Klassenrat – Probleme in der Schule gemeinsam lösen

Schulklasse vier Kinder und eine Lehrerin. Klassenrat

In der Schule im sozialen Brennpunkt Berg Fidel in Münster gibt es seit den 1990er-Jahren einmal pro Woche in jeder Klasse mindestens eine Stunde Klassenrat.

Er dient dazu, Probleme gemeinsam zu lösen. Unter Leitung der verantwortlichen Klassenlehrerin lernt die Klasse im Schulalltag, auch mit unangenehmen und komplizierten Problemen verantwortlich umzugehen. Wenn auf Toiletten E-Zigaretten geraucht werden, wenn auf dem Schulhof jemand bedroht wird, wollen wir nicht wegschauen, es stillschweigend ignorieren oder so tun, als habe das „normale“ Kind damit nichts zu tun.

Denn die meisten Schüler*innen wissen sowieso, dass es dies wirklich gibt. Sie bemerken Konflikte und Regelverstöße meist viel eher als ihre Lehrer*innen.

Das Verhalten von Lehrkräften beim Umgang mit Herausforderungen stellt für die Schüler*innen ein Modell da. Gehen sie Probleme aktiv an, beziehen sie die Kinder dabei als Expert*innen ein oder sagen sie abwehrend: „Das wird schon im Kollegium besprochen und dort entschieden, was zu tun ist“?

 

Der Klassenrat in der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist

Wir in der PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist sehen alle Problemfelder als Lerngelegenheiten. Wenn wir sie als „Katastrophe“ bewerteten, würden die Kinder und deren Eltern diese Haltung auch übernehmen und denken, dass Probleme eben von anderen gelöst werden sollten und vermeintliche Verursacher „von der Schule fliegen“ müssten.

Wenn wir jedoch z.B. das verletzende Verhalten eines Kindes nicht ignorieren, sondern in erster Linie mit der gesamten Klasse „nur“ zu verstehen versuchen, dann lernen wir gemeinsam mit Kindern und Eltern Strategien zu entwickeln, wie wir diese Schwierigkeit gemeinsam und zum Wohle aller lösen. Denn an der Lösung von Problemen sind oft viele beteiligt, genauso an deren Entstehung.

In Problemen, Krisen und unerwarteten Konflikten haben die Kinder und Jugendlichen die Chance, solidarisches Miteinander zu kultivieren. Besonders sinnvoll ist, mit dem Klassenrat gleich am ersten Schultag zu beginnen, damit klar ist, dass Konflikte nie unter den Teppich gekehrt werden sollen.

Zu diesem Zweck gibt es das Klassenratsbuch, wo Kinder ihre akuten Probleme eintragen, die sie mit der Klassengemeinschaft besprechen möchten. Sie gewöhnen sich daran, dass Probleme nicht unmittelbar geklärt werden können, aber erfahren die verlässliche Sicherheit, dass die Klasse sie in absehbarer Zeit im Klassenrat löst.

Inzwischen haben wir unsere Grundschule Berg Fidel zu einer Schule vom Schulbeginn bis zum 10. Schuljahr erweitert, damit die Kinder keinen Bruch nach Klasse 4 erleben müssen, der Freundschaften beschädigen kann (siehe Stähling 2025a). In dieser PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist ist regelmäßiger Klassenrat verbindlich bis zum 10. Schuljahr.

 

Beispiel für einen Klassenrat[1]

Der 13jährige Max organisiert in Pausen oft das Fußballspiel und teilt Mannschaften ein. Er schließt seit einiger Zeit immer wieder den gehemmt wirkenden Ahmad aus. Dieses Mal mit den Worten: „Hau ab, die Spasti, du spielst nicht mit!“

Ahmad wehrt sich nicht. Er ist motorisch verlangsamt und kann nicht so schnell reagieren beim Ballspiel, will aber eigentlich immer dabei sein. Er schweigt zu diesem Vorfall und steht am Rand des Spielfeldes. Die Kränkung sieht man ihm nicht an.

Als eine Lehrerin ihn anspricht, sagt er ganz verschämt, er habe heute keine Lust mitzuspielen. Voller Scheu spielt er seine Verletztheit in sich selbst runter und tut so, als sei alles normal so. Er selbst habe heute sowieso Schmerzen am Bein, erklärt er der Lehrerin seine Rolle als Zuschauer. Ihm ist es sehr unangenehm, darauf angesprochen zu werden.

