Rawls und Kindgerechtigkeit in der Gesellschaft

Kieler sozialwissenschaftliche Revue 2-2024: Kinderrechte ernstgenommen. Mit Rawls über Rawls hinaus am Beispiel einer kindgerechten Grundstruktur der Gesellschaft

Kinderrechte ernstgenommen. Mit Rawls über Rawls hinaus am Beispiel einer kindgerechten Grundstruktur der Gesellschaft1

Thomas Reißberg2

Kieler sozialwissenschaftliche Revue, Heft 2-2024, S. 148-164.

 

Einleitung

Die Bezugsgröße, auf die sich Überlegungen zu einer kindgerechten Interpretation gesellschaftlicher Strukturen berufen können, sind die Rechte, wie sie 1989 in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen formuliert (vgl. BMFSFJ 2022) und in Deutschland seit 1992 rechtlich in Kraft sind.3 Diese Normen ernst zu nehmen, wie es Ronald Dworkin programmatisch für die Bürgerrechte fordert, kann und soll einerseits praktisch handlungsleitend sein und ist andererseits die theoretische Intention dieses Beitrags. Dessen Titel deutet auf Dworkins 1984 erschienenes Buch Bürgerrechte ernstgenommen. In dieser Absicht werden ausführlichere Gedanken zum Bild entwickelt, das man von Kindern als Menschen hat.4 Sind sie nur kleinere und jüngere Menschen, die über weniger Erfahrungswissen verfügen, oder unterscheiden sie sich darüber hinaus wesentlich von anderen Menschen?

Dennoch geht es hier nicht näher um Dworkin, sondern um einen anderen amerikanischen Philosophen, auf den auch Dworkin sich in seiner liberalen Kritik bezieht und dem er viele Impulse verdankt, nämlich um John Rawls und dessen grundlegende Theorie der Gerechtigkeit aus dem Jahr 1971 (Rawls 1979, 2005) sowie um sein Werk von 1993 Politischer Liberalismus (Rawls 2003a) und ebenfalls um den 2001 erschienenen Neuentwurf zur Gerechtigkeit als Fairness (Rawls 2003b)5 beziehungsweise insgesamt um das Modell seiner Gerechtigkeitstheorie. Mein Ziel ist es nämlich, mit deren Hilfe einen Ansatz zu konzipieren, mittels dessen dann Interessen von Kindern definiert und auch theoretisch erfasst werden, um daraufhin Gesetzgebungsprozesse, aber auch die zugrundeliegenden Grundsätze und Strukturen fundierter betrachten, bewerten und kritisieren zu können. Rawls Modell eignet sich besonders gut dafür, weil es intuitiv verstehbar ist: Jedes Kind kennt den Grundsatz, dass man sich vor dem Beginn eines Spiels auf dessen Regeln einigen muss, und zwar bevor irgendeine Position des Spielverlaufs bekannt ist. Wer bei Monopoly mitspielen will, kann sich vorher auf die schriftlich vorhandenen Spielregeln einigen, in denen verschiedene Mechanismen des Kapitalismus festgelegt sind, und muss es dann im Spielverlauf akzeptieren, wenn die anderen über die teureren Straßen, Häuser und Hotels verfügen und man selbst permanent im Gefängnis landet. Man kann sich auch vorher auf andere Regeln einigen, Gefängnisstrafen, unterschiedliche Miethöhen oder das Privateigentum abschaffen und ähnliches, aber nicht mitten im Spiel. So ähnlich funktioniert Rawls’ methodische Vorstellung eines „Schleiers der Unwissenheit“ (veil of ignorance), hinter dem wir nichts über unsere soziale Position, unser Alter, unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten, noch nicht einmal über die Zeit, in der wir als reale Personen nach dem Austritt aus einem solchen gedachten „Urzustand“ (original position) leben, wissen würden (vgl. 1979: 159 ff., 209; Höffe 2023: 29). Das Gedankenexperiment dieses Schleiers, durch das wir es gedanklich einüben, „einfach gemäß den entsprechenden Einschränkungen [zu; alle Anmerkungen von T. R.] denken“ (1979: 161), soll es ermöglichen, Gerechtigkeitsgrundsätze aufzustellen, ohne dass gesellschaftlich bereits vorentschieden ist, was als gerecht zu gelten hat. Das nennt Rawls die erste Stufe seines Vier-Stufen-Gangs6.

Bevor es aber zu einer dementsprechenden Anwendung der Rawlsschen Methode auf die ‚Kindgerechtigkeit‘ kommen kann, soll zunächst untersucht werden, wie Rawls selbst – sozusagen außerhalb des Kernbereichs der Theorie der Gerechtigkeit – mit dem Thema Kindheit umgeht und wie er dabei auf Rousseau Bezug nimmt. Man wird feststellen, dass Rawls Kinder nicht als aktiv handelnde Subjekte wahrnimmt, die sich die Welt aneignen, sondern als Menschen, mit denen umgegangen wird, die (moralisch) noch nicht fertig sind. Vieles läuft bei ihm auf einen wohlwollenden Paternalismus hinaus. Rawls Begriffe und Konzepte erzeugen insgesamt eine gewisse Ambivalenz, können aber – so die sehr optimistische Botschaft am Ende – mit seinen eigenen Argumenten einer Klärung nähergebracht werden.

