Geblättert: Leseprobe aus „Achtsam studieren“

Cover "Achtsam studieren"

Achtsam studieren

Mit Praxisteil

von Helmut Aatz

 

Über das Buch

Schlüsselkompetenz Achtsamkeit: Im Spannungsfeld von Ansprüchen, Bedürfnissen, Umbrüchen und einer ungewissen Zukunft benötigen Studierende neben Fachwissen und Intelligenz auch innere Stärken. Der Autor vermittelt Grundprinzipien der Achtsamkeit und führt durch ein Trainingsprogramm, um Kompetenzen wie Selbstvertrauen, Akzeptanz, Beziehungsfähigkeit und Zuversicht aktiv zu entwickeln.

Leseprobe aus den Seiten 9 bis 16

 

***

Einleitung

Warum dieses Buch? – Herausforderungen des Studiums

Studieren Sie? Erfolgreich? Motiviert? Überzeugt? Effizient? Mit sich zufrieden? Mit Zeit für Spaß, Geselligkeit und Erholung? Wenn ja, dann lesen Sie ein anderes Buch. Denn dies kann Ihnen kaum etwas bieten, was Sie nicht schon könnten.

Allen anderen, die kein so glückliches Händchen fürs und mit dem Studium haben, möchte ich kurz vor Augen führen, was sie beim Studieren alles auf die Reihe kriegen müssen. Das hilft Ihnen vielleicht, etwas weniger kritisch mit sich umzugehen.

Studieren ist heute ein Job, der von Ihnen täglich ein absolut anspruchsvolles Selbstmanagement fordert. Das ist nicht nur das Zeitmanagement, wann machen Sie was und wie strukturieren Sie den Tag. Vielleicht haben Sie noch einen Job neben dem Studium, vielleicht sind die geforderten Studienleistungen an sich schon he­rausfordernd und erfordern Priorisierungen, deren Risiken getra­gen und ausgehalten werden müssen. Auf jeden Fall muss es Ihnen gelingen, Konzentration und Anstrengung einerseits und Spaß und Entspannung andererseits irgendwie auszubalancieren. Niemand kann den ganzen Tag oder sogar über Wochen voll konzentriert sein, vor allem wenn es trockene Studienkost zu verdauen gilt.

Das allein stellt ja schon hohe Ansprüche an die Selbstdisziplin. Wirklich herausfordernd wird es, wenn Studium und Ablenkung nur einen Klick voneinander entfernt sind. Vielleicht kennen Sie den abendlichen „Morgen-fange-ich-wirklich-an“-Vorsatz, der sich ziemlich folgenlos am nächsten Tag in den Verführungen von WhatsApp, Netflix oder Youtube auflöst und lediglich in einen neuen Vorsatz für morgen mündet. Frühere Generationen hatten es da ohne diese „selbstsamen Attraktoren“ etwas einfacher. Doch ohne Smartphones, Tablets und Computer geht es nicht, sind sie doch auch die wichtigsten Studiengeräte. Die Herausforderung ist, den Verführungen der Attraktoren zu widerstehen.

Wenn es etwas im studentischen Leben gibt, was stärkt, Spaß macht und hilft, Frust zu überwinden und Unangenehmes zu ertra­gen, dann ist es Gespräch, jemanden kennlernen und zusammen sein mit anderen Studierenden. Geteiltes Leid ist halbes Leid und Tipps und Anregungen gibt es noch obendrauf. Doch die Gesprä­che über Studienprobleme sind durch die Hochglanz-Selbstdar­stellungs-Welt auf Social-Media-Plattformen schwerer geworden. Die eigenen Schwächen sind zwar für uns selbst unübersehbar riesig, aber im sozialen Wettbewerb wenig hip und like-verdäch­tig. Die Vermutung, dass die anderen alles viel besser auf die Reihe kriegen als man selbst, wird im WhatsApp-Trommelfeuer zur Ge­wissheit: Die anderen haben immer schon mit der Prüfungsvorbe­reitung angefangen, schaffen es, sich vom Handy nicht ablenken zu lassen, verstehen und behalten Textinhalte beim ersten Lesen, sind hoch motiviert, von keinerlei Selbstzweifel geplagt und sind vor allem in und werden bewundert.

