Kriminalität und Authentizität bei jugendlichen Gangsta-Rappern

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research Heft 1-2024: Jugend, Kriminalität und Gangsta-Rap. Eine empirische Annäherung an die Binnenperspektive junger Rapper auf Normverletzungen

Jugend, Kriminalität und Gangsta-Rap. Eine empirische Annäherung an die Binnenperspektive junger Rapper auf Normverletzungen

Bernd Dollinger

Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Heft 1-2024, S. 87-101.

 

Zusammenfassung
Gangsta-Rap ist seit längerer Zeit Gegenstand öffentlicher Kontroversen, zumal mit Blick auf Normverletzungen wie Kriminalität. Dieses Thema wird in dem Beitrag ausgehend von Interaktionen Jugendlicher behandelt, die Songs des Genres Gangsta-Rap produzieren. Anhand von Gruppendiskussion wird erschlossen, wie Jugendliche Kriminalität in Songs einbinden. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Nutzung von Semantiken der Kriminalität gruppenintern kontrolliert und an Vorgaben von Authentizität gebunden wird: bestimmte Arten von Kriminalität dürfen nur von bestimmten Personen thematisiert werden, die für die Echtheit der Darstellungen bürgen. In der Konfrontation mit Kritik von außen kann dies allerdings invertiert werden: Kriminalitätsdarstellungen erscheinen dann als bloße Simulierung bzw. Inszenierung ohne realen Gehalt. In jedem Fall folgen diese Darstellungen sozial regulierten Vorgaben eines musikalischen Genres, das Provokationen einfordert.

Schlagwörter: Gangsta-Rap, Jugendliche, Kriminalität, Authentizität

 

Youth, crime, and gangsta rap. An Empirical Approach to the Internal Perspective of Young Rappers on Norm Violations

Abstract
Gangsta rap has been the subject of public controversy for quite some time, especially with regard to norm violations such as criminality. This contribution analyses this topic based on interactions of young people who produce songs of the genre gangsta rap. Predicated on group discussions, the focus is on how young rappers integrate criminality into songs. The results show that the use of semantics of criminality is controlled within the group and bound to specifications of authenticity: certain types of crimes may only be thematized by certain persons who vouch for the authenticity of the depictions. In the confrontation with criticism from outside, however, this requirement can become inverted: Representations of crime then appear as mere simulations or stagings without real content. In any case, these representations follow socially regulated standards of a musical genre that demands provocation.

Keywords: Gangsta-Rap, Youth, Crime, Authenticity

 

1 Gangsta-Rap als (Jugend-)Problem1

Seit den Ursprüngen in den späten 1980er Jahren in den USA wurde Gangsta-Rap zunehmend international rezipiert. Er fand eine breite Fanbasis insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und diese Beachtung wird bis in die Gegenwart unterschiedlich interpretiert (Seeliger, 2021). Hoffnungen auf emanzipatorisches bzw. subversives Potential, das Rap freilegen könne (Rose, 1994; Seeliger & Baum, 2022), finden sich ebenso wie die Besorgnis, er führe zu Gewalt, Drogenkonsum, Antisemitismus oder Misogynie (Kubrin & Weitzer, 2010).

Diese ambivalente Einschätzung ist gewiss nicht unerwartet. Musikalische Vorlieben, ästhetische Stile und Vergemeinschaftungsformen Jugendlicher treffen seit langer Zeit auf Kritik und Gegenreaktionen Erwachsener (Maratea & Monahan, 2016; Mrozek, 2019; Pearson, 1983); die frühen Cultural Studies etwa konstituierten sich nicht unwesentlich darüber, dass sie die betreffenden ästhetischen, sozialen und institutionellen Konflikte um Jugendund Musikkulturen analysierten und machtkritisch wendeten (Marchart, 2008). Gangsta- Rap eskaliert diese gewissermaßen ,etablierten‘ Auseinandersetzungen. Das Genre ist nach wie vor höchst erfolgreich, gleichzeitig wartet es regelmäßig mit Provokationen auf, die Aufmerksamkeit und Kritik nahezu garantieren (Gruber, 2017; Seeliger, 2021). Wenn davon ausgegangen wird, dass Diskurse über Jugend normative Vorgaben darüber kommunizieren, wie junge Menschen sein und leben sollten (Groenemeyer, 2014, S. 57), dann repräsentiert Gangsta-Rap ein prototypisches Beispiel dafür, welche Zuschreibungen an Jugendliche gerichtet werden und wie sich Jugendliche bzw. eine musikalische Szene mit diesen auseinandersetzen. Deutliches Übergewicht besitzen dabei Negativwertungen. Die verbreiteten Zurechnungen an Gangsta-Rap als Genre und an Rapper:innen2 als dessen Protagonist:innen beschreiben diese Musikrichtung regelmäßig als einen für Jugendliche gefährlichen Einfluss (zu entsprechenden Nachweisen Khan, 2022; Rose, 2008; Seeliger, 2021; als neueres Beispiel Baier & Grimm, 2023).

Man kann die öffentliche Debatte um Gangsta-Rap als derzeit relativ breit beforscht voraussetzen (als Überblicke z. B. Dietrich & Seeliger, 2022; Forman & Neal, 2012; Seeliger, 2021). Vergleichsweise wenig erschlossen ist hingegen die Frage, welche Bedeutung Jugendliche Gangsta-Rap und insbesondere den ihm eingeschriebenen Normverletzungen attestieren. Dieses Forschungsdesiderat ist, wie Kubrin und Weitzer (2010, S. 135) pointieren, angesichts der breiten öffentlichen Debatte „remarkable“.

