Eine Leseprobe aus Verletzendes Verhalten in Kitas. Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive der Fachkräfte von Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm, ein Buch aus dem Themenkomplex Gewalt in Kindertagesstätten.
Über das Buch
In Kindertageseinrichtungen arbeiten viele pädagogische Fachkräfte am Rande ihrer Belastungsgrenzen, auch aufgrund des immer weiter wachsenden Personalmangels. Die hohe Belastung erschwert zunehmend einen feinfühligen Umgang mit Kindern und kann sogar zu verletzenden Verhaltensweisen führen. Die Forschungsergebnisse der Studie zeigen die komplexen Ausprägungen von verletzendem Verhalten, vor allem aber die Schwierigkeiten der Fachkräfte, einen Ausweg aus Konfliktsituationen zu finden. Zugleich ergeben sich aus den differenzierten Hinweisen der Fachkräfte zentrale bildungs- und gesellschaftspolitische Ansatzpunkte zur Prävention.
Leseprobe: S. 13-20
2 Forschungsstand
Mit der Analyse und Darstellung des Forschungsstands sollen Erkenntnisse aus vier unterschiedlichen Blickrichtungen zusammengeführt werden: Erstens betrachten wir Erkenntnisse zum Stress und zu Belastungen von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Zweitens werden Studien und Diskurslinien beleuchtet, die die feinfühlige Beziehungs- und Interaktionsgestaltung als Grundlage des Wohlergehens von Kindern betreffen. Drittens nehmen wir die wenigen bislang vorliegenden Studienergebnisse zum verletzenden pädagogischen Verhalten in den Blick. Viertens erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des verletzenden Verhaltens in pädagogischen Beziehungen.
2.1 Stress und Belastungen von pädagogischen Fachkräften
Im Vergleich zu anderen Berufen ist die Berufsgruppe der frühpädagogischen Fachkräfte hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Die AQUA-Studie (Arbeitsplatz und Qualität in Kitas) bringt hervor, dass 72 % der befragten Fachkräfte unter übermäßigem beruflichem Stress leiden (vgl. Schreyer et al. 2014: 65 ff.). Auch bei einer Interviewstudie zum Thema Belastung und Erfüllung im Kita-Alltag meinen pädagogische Fachkräfte im Gegensatz zur berufstätigen Gesamtbevölkerung häufiger, „dass Stress- und Arbeitsdruck sowie die fachlichen Anforderungen in den letzten zwei Jahren gestiegen sind“ (Nürnberg 2018: 15 mit Verweis auf Hall & Leppelmeier 2015). Insofern mag es nicht verwundern, dass auch in einer früheren Studie zur Strukturqualität und Erzieher*innen-Gesundheit (STEGE) bei jeder zehnten Fachkraft in Nordrhein-Westfalen innerhalb eines Jahres ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom (Burnout) ärztlich diagnostiziert wurde (vgl. Viernickel & Voss 2012: 113). Darüber hinaus wird in der AQUA-Studie darauf verwiesen, dass 36 % der befragten Fachkräfte von Burnout gefährdet sind und Leitungen tendenziell mehr (vgl. Schreyer et al. 2014: 85). Berücksichtigt man, dass psychische Erkrankungen die längsten Ausfallzeiten mit sich bringen (pro Fall im Durchschnitt 37 Tage) und dass sich „besonders hohe Werte […] bei den Berufen zeigen, deren Haupttätigkeit in der Interaktion mit Menschen liegt“ (Knieps & Pfaff 2019: 66; 133), wird eine wohl weiter abwärts laufende Negativspirale des Personalnotstands in Kitas erkennbar.