Dazu kommt der Umgang mit den eigenen Ansprüchen, manch­mal auch denjenigen von anderen, z. B. Eltern oder Lehrenden. Ansprüche sind zwar ein wichtiger Motivationsfaktor, aber sie kön­nen auch zu hoch oder zu ausnahmslos sein, was im Vorfeld von Prüfungen schwer einzuschätzen ist. Auf jeden Fall sorgen sie für den ganz normalen Prüfungsstress. Zusätzlich angefacht wird er durch langfristigere Befürchtungen, wie zum Beispiel die Vorstel­lung, sich mit einem weniger guten Studienabschluss, die Zukunft zu verbauen oder durch ein Verlängerungssemester, Geld- oder Karrierechancen zu verpassen.

Und dann Corona: Das stille Kämmerlein wird zum Hörsaal. Keine Real-Life-Treffen, kein Kennenlernen, kein zusammen Ler­nen, kein Austausch. Der Einsamkeit ist schwer zu entkommen. Die Digitalisierung macht Studieren zwar möglich, aber langwei­liger und für viele schwieriger. Selbstdisziplin und persönliches Zeitmanagement werden noch mehr auf die Probe gestellt. Vor­lesungen, die rund um die Uhr online sind, haben zweifellos große Vorteile, müssen allerdings auch nie jetzt, sondern können immer auch später gehört werden. Und später heißt oft genug verkürzt, zwischen Tür und Angel, nachts oder gar nicht. Und Online-Semi­nare, bei denen man die eigene Präsenz in Form von Mikro und Kamera abschalten kann, laden ein, auch den Geist abzuschalten und sich mit weniger Anstrengendem zu beschäftigen.

Die in den 1980er-Jahren bekannt gewordene Begrüßung eines Radiomoderators zur Mittagszeit „Guten Tag, meine Damen und Herren, guten Morgen, liebe Studenten“, trifft heute sicher nicht mehr die Realität des studentischen Lebens. Wenn Sie selbst schon bemerkt haben, wie wenig lustig das Studierendenleben ist, so können Sie sich in guter Gesellschaft fühlen, wie wissenschaft­liche Studien zeigen. Eine breit angelegte Studie der AOK von 2016 zum Stress bei Studierenden belegt, dass der durchschnitt­liche Stresslevel bei Studierenden sogar höher ist als in der Nor­malbevölkerung.1

Und eine Umfrage der Techniker Krankenkasse von 2017 bestätigt, dass sich in Deutschland rund die Hälfte der Studierenden „extrem angestrengt“ fühlt und unter stressbeding­ter Erschöpfung leidet.2

Die Belastungen der Studierenden in der Pandemie sind natürlich auch nicht kleiner geworden. Beispiels­weise zeigt eine Studie, die 2021 an der Fakultät für angewand­te Sozialwissenschaften der Hochschule München durchgeführt wurde, dass vor allem soziale Kontakte vermisst werden, was einer der Gründe zu sein scheint, dass bei knapp der Hälfte der Studie­renden eine erhöhte Depressivität festgestellt wurde und sich der Gesundheitszustand Studierender gegenüber 2020 um ca. 13 Pro­zent verschlechtert hat.3

Wenn Sie also Ihr Studium trotz Leistungsdruck, Prüfungsstress, hohen Ansprüchen, Motivationskrisen, Zweifel an Studienwahl und Leistungsfähigkeit, Einsamkeit, Misserfolgen, Aufschieberitis, falschen Prioritäten, Selbstzweifel, finanziellen Engpässen, die Liste lässt sich problemlos verlängern, einigermaßen auf die Reihe bekommen, ohne in die Knie zu gehen, krank oder depressiv zu werden, dann haben Sie meine volle Hochachtung. Ich hoffe, Sie können sie auch für sich selbst empfinden. Die eigene Leistung an­zuerkennen und zu würdigen, bedeutet nicht, dass das Leben und Lernen nicht noch besser sein könnten, z. B. mit etwas besseren Noten, mehr Motivation, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Zuver­sicht und etwas weniger Stress.

Wenn Sie Ihr Studium nicht so gut auf die Reihe kriegen, dann hoffe ich, dass Sie sich angesichts der genannten Herausforde­rungen wenigstens Verständnis, vielleicht sogar etwas Mitgefühl entgegenbringen können. Mein Mitgefühl haben Sie auf jeden Fall. Ich bin zwar kein Student mehr, aber selbständig und viele Fallstricke, über die Sie im Studium stolpern können, kenne ich als Selbständiger auch sehr gut. In puncto Selbstmanagement sind wir Kollegen. Ich bin auch schon oft genug über meistens selbstge­spannte Stricke gestolpert und gefallen. Ich habe aber auch immer wieder erlebt, dass ich aufstehen kann. Ich traue Ihnen das genau­so zu. Denn ich bin überzeugt davon, dass alles in Ihnen steckt, was Sie brauchen, um aufzustehen und Ihr Studium erfolgreich zu bewältigen.

