Jugendschutz für geflüchtete Kinder in Deutschland – Rechte und Realitäten
Lisa vom Felde, Laura Hilb, Daniela Rohleder
Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 3-2023, S. 315-330.
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt zunächst die Rechte von geflüchteten Kindern in Deutschland und deren zugrundeliegenden gesetzlichen Normen dar. Daraufhin werden anhand der UN-Kinderrechtskonvention einzelne Lebensbereiche, wie beispielsweise Unterbringung, Bildung und Gesundheitsversorgung, rechtlich beleuchtet und dargelegt, ob die damit verbundenen Rechte und Ansprüche auch in der Praxis durchgesetzt werden können. Hier werden konkrete Probleme benannt und die unterschiedliche Lebenssituation von begleiteten und unbegleiteten Kindern und Jugendlichen aufgezeigt.
Schlagwörter: UN-Kinderrechtskonvention, Kindeswohl, Flucht, Besondere Schutzbedürftigkeit, Psychische Gesundheit
Youth protection for refugee children in Germany – Legal rights and reality
Abstract
The article first portrays the legal rights of refugee children in Germany. Based on the UN Convention on the Rights of the Child, we then outline whether the associated rights can also be effectively enforced in practice in different areas of life, such as accommodation, education and health care. Concrete problems are described and the different living situations of accompanied and unaccompanied children and adolescents are made apparent.
Keywords: Convention on the rights of the child, Best interests of the child, Migration, Vulnerability, Mental health
1 Einleitung
In der medialen Berichterstattung – und damit auch im Erleben vieler Menschen in Deutschland – nehmen geflüchtete Kinder vergleichsweise wenig Raum ein. Dies steht im Kontrast dazu, dass fast die Hälfte der nach Deutschland geflohenen Menschen Kinder sind. Im Jahr 2021 waren 49,4 Prozent der Asylantragstellenden, das sind 73.281 Personen, jünger als 18 Jahre, von ihnen waren 29.016 im schulpflichtigen Alter (6–18 LJ) (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2022). 3.249 unbegleitete Minderjährige, d. h. Kinder und Jugendliche, die ohne Erziehungsberechtigte nach Deutschland eingereist sind, stellten in Deutschland einen Asylantrag (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2022). Diese Zahl ist geringer als die reale Zahl an unbegleitet geflüchteten Minderjährigen, die in Deutschland leben, da sie häufig keinen Asylantrag stellen, wenn Alternativen der Aufenthaltssicherung bestehen. Die meisten der geflüchteten Kinder und Jugendlichen leben hingegen mit ihren Eltern zusammen in Deutschland.
Für geflüchtete Kinder gelten, so wie für alle Kinder in Deutschland, grundlegende Kinderrechte. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der Kinderrechtskonvention beaufsichtigt, forderte Deutschland anlässlich seines 5./6. Staatenberichts auf, „einen besonderen Schwerpunkt auf Kinder in benachteiligten Situationen [zu legen], einschließlich asylsuchender Kinder, Kinder mit Migrations- und Fluchthintergrund, Kinder, die Minderheitengruppen angehören, Kinder mit Behinderungen, Kindern, die sich als LGBTQI+ identifizieren und sozioökonomisch benachteiligte Kinder” (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2022, S. 3). Es stellt sich also die Frage, welche Rechte (geflüchteten) Kindern zustehen und wie es mit deren Umsetzung in der Realität aussieht. In diesem Beitrag betrachten wir zunächst die Rechte von Kindern und in diesem Zuge insbesondere die spezifische Situation von begleitet und unbegleitet geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Daraufhin werden vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention einzelne Lebensbereiche, wie beispielsweise Unterbringung, Bildung und Gesundheitsversorgung, rechtlich beleuchtet und dargelegt, ob damit verbundene Rechte und Ansprüche auch in der Praxis durchgesetzt werden können. Im Ausblick zeigen wir abschließend die Chancen, aber auch die Grenzen von Schutzrechten und instrumenten für geflüchtete Kinder auf.
2 Kinderrechte in Deutschland
2.1 Rechtliche Grundlagen von Kinderrechten
In diesem Teil werden die rechtlichen Grundlagen von Kinderrechten dargelegt. Unterschiedliche (Rechts-)Ebenen spielen dabei eine Rolle, nämlich die völkerrechtliche, europarechtliche und nationale Ebene.