Für den Bereich der Kindertagesbetreuung gilt es als erwiesen, dass strukturelle Belastungsfaktoren negative Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Fachkräfte nach sich ziehen (vgl. Viernickel & Voss 2012: 137). Psychosomatisch bedingte Beschwerden manifestieren sich in vielfältiger Form und Intensität. Als am häufigsten auftretende Beschwerden werden Verspannungen und Kopfschmerzen (54 %) genannt, gefolgt von Erschöpfung/Ausgebranntsein (31 %), Schlafstörungen (30 %), Kopfweh/Migräne (26 %), Nervosität/Gereiztheit (26 %), Herzkreislauf/Bluthochdruck (25 %), depressive Verstimmungen/Depression (13 %) sowie Magenbeschwerden/Übelkeit (12 %) (vgl. Nürnberg 2018: 11 mit Verweis auf TKK-Stress-Studie 2016). Frühere Studien verweisen zusätzlich auf Rücken- und Nackenschmerzen, Probleme mit der Stimme, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme und Nervosität, was zu erhöhter Reizbarkeit führt (vgl. Thinschmidt 2009: 9).
Über 50 % der in der STEGE-Studie befragten Fachkräfte sind davon betroffen, dass sie nach der Arbeit nicht abschalten können und sich mit beruflichen Problemen befassen (vgl. Viernickel & Voss 2012: 96). Wird aus diesen anfänglichen Belastungsauswirkungen ein dauerhaftes Erleben von Belastungsfaktoren, dann führt dies dazu, dass sich die Risiken auf psychische Beeinträchtigungen, Depressionen bis hin zum Burnout bei schlechten Rahmenbedingungen bis auf das 3,5-Fache erhöhen (vgl. ebd.: 122).
Dass die Folgen jeder einzelnen chronischen Beschwerde durchaus als dramatisch bewertet werden können, wird am Beispiel der Lärmbelastung in Kitas deutlich (vgl. Schreyer et al. 2014: 62; Berger et al. 2011: 27). Grundsätzlich führen anhaltender Lärm und daraus resultierende Sprech- beziehungsweise Stimm- und/oder Hörstörungen zu Einschränkungen im kommunikativen Verhalten (vgl. Oelze 2015: 6). Wenn das Sprechen und Hören zu anstrengend wird, vermeiden Menschen Kommunikationssituationen oder beschränken sie auf ein Minimum: Imperative kommen zwangsläufig häufiger zum Einsatz. Kinder wiederum reagieren noch sensibler auf Lärmbelastung. Nicht nur ihr Kommunikationsverhalten, sondern ihr gesamtes Verhalten verändert sich in Abhängigkeit von der Geräuschkulisse, was auf Seiten der Fachkräfte zwangsläufig einen höheren Einsatz erfordert. Aufgrund ihrer eigenen stressbedingten Einschränkungen können sie dem jedoch kaum nachkommen. Die Folgen von Lärm sind für Fachkräfte also direkter und indirekter Art (vgl. ebd.: 165).
Hinzu kommt, dass es den Fachkräften im Alltag an Erholungspausen mangelt. Beinahe jede zweite Fachkraft gibt in der STEGE-Studie an, dass sie keine Zeit für kleine Pausen habe und dass die gesetzlichen Pausenzeiten in einem Drittel der Einrichtungen nicht verbindlich gesichert seien (vgl. Viernickel & Voss 2012: 161; 76). Drei von vier Fachkräften und vier von fünf Leitungskräften fühlen sich durch den ständigen Zeitdruck belastet oder sogar stark belastet, so dass in der Folge mehr als 60 % angeben, keine ausreichende Zeit für die Kinder zu haben (vgl. ebd.: 156 ff.). Auch eine qualitative Untersuchung zum Gesundheitsverhalten von Erzieher*innen bringt hervor, dass Fachkräfte unter fehlenden Entspannungsmöglichkeiten leiden (vgl. Prüßner 2016: 24). Ebenso werden in der AQUA-Studie die hohe Arbeitsdichte und die Diskrepanz zwischen der benötigten und der real vorhandenen Zeit für gute pädagogische Arbeit von den befragten Fachkräften vielfach beklagt (vgl. Schreyer et al. 2014: 62).