Dieses Buch hat nur ein Ziel: Ihnen einen Weg zu zeigen, wie Sie Ihre eigenen, manchmal versteckten Ressourcen entdecken, freilegen, entwickeln und fruchtbar machen können. Das ist der Weg der Achtsamkeit. Ich habe bei mir selbst und bei vielen an­deren, auch bei Studierenden, die ich in meinen Kursen kennen­gelernt habe, erlebt, wie stark sich Menschen verändern, froher, freundlicher und mental fitter werden können und sich selbst da­mit überraschen, wie sie Widerstände überwinden können, die sie als unüberwindbar angesehen haben.

Bevor ich Ihnen etwas dazu erzähle, was Achtsamkeit ist, wie wir ticken und wie Achtsamkeit in unser inneres Funktionieren eingreift, stelle ich Ihnen zuerst vor, wie dieses Buch aufgebaut ist, was Sie von ihm erwarten können und was nicht, wie Sie mit dem Buch umgehen können und wie Sie sich mit ihm und im Idealfall zusammen mit ein paar Gleichgesinnten auf den Weg machen kön­nen. Diese Informationen können Ihnen entscheiden helfen, ob es sich für Sie lohnt, dem Buch Ihre kostbarsten Ressourcen, nämlich Ihre Zeit und Ihre Aufmerksamkeit zu schenken und sich auf das Trainingsprogramm einzulassen.

Wenn Sie den Eindruck haben, dass das Programm im Moment nichts für Sie ist, legen Sie das Buch einfach weg, ohne Reue oder das Gefühl, etwas zu verpassen. Sie können darauf vertrauen, es gibt viele Wege nach Rom. Am schnellsten und am zuverlässigsten kommen Sie dort an, wenn Sie den Weg gehen, der Sie anspricht und zu Ihnen passt. Das muss nicht Achtsamkeit sein. Ein Umzug, Yoga, neue Freundschaften, ein Instrument lernen, einem Sport­verein beitreten oder ein anderes Buch können Sie auch nach Rom bringen.

 

Aufbau des Buches

Der erste Teil des Buches ist so etwas wie der Theorieteil, der Ihnen helfen soll, nicht nur sich selbst besser zu verstehen, sondern auch den Aufbau des Trainingsprogramms, das ich im zweiten Teil vor­stelle, verständlicher und nachvollziehbarer zu machen.

Im Theorieteil skizziere ich zuerst ein zeitgemäßes, d. h. insbe­sondere von den Neurowissenschaften geprägtes Bild davon, wie wir innerlich ticken. Dabei geht es unter anderem um Fragen wie: Was bedeutet eigentlich lernen für uns als Menschen? Wie lernen wir etwas und welche Rolle spielt dabei die Stressreaktion? Wa­rum ist die Entwicklung von Gewohnheiten und Automatismen so wichtig und welche Nachteile haben sie für uns? Mir geht es in diesem Kapitel nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung mit vielen Fußnoten, einer Menge zitierter Literatur und der detaillier­ten Beschreibung hochkomplexer physiologischer, biochemischer und neuronaler Prozesse. Mir geht es darum, anhand erfahrungs­naher Beispiele ein Bild von uns Menschen zu vermitteln, das Ih­nen helfen kann, sich selbst etwas mehr Verständnis, Wohlwollen und vielleicht auch Mitgefühl entgegenzubringen, wenn Sie wie­der mal nicht so denken, fühlen und handeln, wie Sie es gerne tun würden. Ich wäre froh, wenn diese Absicht die Experten aus den verschiedenen Disziplinen versöhnlich stimmen könnte, wenn ich ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und Modelle verkürze und vereinfache.

Auf der Grundlage dieser Skizze, wie wir innerlich funktionie­ren, führe ich im nächsten Kapitel das Konzept der Achtsamkeit ein. Sie ist eine bestimmte Art der bewussten Aufmerksamkeit, die tief in unser automatisches Funktionieren eingreift und durch Me­ditation trainiert werden kann.

Zum Schluss des Kapitels gehe ich auf den Haken ein, mit dem sich alle auseinandersetzen müssen, die von Achtsamkeit profitieren möchten: das Training. Achtsamkeit wirkt nur, wenn sie praktiziert und trainiert wird. Was für die körperliche Fitness selbstverständlich ist, wird in mentalen Zusammenhängen gerne übersehen.