Eine zweite Frage, mit der sich dieser Beitrag befasst, ist diejenige, ob und wie die Rawlssche vertragstheoretische Methode – also der Kernbereich seiner Theorie – auf die Gerechtigkeit gegenüber Kindern, hier etwas wortspielerisch mit ‚kindgerecht’ abgekürzt, angewendet werden kann. Hierzu wird es Hinweise auf einige unterbelichtete Stellen bei Rawls geben, die sich geradezu aufdrängen, wenn man die Kindgerechtigkeit ins Spiel bringt.

Berichtet werden kann als dritte und abschließende Frage von einer Anwendung bezogen auf die Artikel 6 des Grundgesetzes sowie der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen. An der Stelle wird auch deutlich werden, warum es so wichtig ist, ein einfach und intuitiv verstehbares Modell zu verwenden: Die hier in Anlehnung an Rawls entwickelte theoretische Konstruktion entstand in der Absicht, Studierenden des praxisorientierten Studiengangs Soziale Arbeit ein fundiertes und begründbares kritisches Verhältnis zu politischen Maßnahmen (wie Gesetzen) zu ermöglichen, die in diesem Fall Kinder betreffen.

1. Rawls zu den Begriffen Kind, Familie und Paternalismus

Im achten Kapitel seiner Theorie der Gerechtigkeit untersucht Rawls, wie Menschen ihren Gerechtigkeitssinn „als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung“ ausbilden können (Rawls 1977: 126), was wiederum die Voraussetzung für mögliche spätere Fragen etwa nach Grundsätzen der Gerechtigkeit ist. So lesen wir im „autoritätsorientierte Moralität“ überschriebenen Abschnitt 70 der Theorie der Gerechtigkeit:

Das erste Stadium der moralischen Entwicklung nenne ich die autoritätsorientierte Moralität. Gewisse Züge dieser Moralität bleiben in den späteren Stadien für besondere Gelegenheiten erhalten, doch in ihrer primitiven Form kann man die autoritätsorientiere Moralität als die des Kindes betrachten. […] Es [das Kind] hat weder das Wissen noch den Verstand, um die Führungsrolle der Eltern in Frage zu stellen. […] Es kann also die Berechtigung der elterlichen Befehle nicht denkend in Frage stellen (Rawls 1979: 503f.).

Im Unterschied zur Methode, die mit einem gedachten Urzustand hinter einem ebenfalls gedachten Schleier der Unwissenheit als Testperspektive beginnt, in den gedanklich jederzeit eingetreten werden kann, und der im Vier-Stufen-Gang dann mehr und mehr gelüftet wird, kombiniert Rawls hier eine von ihm postulierte Logik der Moralentwicklung – die zunächst einmal konstruktivistisch ist – mit einer biografischen Moralentwicklung real existierender Menschen. An die Stelle der bis hierhin mit großer Konsequenz durchgehaltenen konstruktivistischen Konzeption tritt, so meine These, nun eine eher naturrechtliche Argumentation, die auf Annahmen beruht, die nicht näher erläutert werden und deren Kronzeuge Rousseau zudem einer recht einseitigen Lesart unterzogen wird.7 Schon zu Beginn des Abschnitts arbeitet Rawls dabei mit Setzungen. Die autoritätsorientierte Moralität sei das erste Stadium der moralischen Entwicklung, deren primitive oder einfache Form als diejenige des Kindes betrachtet werden könne.

Unausgesprochen steht dahinter der Gedanke, dass Menschen von Geburt an, also vor dieser primitiven Form, gar keine Moralität besitzen. Es sei für das Kind kennzeichnend, dass es die ihm von den Autoritätspersonen gegebenen Vorschriften und Befehle noch nicht kritisch prüfen kann. Das Kind habe weder genug Wissen noch einen ausgebildeten Verstand, um die Führungsrolle der Eltern ernsthaft in Frage zu stellen.

Dann führt Rawls ein „psychologisches Gesetz“ ein, nämlich: „Das Kind liebt die Eltern nur, wenn sie es unverkennbar zuerst lieben“ (Rawls 1979: 504). In der Fußnote zu diesem Satz erfahren wir nicht nur, dass es sich dabei um ein Gesetz handelt, sondern auch, dass dieses Gesetz Rousseaus Émile entnommen wurde.