Weitere Untersuchungen zeigen, dass pädagogische Fachkräfte aufgrund unzureichender Arbeitsbedingungen und der eigenen Erschöpfung die Signale und Bedürfnisse der Kinder manchmal gar nicht erst wahrnehmen und Themen von Kindern nicht aufgreifen können (vgl. Remsperger 2011). Eine niedrige Interaktionsqualität lässt sich unter anderen in Essenssituationen (vgl. Wildgruber et al. 2016) sowie in Gruppen mit erweiterter Altersmischung feststellen (vgl. Sommer & Sechtig 2016). Darüber hinaus können Übergangssituationen zu Spannungen führen. Für Kinder unter drei Jahren und für viele Kinder mit Beeinträchtigungen stellen Übergangssituationen im Kita-Alltag eine besondere Herausforderung dar (vgl. Gutknecht 2018). Fehlt Kindern in solchen Situationen die Orientierung durch die Fachkräfte, führt dies bei kleinen Kindern „zu erheblichem Stress und lässt das Risiko steigen, dass die Kinder in einen dysregulierten emotionalen Zustand geraten“ (ebd.: 2). Auch andere Kinder lassen sich dann von den Gefühlen eines Kindes irritieren.
Fachkräfte sind in diesen Situationen um ein Vielfaches mehr gefordert, um zu beruhigen, Trost zu spenden und die Kinder in ihren Regulationen zu unterstützen. Gleichzeitig steigt das Stress-Empfinden der Fachkräfte noch weiter an (vgl. ebd.). Übergangs- oder Schlüsselsituationen wie Essen, Schlafen, Wickeln und Garderobensituationen können folglich zu Überforderung, Hilflosigkeit und nicht-feinfühligem Verhalten führen (vgl. Schulz & Frisch 2015: 7; Draht 2018: 55; König & Kölch 2018: 19). Gerade die in Schlüsselsituationen entstehende und zugleich grundsätzlich von Kindern geforderte „Dauerpräsenz“, das heißt die permanente volle Aufmerksamkeit und Konzentration, empfinden pädagogische Fachkräfte als Belastung. Die so wichtige Emotionsarbeit und das bedingungslose Einlassen auf die Lebensumstände der Kinder gehen zudem mit der Unterdrückung eigener Stimmungen einher, was zu Spannungen führen kann (vgl. Viernickel & Voss 2012: 165 ff.).
Ein weiterer Aspekt, der mit Belastungen verbunden sein kann, ist der Umgang mit besonderen oder herausfordernden Kindern (vgl. Nürnberg 2018: 18; Viernickel & Voss 2012: 166). Nach Gauly (2018) zeigen „mindestens 15 Prozent der Kinder im Kindergartenalter Auffälligkeiten“ (ebd.: 45), die in nicht gelungenen Bindungsbeziehungen, belastenden Familienumständen, widersprüchlichen oder erniedrigenden Erziehungsmaßnahmen, Traumata beziehungsweise Gewalterfahrungen sowie Überforderungen (auch in der Kita) begründet sein können (vgl. ebd.: 43). Kinder, die ein auffälliges Verhalten zeigen, fordern einen Großteil der Energie der Fachkräfte. Erfahren die Kinder „anstelle von Zuwendung und Beziehung eher Ablehnung, Nichtbeachtung oder gar Ausgrenzung“, Maßregelung, Isolation und Stigmatisierung, ist dies als problematisch zu erachten (ebd.: 42).
Auch Fachkräfte selbst berichten davon, dass sie nur teilweise angemessen auf die emotionalen Anforderungen von Kindern reagieren können. Untersuchungen zu Bewältigungsmustern von Fachkräften haben gezeigt, dass 40 % der Befragten bereits ungünstige Emotionsausdrucksformen aufweisen (vgl. Thinschmidt 2009: 9). In diesem Kontext werden auch das „Diskrepanzerleben zwischen eigenem Anspruch und realisiertem Verhalten“ sowie fehlende Fortbildungsmöglichkeiten als belastend empfunden (Viernickel & Voss 2012: 156).