Das tiefe Eingreifen von Achtsamkeit in das innere Funktionie­ren des Menschen bietet eine Erklärung dafür, dass Achtsamkeit vielfältig wirkt und viele Aspekte des menschlichen Lebens positiv beeinflussen kann. Im folgenden Kapitel stelle ich die breite wis­senschaftliche Wirksamkeitsforschung zu Achtsamkeit summa­risch und anhand einiger ausgewählter Studien vor und gehe kurz auf den gegenwärtigen Achtsamkeits-Boom ein. Denn nicht zuletzt aufgrund der nachgewiesenen Wirksamkeit sind Achtsamkeit und Meditation heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Im letzten Kapitel des Theorieteils weite ich den Fokus aus vom Individuum auf die Gesellschaft und die Welt. Achtsamkeit hat auch einen genuin ethischen Impetus, der in einer notwendiger­weise freundlichen Haltung gegenüber sich selbst und anderen wurzelt. Deshalb glaube ich, dass Achtsamkeit eine große Chan­ce nicht nur für Einzelne, sondern für die ganze Gesellschaft ist. Sie kann Transformationen in unserer aller Köpfen und vielleicht auch in Ihrem Kopf beschleunigen, die notwendig sind, um die drängenden globalen Herausforderungen zu meistern und heute eine Zukunft zu bahnen, in der Sie noch leben möchten. Mit alten Vorstellungen und Denkmustern im Kopf wird das nicht klappen. Denn klar ist, dass Sie als Gestaltende Ihrer Zukunft politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen „auf die Straße brin­gen“ müssen, ähnlich disruptiv wie die Transformationen der Na­tur, deren Kraft wir in der Pandemie oder bei Überschwemmungen wie in Ahrweiler kennengelernt haben oder die Transformationen des Zusammenlebens, die der Ukrainekrieg fordert.

Im zweiten Teil des Buches stelle ich das Trainingsprogramm vor. Das strukturierte und aufeinander aufbauende Trainingsvor­gehen orientiert sich am Ablauf eines Semesters. Es dauert elf Wo­chen und umfasst zwölf Trainingseinheiten.

Die ersten vier Trainingseinheiten des Programms sind dem Kennenlernen gewidmet, nicht nur von Achtsamkeit, sondern auch von eigenen Stärken und Ressourcen. Ziel der ersten Wo­chen ist es, eine verlässliche Grundlage für das weitere Training zu schaffen, unter anderem durch die Entwicklung einer möglichst stabilen Meditationsroutine, die während des ganzen Programms beibehalten werden sollte. Diese Grundlage könnte man verglei­chen mit der Grundkondition im Sport, die ja auch immer mittrai­niert werden muss.

In den zweiten vier Trainingseinheiten stehen das Finden, Durchführen und Auswerten eines Selbstführungsexperiments im Zentrum. Das Experiment besteht darin, etwas im normalen Studi­enalltag zu verändern, was eine positive Wirkung auf das Studium haben könnte, z. B. alle Smartphone-Nachrichten für drei Stunden am Tag zu unterdrücken, um sich nicht ablenken zu lassen oder bestimmte Lerntätigkeiten tatsächlich anzupacken und nicht mehr aufzuschieben.

In den dritten vier Trainingseinheiten geht es um den Um­gang mit Prüfungen oder Klausuren, den Blick in die Zukunft so­wie das persönliche Fazit aus dem Trainingsprogramm.

Für die Durchführung des Trainingsprogramms werden Medi­en und Materialien über die Links und QR-Codes auch online als Datei zur Verfügung gestellt:

  • schriftliche und Audio-Meditationsanleitungen,
  • ein Lerntagebuch mit wöchentlichen Selbstreflexionsfragen,
  • FAQ, insbesondere zum Umgang und zur Einordnung von Me­ditationserfahrungen

Alle Trainingsmaterialien und die Downloadmöglichkeiten finden Sie gesammelt im Anhang des Buches.

___

1 Herbst, U.; Voeth, M.; Eidhoff, A.T.; Müller, M.; Stief, S.(2016): Studierenden­stress in Deutschland – eine empirische Untersuchung.

2 Grützmacher, J.; Gusy, B.; Lesener, T.; Sudheimer, S.; Willige, J.(2018): Ge­sundheit Studierender in Deutschland 2017.

3 Franke, G.H., Petrowski, K., Gosch, A.& Jagla-Franke, M.(2021).Studie­ren unter Covid-19: Gesundheit, Belastungen und Ressourcen studentischer Fachgruppen im Jahr 2021.

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Achtsam studieren"Helmut Aatz:

Achtsam studieren. Mit Praxisteil

 

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com