Auf völkerrechtlicher Ebene spielt die UN-Kinderrechtskonvention (im Folgenden: UN-KRK) eine zentrale Rolle. Die in drei Teile gegliederte Konvention vermittelt in ihrem ersten Teil mit mehr als 40 Artikeln umfassende Rechte in unterschiedlichen Bereichen: Von der Gesundheitsversorgung, über das Recht auf Identität, ein Umgangsrecht mit allen Eltern, politische Rechte, religiöse Freiheiten, Schutz vor Misshandlungen und anderen Gefahren und Verbrechen, Sicherstellung besonderer Bedarfe, wie bspw. bei Behinderungen, Bildung usw. Artikel 22 bezieht sich explizit auf geflüchtete Kinder. Der UN-KRK liegen vier Grundsätze zugrunde: Das Recht auf Gleichbehandlung, der Vorrang des Kindeswohls, das Recht auf Leben und die persönliche Entwicklung und Achtung vor der Meinung und dem Willen des Kindes (Save the children, 2018, S. 9; siehe auch Abschnitt 2.2).
Die Konvention gilt seit 2010 uneingeschränkt für alle Kinder bis zum 18. Lebensjahr in Deutschland und hat den Rang eines Bundesgesetzes. Zuvor hatte die Bundesregierung die Konvention mit einem Vorbehalt erklärt, der im Ergebnis bedeutete, dass sie nur begrenzt auf Kinder nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in Deutschland Anwendung fand. Bundes- und Landesregierungen, Behörden und andere Akteur*innen sind nunmehr an die Konvention gebunden – einklagbar sind die Rechte deswegen allerdings noch nicht. Es gibt zwar die Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, sich an den UN-Kinderrechtsausschuss zu wenden, um verletzte Rechte geltend zu machen. Dafür muss allerdings zunächst der nationale Rechtsweg erschöpft sein, was eine große Hürde für Betroffene darstellt. Außerdem ist die Kenntnis über solche Beschwerdeformen in Deutschland sehr gering, und die Ergebnisse sind keine vollstreckbaren Urteile (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, 2014, S. 5).
Auf europäischer Ebene sind vor allem die EU-Grundrechte-Charta und einige EU-Richtlinien relevant. Durch sie ist die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls bei behördlichen Entscheidungen festgehalten. EU-Richtlinien gelten in Deutschland nicht unmittelbar, sondern müssen grundsätzlich innerhalb einer bestimmten Frist durch die EUMitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Dies ist bei der für geflüchtete Kinder hauptsächlich relevanten EU-Aufnahmerichtlinie trotz Ablauf der Umsetzungsfrist noch nicht geschehen. Einzelpersonen können sich dennoch unter bestimmten Voraussetzungen auf sie berufen, wenn die betreffende Regelung hinreichend genau und bedingungsunabhängig ist und subjektive Rechte aus ihr ableitbar sind (European Union, 2022). Durch die EU-Aufnahmerichtlinie werden Kinder als Personengruppe mit besonderem Schutzbedarf gesehen, sodass ihnen umfassende Rechte gewährt werden müssen (Art. 21). Im deutschen Grundgesetz finden sich keine ausdrücklichen Kinderrechte. Kinder werden bei dem Schutz der Familie mitgenannt (Art. 6 GG), stehen aber nicht im Mittelpunkt der Vorschrift. Den zunehmend im Fokus von Kinderrechten stehenden Begriff des Kindeswohls kennt das Grundgesetz ebenfalls nicht. Im deutschen nationalen Recht finden sich vor allem im Familienrecht (4. Buch des BGB) Vorschriften zum Schutz des Kindes (vor allem im Falle einer Scheidung), im SGB VIII und im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz.
Das SGB VIII ist zentral für die Kinder- und Jugendhilfe, sowohl von unbegleiteten als auch von im Familienverbund geflüchteten Kindern. Allerdings ist die Lebenswirklichkeit dieser beiden Gruppen sehr unterschiedlich: Die meisten unbegleiteten Minderjährigen leben in Wohngruppen, da die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Gewährung von Obhut verpflichtet sind und das Jugendamt somit für eine angemessene Unterbringung, Betreuung und rechtliche Unterstützung sorgen muss. Familien sind hingegen – wie die meisten schutzsuchenden Personen – verpflichtet, für eine begrenzte Zeit in Aufnahmeeinrichtungen zu leben.