Als besonders fatal für das Belastungserleben von Fachkräften erweist es sich schließlich, wenn das rigide Verhalten von Kolleg*innen dem eigenen „Interaktionsideal eines offenen, adaptiven und responsiven Umgangs mit Kindern“ widerspricht (Nürnberg 2018: 42). Fachkräfte gehen „manchmal lieblos, wenig feinfühlig, schimpfend oder beschämend mit den Kindern“ um, sehen die Bedürfnisse von Kindern nicht, stellen sie bloß, schimpfen grundlos und vollziehen einen „sehr machtvolle[n] Umgang“ mit Kindern (ebd.).
Im Kontext der wenigen bislang vorliegenden Studien wird deutlich, dass ein verletzendes pädagogisches Verhalten – wenn überhaupt – meist nur in informellen Gesprächen thematisiert wird (vgl. Prengel 2020a: 101). Untersuchungen in Österreich zeigen ebenfalls, dass Übergriffe „verschwiegen und tabuisiert“ werden (Plattform EduCare 2019: online). Fach- und Leitungskräfte zögern, beobachtete verletzende Interaktionen bei ihren Kolleg*innen anzusprechen und vermeiden kritische kollegiale Gespräche (vgl. Nürnberg 2018: 42 f.). Draht beobachtete in ihrer Studie das Herunterspielen übergriffigen Verhaltens und spricht von einer „Verflachung“ pädagogischer Fachkräfte (Draht 2018: 55). Laut Maywald herrscht in Einrichtungen, die schlecht geführt werden, eine „Kultur des Verschweigens“ (zit. in Burger & Schaaf 2020). Während körperliche und sexualisierte Gewalt in der Öffentlichkeit zu Recht angeprangert und juristisch geahndet werden (vgl. Prengel 2019a: 9), wird trotz der Einführung von Kinderrechten und des Gewaltverbots in der Erziehung über den „Mangel an ethischer Orientierung“ in Teilen des Bildungswesens, der „eklatant die Beziehungsebene“ betrifft, nach wie vor weitgehend geschwiegen (Prengel 2020a: 101, vgl. Prengel 2020b: 13).
2.2 Feinfühlige Beziehungs- und Interaktionsgestaltung als Grundlage des Wohlergehens von Kindern
Heute ist es wissenschaftlich belegt, dass Kinder dann Wohlbefinden und ein Selbstwertgefühl entwickeln, wenn sie Geborgenheit durch vertraute Bezugspersonen erhalten, die sie kontinuierlich betreuen, die ihre körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllen und die voraussagbar und angemessen auf Kinder reagieren. Kinder brauchen Zuwendung, Anerkennung und ein Umfeld, in dem sie ihren Interessen nachgehen und sich als kompetent und selbstwirksam erleben können (vgl. Daum 2014: 13). Bindungspersonen vermitteln Sicherheit und Vertrauen, wenn Kinder unter emotionalen Belastungen und erschöpften eigenen Ressourcen auf die Unterstützung anderer Personen angewiesen sind. Feinfühlige Bindungspersonen schaffen so die Voraussetzungen dafür, dass Kinder ihre Umwelt erkunden und lernen können (vgl. Grossmann & Grossmann 2009: 230).
Auch wenn kontrovers darüber diskutiert wird, ob Beziehungen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern ebenfalls als Bindungsbeziehungen betrachtet werden können und zudem die Unterstützung des Beziehungsaufbaus unter Kindern verstärkt in den Blick genommen wird (vgl. Keller 2019: 71 ff.), ist es unstrittig, dass Kinder im Gruppenalltag Interaktionen mit verlässlich und feinfühlig handelnden Fachkräften erleben müssen, „damit sich ein Beziehungspotential entfalten kann“ (Weltzien 2018: 373). Im Rahmen einer stabilen Tagesbetreuung benötigen Kinder die Nähe und emotionale Zuwendung der Fachkräfte. Der Aufbau emotional tragfähiger und Sicherheit vermittelnder Beziehungen gilt daher auch in der Kindertagesbetreuung als eine Voraussetzung für gelingende Entwicklungs- und Bildungsverläufe von Kindern (vgl. u. a. König & Viernickel 2016, Wildgruber et al. 2016, Remsperger 2011). Wie Prengel betont, können „[g]enügend gute pädagogische Beziehungen, die sich aus einer Folge responsiver einzelner Interaktionen formieren, […] zum Wohlbefinden im Hier und Jetzt der Lebensphasen Kindheit und Jugend ebenso maßgeblich beitragen wie zum Lernerfolg und zum Gelingen langfristiger biografischer Entwicklungen“ (Prengel 2019a: 12).
