Eine Leseprobe aus Kinder stärken in Zeiten der Digitalisierung. In Krisen reflexive Energie entwickeln von Thomas Damberger und Edwin Hübner (Hrsg.), Kapitel „Einleitung und Überblick“.
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Einleitung und Überblick
Im Jahr 1900 veröffentlichte die schwedische Lehrerin Ellen Key ihr Buch mit dem Titel Barnets århundrade. Die Publikation wurde wenig später in zahlreiche Sprachen übersetzt und erschien 1902 erstmals in Deutschland unter dem Titel Das Jahrhundert des Kindes. Key widmet das Buch allen „Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden“ (Key 1992 [1900]: o.S.). Vehement verurteilt sie die vorherrschende Schule als eine Institution, in der die Seelen der Kinder gemordet werden, und verfasst ein Plädoyer für eine Schule der Zukunft. Das Leitmotiv des an dieser Schule stattfindenden Unterrichts soll eine „tiefe Ehrfurcht vor jedem religiösen Glauben, jedem ethischen Idealismus sowie vor der Göttlichkeit der eigenen Natur und des sie umgebenden Lebens“ (ebd.: 199) sein. Die Lehrer1 indessen begegnen den Schülern als allseitig gebildete Persönlichkeiten, die mit den Kindern zusammenleben und ihnen „das Verständnis und die Sympathie für alle großen Werte des Lebens“ (ebd.) vermitteln.
Die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende war (auch) eine hoffnungsvolle, optimistische, eine, die auf technologischen Fortschritt und auf die Weiterentwicklung der Menschheit insgesamt ausgerichtet war. Exemplarisch steht hierfür die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900, in der die Wunderwelt einer möglichen, vollautomatisierten Zukunft präsentiert wurde. Ebenso beispielhaft ist der 1910 von Arthur Brehmer herausgegebene Band Die Welt in 100 Jahren, in dem vor allem zeitgenössische Wissenschaftler und Wissenschaftsinteressierte (darunter übrigens auch Ellen Key) Zukunftsentwürfe vorgestellt haben: Das Begehen von Verbrechen wird, so ist nachzulesen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Ausdruck von Krankheit verstanden, dem medizintechnisch entgegengetreten werden wird. Telefone werden zu derart kleinen und mobilen Gegenständen avancieren, dass sie buchstäblich in der Westentasche mitgeführt werden können. Das Wachstum von Pflanzen wird durch Elektrizität beschleunigt werden und der dauerhafte Weltfriede wird eingetreten sein (Brehmer 2013 [1910]). Vier Jahre nach Erscheinen des Buches begann der Erste Weltkrieg.
Insbesondere die Hoffnung und das Vertrauen in die Wissenschaft (vor allem in die Naturwissenschaften) klingt auch im ersten Kapitel des Jahrhunderts des Kindes an. Dort ist die Rede vom Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen. Gemeint ist das Recht auf „Erbgesundheit“, das die angehenden Eltern bereits vor der Zeugung im Interesse des Kindes, mehr noch, im Interesse des Menschengeschlechts insgesamt zu berücksichtigen haben. Jürgen Helmchen versteht darunter „zunächst nichts weiter als die historisch gebundene Form, in der sich in der Publizistik Ellen Keys der grundsätzliche pädagogische Impuls traditioneller bürgerlicher Gesellschaft mit den Insignien moderner Wissenschaft oder mit einer wissenschaftskonformen Argumentation ausstatten zu müssen meint“ (Helmchen 2000: 285). Ähnlich argumentiert Ehrenhardt Skiera, indem er darauf verweist, dass Keys Arbeit in eine Zeit fällt, in der Eugenik und eine damit einhergehende Optimierung der Reproduktion der Bevölkerung „ernsthaft und größtenteils affirmativ diskutiert wurden“ (Skiera 2018: 85).
Dem Jahrhundert des Kindes liegt ein fortwirkendes ambivalentes Verhältnis zur Natur zugrunde, welches nach wie vor wissenschaftlich, auch wissenschaftlich- pädagogisch, virulent ist. Natur wird zum einen als etwas verstanden, von dem es sich zu befreien gilt. Zum anderen setzt die Natur den Möglichkeiten menschlicher Selbstentfaltung, ebenso der Selbst- und Weltgestaltung, Grenzen. Und zuletzt markiert der Naturbegriff einen der Erziehung und Bildung zugewiesenen Spielraum, sprich: jenes Feld zwischen natürlicher und kultureller Determination (Tenorth 2000).