Er möchte Max als seinen Freund sehen. Max und Ahmad wohnen in derselben Straße, ihre Eltern kennen sich nicht.

Täglich steht Ahmad wieder am Spielfeldrand und erklärt auch den anderen Kindern, dass er nicht könne, weil sein Bein weh täte. Seine Klasse kennt ihn auch in anderen Situationen eher als zurückhaltenden Jungen, der sich nicht vordrängelt und seine Bedürfnisse schwer formulieren kann. Im Klassenrat spricht zunächst niemand über den Vorfall bei Fußball.

Bei einem anderen Problemgespräch im Klassenrat, wo Ahmad als Zeuge eines Streits zwischen Max und einem anderen Fußballer mit Namen Abu gefragt wird, was er gesehen habe, schweigt er eingeschüchtert. Max hatte Abu vom Spiel ausgeschlossen, der aber hatte sich gewehrt und Max beleidigt. Das stand im Klassenratsbuch. Die Mitschülerin Dina fragt nebenbei, wieso Ahmad denn nicht mitspielte. Ahmad zuckt die Achseln, ganz unvermittelt: „Weiß auch nicht!“ – Dann schweigt er wieder und möchte nicht sprechen.

Abu ist sehr empört, dass Max ihn ausgeschlossen hatte und sagt: „Und Max hat auch den Ahmad ausgeschlossen vom Spiel!“ Ahmad selbst schweigt. Die Lehrerin fragt ihn danach, aber er sagt, dass er Schmerzen am Bein habe und deshalb nur zuschauen würde.

Abu schreit plötzlich los: „Das stimmt gar nicht. Max hat gesagt: ‚Hau ab, du Spasti, du spielst nicht mit!‘“ Alle schweigen. Die Lehrerin bleibt ruhig und fragt Max, ob das so gewesen sei.

Max ruft: „Nein, der wollte ja nicht mitspielen!“

Ein anderer Spieler sagt ruhig: „Das ist gelogen. Du hast das gesagt und dann wollte Ahmad nicht mehr!“

Dina fragt Ahmad: „Stimmt das? Wolltest du eigentlich doch mitspielen?“

Ahmad: „Ja, vielleicht doch. Mein Bein war wieder in Ordnung!“

Abu ruft dazwischen: „Und Max hat ihm die ganze Zeit verboten, mitzuspielen! Auch als er wieder wollte. Jetzt sollte ich auch rausfliegen!“

Die Lehrerin sagt: „Das ist ja gut, dass wir das Problem hier auf dem Tisch haben. Ihr wisst ja, es ist immer gut, dass wir darüber sprechen. Damit wir mehr verstehen, denke ich, sollten wir beim nächsten Klassenrat in Ruhe darüber sprechen, dann wird das bestimmt nicht mehr vorkommen!“

Dank des Gesprächs über den Konflikt mit Abu kann Ahmad in vorsichtigen Schritten lernen, seine Passivität zu überwinden und seine Stimme zu erheben. Dass ihm dies schwerfällt, ist zu spüren.

Ahmad war eingeschüchtert und hatte sich mit seiner Opferrolle abgefunden. Diese Resignation aufzubrechen ist Ziel des Klassenrates.

 

Mit dem Klassenrat „zu Subjekten werden“

Meine dreißigjährige Erfahrung im sozialen Brennpunkt hat mir gezeigt, dass die Menschen dort besonders aufeinander angewiesen sind. Sie teilen ihr Schicksal von Armut und Not miteinander. Ihre schwierigen Lebensverhältnisse bewältigen sie, indem sie sich gegenseitig helfen.

Wer mit 7 Geschwistern in einer 3 Zimmer-Wohnung aufwächst, lernt täglich zu teilen. Solidarischen Kräfte, die Kinder aus Armut oft mitbringen, sind nützlich für ihre Lernprozesse. Sie müssen lebendig gehalten werden und vor gemeinschaftswidrigen schulischen Strukturen wie Sitzenbleiben oder Überweisungen in Sonderschulen geschützt werden.