Das Forschungsinteresse im Bereich der Beziehungs- und Interaktionsgestaltung in der Kindertagesbetreuung ist in Deutschland in den letzten Jahren stark gestiegen.1
Fachkraft-Kind-Interaktionen, die zum Wohlbefinden eines Kindes beitragen, zeichnen sich durch bestimmte Gelingensfaktoren aus (vgl. Wertfein et al. 2015: 7; Weltzien & Söhnen 2019: 9). Hierzu zählen:
- eine hohe Beziehungsqualität,
- häufige Gespräche,
- ein ausgewogenes Maß an aktiver Beteiligung der Kinder und der Fachkraft,
- ein angemessenes Feedback zum Spiel der Kinder sowie die feinfühlige Unterstützung im Spiel,
- die Ermöglichung von Zugehörigkeit und Beteiligung etwa durch die Moderation bei Konflikten
- sowie eine zugewandte Lernunterstützung und Anregung zum Weiterdenken.
Um eine hohe Interaktionsqualität zu gewährleisten, braucht es somit die Fähigkeit zur Gestaltung eines kindbezogenen Verhaltens in den unterschiedlichen Situationen des pädagogischen Alltags. Eine „zugewandte, liebevolle und von emotionaler Wärme geprägte Interaktion, die zugleich Schutz und Sicherheit vermittelt“, ist für den Aufbau von Beziehungen grundlegend (Weltzien & Söhnen 2019: 8). Besonders kommt es auf das feinfühlige Verhalten der Fachkräfte in Schlüsselsituationen an, in denen sie die Kinder bei der Regulation von Gefühlen unterstützen, Irritationen und Ängste aufgreifen und Trost gewähren. Gleichzeitig trägt es zum Gelingen der Beziehungs- und Interaktionsgestaltung bei, Kinder zur Exploration zu ermutigen und als sichere Basis zur Verfügung zu stehen, um Kindern in überfordernden Situationen Halt zu geben. Auf dieser Grundlage wird das Wohlbefinden der Kinder gesichert, wodurch sie auch negative emotionale Zustände leichter überwinden können (vgl. ebd.).
Die Feinfühligkeit im Interaktionsverhalten pädagogischer Fachkräfte ist in Deutschland mit unterschiedlichen Konzepten untersucht worden. Während sich professionelle Responsivität eher umfassend auf die Interaktionsgestaltung mit Kindern, Eltern, Teams und Netzwerkpartnern bezieht (vgl. Gutknecht 2015), richtet sich der Fokus in Untersuchungen zur feinfühligen Responsivität auf Interaktionen mit Krippenkindern (vgl. Schmelzeisen-Hagemann 2017). Mit dem Konzept der Sensitiven Responsivität wurde bereits vor zehn Jahren in einer Videostudie das feinfühlige Antwortverhalten pädagogischer Fachkräfte analysiert, die in Kindertageseinrichtungen mit Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren interagierten (vgl. Remsperger 2011).
Das sensitiv-responsive Interaktionsverhalten der Fachkräfte umfasst die Wahrnehmung der Interaktionssignale von Kindern sowie die angemessenen Reaktionen der Fachkräfte auf die Signale der Kinder (ebd.: 136). Folgende Merkmale kennzeichnen die pädagogische Sensitive Responsivität:
- Zugänglichkeit und Aufmerksamkeit als Voraussetzungen für das Bemerken von Signalen,
- Promptheit der Reaktion,
- Richtigkeit der Interpretation,
- Haltung (Akzeptanz, Wertschätzung, Interesse, Respekt vor der Autonomie der Kinder),
- Involvement (sich engagieren und einbringen),
- emotionales Klima (Gefühle zulassen und aufgreifen),
- Stimulation (Anregung der Bildungsprozesse von Kindern).