2.2 Allgemeine Grundsätze der UN-KRK
Die UN-KRK ist das zentrale Dokument für die Rechte von Kindern. Dadurch dass Deutschland diese ratifiziert hat, ist die Bundesrepublik angewiesen, die dort enthaltenen Rechte allen, und zwar auch geflüchteten Kindern, zu gewähren. Vier zentrale Grundsätze der UN-KRK sind bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, zu berücksichtigen und werden im folgenden dargestellt. Dass diese Grundsätze jedoch nicht umfassend in den einzelnen Lebensbereichen von geflüchteten Kindern in Deutschland umgesetzt werden, wird in Abschnitt 3 näher dargestellt.
Ein wichtiger Grundsatz der UN-KRK ist das in Art. 2 enthaltene Diskriminierungsverbot. Die National Coalition Deutschland (im Folgenden NC), ein Netzwerk zur Umsetzung der UN-KRK, bestehend aus verschiedensten Kinderrechts-Akteur*innen, stellt fest, dass gesellschaftliche Polarisierungen und strukturelle Diskriminierung ganz besonders geflüchtete Kinder und Jugendliche betreffen, die gemäß Art. 22 UN-KRK besondere Schutzrechte haben (National Coalition, 2019, S. 21). Da sich geflüchtete Kinder im Vergleich zu anderen Kindern in Deutschland häufig in vulnerableren Lebenslagen befinden, verstärken sich die staatlichen Schutzpflichten in Bezug auf sie, um Diskriminierung zu verhindern (UNICEF & DIMR, 2020, S.24).
Das Kindeswohl, ein weiterer Grundsatz, ist als übergeordnetes Konzept zu verstehen und muss bei Entscheidungen von allen Akteur*innen vorrangig berücksichtigt werden, so regelt es Art. 3 der UN-KRK. Im Mittelpunkt sollen dabei das Wohlergehen, die Entwicklung und der eigene Wille des Kindes stehen.
Im nationalen Recht gibt es keine eindeutige Definition des Kindeswohls. Es wird zwar in einigen Bereichen als leitendes Prinzip anerkannt, im Aufenthalts- und Asylrecht ist es hingegen unbekannt (National Coalition, 2019, S. 24). Da das deutsche Grundgesetz den Vorrang des Kindeswohls nicht enthält, ist bei Konflikten zwischen der UN-KRK (welche als Bundesgesetz gilt) und dem Grundgesetz letzteres höherrangig (National Coalition, 2019, S. 24).
Das ist zugleich problematisch, weil der in der UN-KRK enthaltene Kindeswohlbegriff (“best interests of the child”) nicht deckungsgleich ist mit dem im deutschen Recht. Unter Zugrundelegung eines umfassenden Verständnisses des Kindeswohls umfasst dieses nämlich neben der Sicherheit eines Kindes auch die Sicherstellung dessen Wohlergehens, Entwicklung und Würde. Nach dieser Auffassung haben fast alle Rechte der UN-KRK eine kinderschützende Dimension (UNICEF & DIMR, 2020, S. 24). Kinderschutz im engeren Sinne hingegen bedeutet die (bloße) Abwehr einer (drohenden) Kindeswohlgefährdung, die definiert ist als “gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt” (§ 1666 Abs. 1 BGB).
Der dritte Grundsatz ist das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung. Die Folgen des Klimawandels bedrohen das Leben, den Wohnraum und die Versorgung vieler Kinder (National Coalition, 2019, S. 26). Menschen werden zunehmend aufgrund dieser Gefahren flüchten müssen und nicht mehr in ihre Lebensräume zurückkehren können. Schon 2021 mussten 7,3 Millionen Kinder aufgrund von Umweltkatastrophen fliehen (UNICEF, 2022). Eine Flucht im Zuge von Umweltveränderungen vermittelt bisher allerdings noch keinen rechtlichen Schutzstatus, insofern besteht hier eine Schutzlücke.
Das Recht des Kindes nach Art. 12 UN-KRK, seine Meinung frei zu äußern und dass diese angemessen und entsprechend des Alters und der Reife Berücksichtigung findet (vierter allgemeiner Grundsatz der UN-KRK), wird im deutschen Recht nur unvollständig umgesetzt. Dies liegt sowohl an der benannten fehlenden Berücksichtigung des Kindeswohls in allen Rechtsbereichen sowie am Verständnis des Kindeswohlsbegriffs im deutschen Recht. Kindeswohl wird weniger als Recht des Kindes und verbindliche Abwägungsleitlinie begriffen, sondern vielmehr geht es hier um Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen (Maywald, 2022, S. 27). Zentral müsste das Gehör der Interessen des Kindes und dessen Beteiligung im Vordergrund stehen, um eine umfassende Berücksichtigung der Meinung des Kindes tatsächlich zu gewährleisten (National Coalition, 2019, S. 24).
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