Für die Entwicklung von Ahmad ist es aus pädagogischen Gründen unabdingbar, das Problem, das er mit Freunden erlebt, in Ruhe und Zuversicht mit Unterstützung der Gemeinschaft Schritt für Schritt zu klären. Würde dies nicht geschehen, weil es keinen Klassenrat gäbe, riskierte man, dass Ahmad sich wegen nicht aufgearbeiteter Konflikte zurückzöge und Freunde verlöre. Sein Selbstwert könnte daraufhin so geschwächt sein, dass seine Leistungsbereitschaft stockte. „Ein schwerer Kopf lernt nicht gut“.

Der Klassenrat ist also für ihn – und damit auch für die ganze Klasse – ein wichtiger psychohygienischer Faktor, seelische Schmerzen zu verhindern und die eigenen Stärken in der Solidarität mit den Mitschüler*innen dauerhaft aufzubauen und zu kultivieren.

 

Kinder als aktive Fürsprecher*innen für ihre Klassenkamerad*innen

Wir haben in unserer Klasse erlebt, wie Kinder energisch darum kämpfen, dass es gerecht zugeht und dass jedes Kind eine friedliche Schulzeit hat. Wenn ein Kind ausgegrenzt oder beleidigt wurde, wollen sie nicht, dass andere wegschauen; sie wollen es klären. Auch soll niemand isoliert werden und daher traurig sein.

Viele Kinder können nicht mit ansehen, wenn es anderen schlecht geht, z.B. weil eine Lehrerin ein Mädchen vor die Tür gestellt hat. Aus Angst, selbst eine solche verletzende Sanktion zu erleiden, greifen sie zunächst aber häufig nicht ein. Wenn sich die akute Situation jedoch entspannt hat, geht zuweilen z.B. eine Freundin hin und tröstet. Wenn sie sich nicht vor der Lehrerin ängstigt, ergreift sie dann – vielleicht erst später – das Wort: „Sie hat gar nichts gemacht! Sie wollte doch nur etwas fragen“.

Die sich bei Kindern aus Armut in vielen Klassenratsgesprächen entwickelnde „innere Stimme“ der Solidarität wird zum Gewissen, das sich bei Ungerechtigkeiten und Aussonderung anderer melden kann. Um sich zu wehren, brauchen sie aber ein sicheres Gefühl, dass in der Klassengemeinschaft tatsächlich Probleme besprochen werden, ohne dass jemand als „Petzer“ verlacht wird. Wenn sie sich eingeschüchtert als Objekte erleben, statt als Subjekte aktiv einzugreifen, können sie jedoch leicht resignieren.

Die afro-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Bell Hooks (1952–2021) ist ein Beispiel für einen solidarischen Aufbruch, den es lohnt genauer zu betrachten, wenn wir über die Kraft des Klassenrats nachdenken wollen. Hooks stellt sich auf die Seite der Benachteiligten und spricht stolz über ihre Herkunft als Schwarze aus einer armen Familie in den USA.

In unserer Schule sorgt die Gemeinschaft dafür, dass alle dazugehören, ihre eigenen Kräfte entwickeln können und so zu eigenständigen mutigen Menschen heranwachsen. „Inklusion“ ist immer im Interesse der Benachteiligten. Sie wird häufig verhindert durch schulische Vorgänge, die aber veränderbar sind. Hooks beschreibt, wie sie durch den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (1921- 1997) zu einer Sprache des Widerstands fand:

„Sehen Sie, ich kam aus dem Schwarzen Milieu der ländlichen Südstaaten an die Universität, hatte den Kampf um die Aufhebung der Segregation miterlebt und befand mich im Widerstand, ohne eine politische Sprache zu haben, um diesen Prozess zu artikulieren. Paulo war einer der Intellektuellen, dessen Arbeit mir eine Sprache gab. (…). Es gab einen Satz von Freire, der für mich zu einem revolutionären Mantra wurde: ‚Wir können nicht als Objekte in den Kampf gehen, um dann erst später zu Subjekten zu werden‘“ (Hooks 2023, S. 56).