Bei aller Hoffnung, die nicht zuletzt auch in der Pädagogik zu Beginn des letzten Jahrhunderts herauszulesen ist, wird in der reflektierten Rückschau das Wirken einer Entwicklung erkennbar, die im gegenwärtigen Jahrhundert ins Offensichtliche gelangt ist. Dieses Wirken darf als Ausdruck instrumenteller Vernunft verstanden werden, die sich durch eine fortwährende und umfassende Abstraktion auszeichnet und insbesondere die Bereiche Wissenschaft und Sozioökonomie umschließt. Das wesentliche Symptom dieser Abstraktion besteht in der De-Individualisierung. Vom Einzelnen, Besonderen wird abgesehen, um eine Vergleichbarkeit zu generieren (vgl. Dammer 2022: 123). In der Ökonomie ist das dem Vergleich dienende Abstraktum jener Tauschwert, den man in Form von Geld zu bemessen sich anschickt. In der Naturwissenschaft, beispielsweise in der Physik, ist es die Zahl. Als Erkenntnis der Natur wird die Physik auf die Mathematik, genauer: auf einen Aspekt dessen, was einst Mathemata war, reduziert – und zwar auf das Zahlenmäßige, Berechenbare (vgl. Heidegger 2003 [1938]: 78f.). Die Berechenbarkeit ist exakt und unterscheidet sich daher wesentlich von den Geisteswissenschaften.
Es ist kein Zufall, dass im Zuge der realistischen Wende der 1960er-Jahre die traditionelle geisteswissenschaftliche Dominanz der Pädagogik zugunsten eines sozialwissenschaftlichen Selbstverständnisses der Disziplin marginalisiert wurde und heute vor allem in der quantitativen Bildungsforschung ihre Zuspitzung erfahrt. Heinz-Joachim Heydorn sieht darin bereits Mitte der 1970er-Jahre eine Übertragung von Technologie auf den Bildungsprozess. Die Qualität des Menschen wird auf die Quantität reduziert; der Widerspruch von Wesen und Erscheinung wird aufgehoben, indem man die Erscheinung absolut setzt, und das genuin Menschliche löst sich in Statistik auf (vgl. Heydorn 2004 [1974]: 261f.).
In der Wirtschaft, der Sozioökonomie und auch in Kultur und Bildung zielt die abstrahierende instrumentelle Vernunft letztlich auf eine Verwertbarmachung (Kommodifizierung) ab. Der Wert, der ausschließlich ökonomisch verstanden wird, ist in seiner vom Wesenhaften losgelosten Form Spekulationen preisgegeben und damit außerordentlich krisenanfällig. Die militärischen Krisen und Kriege im Nachgang des 11. September 2001 und die Finanzkrise 2007/2008 erweisen sich hierfür als beispielhaft.
Das 21. Jahrhundert ist ein krisenhaftes und wird insbesondere von jungen Menschen weniger mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft assoziiert, sondern wird eher mit der Sorge bis hin zur Angst um die eigene Existenz und das Fortbestehen der Menschheit insgesamt begleitet. Kurzum: Das Leben selbst wird als bedroht wahrgenommen.
Dabei kann die Bedrohung als Ausdruck der skizzierten Herrschaft instrumenteller Vernunft verstanden werden, bedeutet sie doch immer auch ein Absehen vom einzelnen Menschen in seiner Einzigartig- und Unverwechselbarkeit. Sie zielt ab auf lebensentkernte Funktionalität, wobei keine noch so fortgeschrittene Optimierungstechnik Funktionalität verlebendigen kann. Pädagogik, die den Blick für die lebendigen Impulse des Kindes verliert und die Fähigkeit, diesen zur Entfaltung zu verhelfen, der Anpassung an das Gegebene opfert, steht in der Gefahr, selbst zum Teil dessen zu werden, was Hannah Arendt mahnend als „Herrschaft des Niemand“ (2007 [1963]: 59) zu bezeichnen wusste.
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1 Bei abstrakten Oberbegriffen wie bspw. Lehrer, Schüler, Jugendliche etc. wird durchgehend das generische Maskulinum, Femininum oder Neutrum verwendet. Sollten geschlechtsspezifische Unterscheidungen erforderlich sein, wird dies entsprechend zum Ausdruck gebracht.
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Thomas Damberger, Edwin Hübner (Hrsg.):
Kinder stärken in Zeiten der Digitalisierung. In Krisen reflexive Energie entwickeln
Die Herausgeber
Prof. Dr. Thomas Damberger, Freie Hochschule Stuttgart
Prof. Dr. Edwin Hübner, Freie Hochschule Stuttgart
Über „Kinder stärken in Zeiten der Digitalisierung“
Das digitalisierte und von multiplen Krisen geprägte Alltagsleben hat große Auswirkungen auf die Welt- und Selbstbeziehungen junger Menschen. Vor allem die zunehmende Verlagerung von Lern- und Lebensprozessen in den digitalen Raum erweist sich als Ausdruck vorherrschender Bildungsparadigmen, die mit einer Entpädagogisierung einhergehen. Der Band benennt aktuelle Herausforderungen und zeigt Ansätze für eine Verlebendigung des Pädagogischen in post-pandemischen Zeiten auf.
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