz, Empathie und Kompromissfähigkeit mitbringen. Denn in einer funktionierenden Demokratie müssen alle Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen und Lebensweisen artikulieren können, sie müssen aber auch die Bereitschaft mitbringen, die Interessen und Lebensweisen der anderen anzuerkennen und die nach demokratischen Regeln getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.
Wichtiger noch als Kenntnisse über politische Prozesse ist aus Sicht vieler politischer Denkerinnen und Denker jedoch das Erlernen und Erleben von demokratischen Grunderfahrungen, insbesondere die eigenen Anliegen und Interessen zu artikulieren und mit diesen ernst genommen zu werden (Almond & Verba, 1963; Soler-i-Martí, 2015). Die so erlebte politische Selbstwirksamkeit stärkt das konkrete Zugehörigkeitsgefühl zur (erfahrenen) Gemeinschaft und das abstrakte Vertrauen in die Legitimation demokratischer Entscheidungsprozesse (Bacher & Weber, 2008; Johnson, 2015). Hierzu gehört nach Axel Honneth „im Einzelnen ebenso viele Schichten der Selbstachtung und des Selbstwerts entstehen zu lassen, die ihm zusammengenommen dann ein selbstbewusstes Auftreten als Bürger einer Republik erlauben“. Denn ein zukünftiger Staatsbürger müsse „zunächst über das zentrale Gut der ‚Selbstachtung‘ verfügen können, bevor er sich als Gleicher unter Gleichen an der republikanischen Selbstgesetzgebung beteiligen kann“ (Honneth, 2012, S. 433).
Zu den bekanntesten Vertretern dieses Ansatzes, dass Demokratie vor allem über praktische Erfahrungen gelernt wird, gehört John Dewey (1916/1980), der bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts für eine Demokratisierung des alltäglichen Lebens im Allgemeinen und der Schule im Besonderen eintrat. Er argumentierte aus der Grundüberzeugung, dass Demokratie keine Regierungsform, sondern ein Lebensstil sei – eine bestimmte Art des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns, wozu auch und insbesondere das Aushandeln von Interessen gehöre. Dewey versteht Demokratie entsprechend als aktiv zu gestaltende Gesellschaftsform. Durch die Reflexion des eigenen Handelns und durch die Berücksichtigung der Interessen der Anderen entstünden ein stimulierendes und anregendes Handlungsumfeld, in dem sich Fähigkeiten und Kompetenzen optimal entwickeln können. Dabei werde nach Dewey das Handlungsumfeld umso anregender, je heterogener und vielschichtiger es sei.
Auch Axel Honneth (2012, S. 431) sieht als zentrales, durch die Schule zu vermittelndes Ziel der Demokratieerziehung die Förderung des Kooperationsvermögens und der individuellen Selbstachtung. Zum Kooperationsvermögen gehört aus seiner Sicht die Fähigkeit der Perspektivübernahme, des Sich-inandere- hineinzuversetzen-Könnens und der Toleranzfähigkeit. Zentral ist dabei auch das Einüben von Kommunikationskompetenzen, um in einer kooperativen Gemeinschaft eine gemeinsame Willensbildung erlernen zu können. Kommunikationskompetenzen können – so Honneth (2012, S. 437) – vor allem durch kooperative Lernmethoden, durch gemeinschaftsbezogene Formen der Ermutigung und der Kritik sowie durch Mitbestimmung an allen die Schule betreffenden Angelegenheiten erlernt, eingeübt und dadurch habitualisiert werden. Denn, so schreibt er, „Je weniger die Schüler oder Schülerinnen im Unterricht als isolierte, leistungsbringende Subjekte adressiert, je stärker sie mithin als Mitglieder einer lernenden Kooperationsgemeinschaft behandelt werden, desto eher dürften sich unter ihnen Kommunikationsformen einstellen, in denen kulturelle Differenzen nicht nur spielerisch akzeptiert, sondern als Chancen der wechselseitigen Bereicherung begriffen werden können.“ (Honneth, 2012, S. 440). Im Idealfall entstehe in der Schule eine Kultur der Assoziation im Sinne einer selbstverständlichen Perspektivübernahme im kommunikativen Aushandlungsprozess. Damit dies gelingen kann, ist es wichtig, dass die beteiligten Individuen die Kunst, „sich zu assoziieren“ lernen, also die Kunst, Differenz bestehen zu lassen, aber einen Konsens über das unaufhebbare Recht auf Dissens zu finden.
Hannah Arendt (1981, S. 33–38) hebt in ihren Überlegungen zu den Grundsätzen demokratischer Gemeinschaften die Verantwortung jedes Einzelnen für die aktive Gestaltung eines politischen öffentlichen Raumes hervor. In diesem öffentlichen Raum können alle Menschen in ihrer Verschiedenheit individuell erscheinen und über Kommunikation und gemeinsames Handeln vereinbaren, wie man als Gesellschaft zusammenleben möchte. Es ist dieser öffentliche Raum, in dem die intersubjektiv anerkannten Werte und Regeln in einer Gesellschaft bestätigt oder neu ausgehandelt werden. Denn Politik ist aus ihrer Sicht im Wesentlichen ein Verständigungsprozess darüber, wie die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gemeinsam gestaltet werden sollen. Diese Gestaltung der Verhältnisse ist dabei nicht als einmaliger und abschließbarer Prozess zu verstehen, sondern als permanenter, niemals abgeschlossener Prozess. Es soll und muss immer wieder argumentiert und verhandelt werden. Dafür ist es wichtig, dass junge Menschen lernen, zu reflektieren, zu argumentieren und zu verhandeln. Es ist zentral, dass sie ihre Eigenverantwortlichkeit für das Zusammenwirken und -leben, für die soziale Ordnung, für das Miteinander erkennen, in dem der oder die Einzelne ein unverwechselbarer Teil des Ganzen ist (Kahlert & Lenz, 2001, S. 14–31).
1.3 Bildung und Partizipation: Möglichkeiten und Potenziale
Die Überlegungen von John Dewey, Axel Honneth und Hannah Arendt zeigen, wie wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche in der Schule nicht nur auf eine spätere Teilhabe am demokratischen Leben vorbereitet werden, sondern die Institution Schule als Lebens- und Arbeitsort verstanden wird, in dem die Regeln eines demokratischen Zusammenlebens aktiv praktiziert werden. Durch diese positive Erfahrung von Mitbestimmungsmöglichkeiten kann eine demokratische Haltung von Kindern und Jugendlichen erarbeitet und eingeübt werden. Denn, wenn Kinder und Jugendliche in der Schule mitbestimmen und dadurch Demokratie aktiv in der Schule erleben können, verinnerlichen sie die Formen eines demokratischen Miteinanders und werden – so die Annahme – 11 auch als Erwachsene ihr Verhalten an demokratischen Prinzipien orientieren (Brügelmann, 2019, S. 624).
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