Pädagogische Fachkräfte, die in der Videostudie von Remsperger (2011) mit einer hohen Sensitiven Responsivität auf Kinder eingingen, hatten die Signale von Kindern sehr aufmerksam im Blick. Wenn Kinder stolz ihre Werke zeigten, aufgeregt über ein Erlebnis berichteten oder auf nonverbale Weise (etwa durch einen gesenkten Kopf) signalisierten, dass sie Aufmerksamkeit benötigten, reagierten die beobachteten Fachkräfte schnell und versuchten, die Bedürfnisse der Kinder zu ergründen. Dabei zeigten sie ein hohes Interesse an den Mitteilungen der Kinder. Sie hörten ihnen zu, ließen sie ausreden und spiegelten mit zugewandter Körperhaltung, konstantem Blickkontakt und unterstreichenden Gesten deren Signale. Indem die Fachkräfte den Kindern die Möglichkeit gaben, die Inhalte, das Tempo und den Verlauf von Interaktionen zu gestalten, brachten sie Kindern Akzeptanz und Wertschätzung entgegen und respektierten ihre Autonomie. Zugleich engagierten sich die Fachkräfte selbst für die Interaktion. Sie stellten anregende Fragen, sprachen und handelten gut verständlich und gingen konstant auf die Kinder ein. Vor allem aber respektierten und achteten sie die Gefühle der Kinder. Auf diese Weise schufen die beobachteten Fachkräfte ein Interaktionsklima, in dem sich die Kinder offen und angstfrei mitteilen konnten (vgl. Remsperger 2011, Remsperger-Kehm 2020d: 183 f.).
Heute stützen „zahlreiche Forschungsergebnisse die Annahme eines positiven Zusammenhangs zwischen einer hohen Interaktionsqualität zwischen Bezugsperson[en] und Kind[ern] auf der einen und kindlichen sozialen, emotionalen, motivationalen, sprachlichen und kognitiven Entwicklungsfortschritten auf der anderen Seite“ (Nentwig-Gesemann & Viernickel 2018: 1). Es zeigen sich unter anderem Einflüsse hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft von Kindern sowie ihrer Möglichkeiten, auf Lernimpulse einzugehen (vgl. Weltzien & Söhnen 2019: 8). Studien belegen, dass sich Kinder in Gruppenkontexten prosozialer verhalten und sich eher beteiligen, wenn Interaktionen in feinfühliger und engagierter Weise gestaltet werden und sich Kinder wohl und sicher fühlen (vgl. Weltzien 2018: 375 mit Verweis auf Glüer 2012). Zudem wird das Selbstwirksamkeitserleben von Kindern durch „die Ermutigung zur Exploration und die passgenaue Begleitung der Kinder in ihren zunehmenden Autonomiebestrebungen“ gefördert sowie die Entwicklung des Selbstkonzepts durch verlässliche und kooperativ gestaltete Interaktionen unterstützt (ebd.).
Dass die Bildungs- und Lernprozesse von Kindern durch eine feinfühlige Interaktionsgestaltung beeinflusst werden, war auch bereits das zentrale Ergebnis der Videostudie zur Sensitiven Responsivität (vgl. Remsperger 2011). Durch das sensitiv-responsive Antwortverhalten der Fachkräfte hatten die Kinder die Möglichkeit, sich mitzuteilen und den Interaktionsverlauf zu bestimmen. Sie ließen sich durch die Impulse der Fachkräfte anregen, weiteten ihre Aussagen aus, blieben interessiert „bei der Sache“ und führten eigene Handlungen und Gedankengänge weiter (vgl. ebd.).
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1 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Abschnitt im Beitrag von Remsperger-Kehm, Regina (2021). Beziehungen und Interaktionen gestalten. In Norbert Neuß & Samuel Kähler (Hrsg.) (i.D.). Grundwissen Kindheitspädagogik. Cornelsen Verlag.
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