 

Verantwortung der Erwachsenen

Die pädagogische Beziehung zu Kindern und Jugendlichen ist entscheidend. Bei uns ist sie geprägt durch eine Pädagogikethik (Prengel 2022, S. 59ff.). Wir sind verantwortlich für die Kinder und Jugendlichen. Wir Erwachsenen arbeiten mit ihnen auf der Basis eines advokatorischen Auftrags, für sie da zu sein, ihnen haltgebende Strukturen zu geben.

Zugleich haben die Pädagog*innen als Modell und vertraute Erwachsene großen Einfluss auf die Gefühlswelt und die Potentialentfaltung der Schüler*innen, der Eltern und auch der Kolleg*innen – im Guten wie im Schlechten. Eine Klasse wird eine solidarische Gemeinschaft, wenn der Klassenrat unter Anleitung von Erwachsenen dazu beiträgt, Probleme zu formulieren, Lösungen zu erörtern und neue Lösungswege tatsächlich zu erproben.

Die Kinder selbst kämpfen energisch darum, dass es gerecht zugeht und dass es jedem Kind gut geht. Um also in der Schule Probleme zu lösen, können wir die Kraft der Klassengemeinschaft nutzen, die eine enorme solidarische Kraft darstellt.  Lehrer*innen müssen nicht alles alleine machen. Sie haben Verbündete unter den Kindern.

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[1] Das Beispiel stammt aus meinem Buch Praxis Klassenrat. Konflikte verstehen und Persönlichkeiten stärken. Unter Mitarbeit von Barbara Wenders. Verlag Barbara Budrich. 35 Beispiele können  Klassenlehrer*innen helfen, die den Klassenrat einführen wollen oder bereits seit Jahren damit arbeiten.

 

Literatur

Freire, P. (1974): Pädagogik der Solidarität. Für die Entwicklungshilfe im Dialog. Wuppertal: Peter Hammer.

Freire, P. (2013 [1996]): Pädagogik der Autonomie. Münster: Waxmann.

Hooks, B. (2023): Die Welt verändern lernen. Bildung als Praxis der Freiheit. Münster. Unrast.

Prengel, A. (2020): Ethische Pädagogik. Weinheim: Beltz.

Prengel, A. (2022): Schulen inklusiv gestalten. Eine Einführung in Gründe und Handlungsmöglichkeiten. Opladen: Budrich.

Stähling, R. (2025a): Entwicklungsschritte einer Schule im Brennpunkt. Der praktische Weg zu Solidarität und Inklusion. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Stähling, R. (2025b): Praxis Klassenrat. Konflikte verstehen und Persönlichkeiten stärken. Unter Mitarbeit von Barbara Wenders. Opladen: Budrich.

Stähling, R. / Wenders, B. (2021): Worin unsere Stärke besteht – eine inklusive Modellschule im sozialen Brennpunkt. Gießen: Psychosozial-Verlag.

 

Der Autor

Reinhard Stähling 2025

Dr. Reinhard Stähling war bis 2022 Lehrer und Schulleiter der „PRIMUS-Schule Berg Fidel – Geist“ in einem sozialen Brennpunkt in Münster. 40 Jahre lang hat er in seinen Klassen die Problemgespräche im Klassenrat geleitet. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Praxis Klassenrat – Konflikte verstehen und Persönlichkeiten stärken“. Zusammen mit der Lehrerin Barbara Wenders hat er zahlreiche Bücher auf der Basis eigener Unterrichtserfahrungen veröffentlicht (siehe www.reinhard-staehling.de)

 

 

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Über „Praxis Klassenrat“

Stellen Sie sich vor, Kinder lösen Konflikte und entfalten ihr volles Potenzial – und das schon im Klassenrat! Das Buch zeigt, wie Kinder existenzielle Themen bearbeiten, Peer-Konflikte meistern und sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln. Basierend auf der innovativen Methode des Problemklassenrats der Schule Berg Fidel – Geist in Münster, verbindet es praxisnahe Anleitungen mit wissenschaftlichen und historischen Einblicken. Es beleuchtet, wie fundierte Methoden den Klassenraum in einen Raum der persönlichen Entwicklung verwandeln. Mit diesem Ansatz eröffnet sich ein Schulalltag, der Kinder ganzheitlich stärkt und das Gemeinschaftsgefühl nachhaltig fördert.

 

© Titelbild: pexels.com | RDNE Stock Project ; Foto Reinhard Stähling: privat