Hier lohnt es sich, etwas zu verharren und näher zu betrachten, was einerseits Rawls hiermit meint und was andererseits Rousseau hierzu sagt, um herauszuarbeiten, dass sie zwar etwas ähnliches im Sinn haben, aber eben doch nicht dasselbe.8 Sie kommen sozusagen durch umgekehrtes Vorgehen zu ähnlichen Ergebnissen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Rawls hier mit dem viel zu starken Begriff des „Gesetzes“ arbeitet, ein viel zu starkes „nur, wenn“ im oben zitierten Satz verwendet, aber eher eine Tendenz beschreibt, vielleicht auch ein heuristisches Modell, zumindest eine plausible Annahme. Auch im Jahr 1971 hätte Rawls kaum geleugnet, dass kindliche Liebe auch etwas anderes sein kann als Gegenliebe, auch damals war schon bekannt, dass es Kinder gibt, deren Liebe zu den Eltern wie ein Wunder wirkt, wenn man bedenkt, was sie anMisshandlung und Demütigung in ihrer Familie erfahren haben. Umgekehrt waren damals sicherlich auch Fälle bekannt, in denen Kinder ein instrumentelles Verhältnis gegenüber ihren Eltern hatten, sie keineswegs liebten, sondern sie verachteten, obwohl es ihnen nie an Elternliebe mangelte. Er beschreibt nicht die Realität in der modernen Gesellschaft (der USA, Westeuropas etc.), sondern operiert mit gedachten Eltern, die mit dem gedachten Kind in einer ebenfalls gedachten „wohlgeordnet[en]“ „Gesellschaft“ leben9. Unter deren Voraussetzung wird angenommen, dass „Vorschriften im großen und ganzen gerechtfertigt sind, daß sie einer vernünftigen Deutung der Familienpflichten im Sinne der Gerechtigkeitsgrundsätze entsprechen“ (Rawls 1979: 504). Für Rawls ist dieses „Gesetz“ der elterlich-kindlichen Gegenliebe auch eine Voraussetzung seines Gedankenexperiments des Urzustands, mit dem er am Ende darauf hinaus möchte, dass es sich beim Gerechtigkeitssinn um das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung handelt (s. etwa Höffe 2023: 29f.). Dazu weiter unten mehr.

1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags für ein Kolloquium an der Europa-Universität Flensburg im Juni 2024. Der Autor dankt insbesondere Hauke Brunkhorst und Carsten Schlüter Knauer sowie den Teilnehmenden für zahlreiche Hinweise.
2 Thomas Reißberg, Diplom-Sozialwissenschaftler, ist seit 2006 im Landtag von Nordrhein-Westfalen als wissenschaftlicher Referent tätig, seit 2019 im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Kindesmissbrauch. Weiterhin ist er Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Bochum sowie an der Katholischen Hochschule Köln.
3 Die damals abgegebene Vorbehaltserklärung Deutschlands, die dem Ausländerrecht noch einen Vorrang vor der Kinderrechtskonvention gab (Abschiebemöglichkeit von Kindern und Jugendlichen), wurde 2010 zurückgenommen.
4 Als Kind soll hier gemäß Artikel 1 der UN-Kinderrechtskonvention jeder Mensch verstanden werden, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt (vgl. BMFSFJ 2022: 12). Es geht in diesem Beitrag vor allem um Kinder in dem Sinne, dass sie noch nicht über das Wahlrecht verfügen, es aber aller Wahrscheinlichkeit nach später erlangen werden. Für Kinder mit einem anderen Status (zum Beispiel Flüchtlinge oder Kinder, die unter Beeinträchtigungen leiden, die ihnen auch später die Ausübung des Wahlrechts nicht ermöglichen werden) müsste der ganze Ansatz anders aufgebaut werden.
5 Sehr erhellend zur Werkgeschichte Rawls und der in der Folge seiner Hauptwerke deutlich werdenden ideengeschichtlichen Entwicklung ist Reiß (2023).
6 Die vier Stufen sind: 1. Gerechtigkeitsgrundsätze, 2. Verfassung, 3. Gesetze, 4. Rechtsprechung (vgl. Rawls 1979: 223ff.; Höffe 2023: 31f.).
7 Weitere Kronzeugen sind Kant, Mill, Piaget und in dessen Tradition Kohlberg (vgl. Gösele 2023: 322), auf die hier nicht näher eingegangen wird. Ein Folgeartikel ist beabsichtigt.
8 Für weitere Parallelen und Unterschiede zwischen Rousseau und Rawls gibt Roseneck (2023) einen guten Überblick mit weiterführenden Literaturhinweisen. Dabei geht es vor allem um Gerechtigkeit, den Kontraktualismus, den Stellenwert der öffentlichen Vernunft und weitere Fragen, nicht aber um den hier dargestellten Zusammenhang mit dem Émile.
9 Zum „Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft“ siehe Abschnitt 69 der Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1979: 493ff. sowie 21).

* * *

Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in Heft 2-2024 unserer Zeitschrift Kieler sozialwissenschaftliche Revue erschienen.

 

 

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Unsplash 2025, Foto: Rene Bernal