2 Ein hybrider Forschungsstand

Es liegen zwar nicht zahlreiche, aber immerhin in den vergangenen Jahren zunehmend mehr Einblicke dazu vor, welche subjektiven und sozialen Bedeutungszuschreibungen junge Konsument:innen bezüglich Gangsta-Rap verfolgen. Um hierfür Beispiele zu nennen: Böder und Karabulut (2017, S. 267) beforschten jugendliche Konsument:innen von Gangsta-Rap als „Szeneakteure“ und legten einen Fokus auf das emanzipative Potential, das dem Genre attestiert wird. Im Ergebnis der Analyse einer Gruppendiskussion wird auf eine durch Gangsta-Rap bestärkte Positionierung in einem ungleichen gesellschaftlichen Raum verwiesen, durch die Jugendliche sich eine positive Gruppenidentität im Sinne einer „Selbstermächtigung“ (Böder & Karabulut, 2017, S. 281) zu geben suchen. Auf Gender-Konstruktionen bezogen sind Analysen von Herschelmann (2016) zu nennen. Auf der Grundlage von problemzentrierten Interviews mit Jugendlichen verweist er auf sehr unterschiedliche Möglichkeiten, Genderbezüge im Gangsta-Rap im Rekurs auf kulturell verfügbare Muster sexueller Zugehörigkeit zur Bearbeitung eigener Themen und Herausforderungen einzusetzen, sei es zur Verarbeitung eigener Probleme, zur Suche nach produktiven Möglichkeiten der Konfliktlösung oder anderem. Bandow (2022, S. 226) rekonstruierte durch Gruppendiskussionen die Auseinandersetzung von eher gelegentlichen Gangsta-Rap-Konsument:innen „mit politischen Themen und Deutungsangeboten aus dem Gangsta-Rap“. Sie verweist auf unterschiedliche Funktionen, die mit der Musik assoziiert werden, wobei eine sehr eigenständige, z. T. auch kritische Form des Umgangs mit Songs nachgezeichnet wird.

Dies sind drei Beispiele aus einer wachsenden, nationalen und internationalen Forschungslandschaft (zu weiteren Studien z. B. Dietrich & Seeliger, 2022; Forman & Neal, 2012; Jeffries, 2011; Kubrin & Weitzer, 2010). Es zeigt sich, nicht ganz unerwartet, eine große Bandbreite an Optionen der Bezugnahme, und zwar gleichsam auf beiden Seiten: Gangsta-Rap wird einerseits sehr unterschiedlich wahrgenommen, rezipiert oder ignoriert. Eine besondere Bedeutung besitzt dabei in der Regel der Umgang mit Normverletzungen. Die kontextabhängige Handhabung der mit ihnen assoziierten Grenzziehung von Konformität vs. Devianz wird genutzt, um sich als individuelle Person zu distinguieren, um gleichzeitig aber auch Zugehörigkeiten zu markieren; um bestimmte Werte und Normen zu bejahen, andere hingegen zu negieren (Fröhlich & Röder, 2017).3

Andererseits werden Studien in hohem Maße davon geprägt, wer wo von wem mit welchen Methoden und Erwartungen beforscht wird. Studien differieren erheblich bezüglich der eingenommenen normativen Einstellungen zu Themen wie Gewaltaffinität, Sexismus oder Emanzipation von benachteiligenden Lebensbedingungen (hierzu kritisch Kelley, 2012). Der Forschungsstand spiegelt damit die eingangs konstatierte Problematisierung wider, mit der Jugend in öffentlichen Diskursen sichtbar wird: Oftmals wird fokussiert, ob unerwünschte Phänomene wie Misogynie oder Antisemitismus von Jugendlichen zurückgewiesen oder reproduziert werden. Was Studien im Falle von Gangsta-Rap hierauf bezogen zeigen, ist, dass der Prozess der Rezeption komplex ist und je nach seinen Voraussetzungen unterschiedlich verläuft (Mahiri & Conner, 2003). Rap kann für Jugendliche sehr bedeutsam sein, bis hin zu der emanzipativen Erfahrung, dass man sich als spezifisches Subjekt mit ihm artikulieren kann. Was dies allerdings für die – für Gangsta-Rap letztlich konstitutive (Dollinger & Rieger, 2023; Ogbar, 2007) – Bedeutung von Kriminalität impliziert, bedarf weiterer Klärung.4

3 Empirischer Zugang

Gangsta-Rap ist mit Blick auf den Forschungsstand ein vielschichtiges Phänomen; angesichts seiner „incredible hybridity“ (Kelley, 2012, S. 147) lebt und zehrt er davon, dass ihm verschiedene, auch konfligierende Bedeutungen eingeschrieben werden können. Die vorliegende Studie setzt hier an, indem sie Prozesse der Bedeutungszuschreibung fokussiert: Es werden Jugendliche beforscht, die eine Affinität zu Gangsta-Rap zeigen und die in der Produktion von einschlägigen Songs aktiv sind. Die empirischen Daten, auf denen die folgenden Ausführungen begründet sind, wurden generiert, indem großstädtische Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit kontaktiert wurden, um in einem ersten heuristischen Zugriff zu eruieren, ob Rap bzw. Gangsta-Rap für zumindest einige, der die Einrichtungen besuchenden Jugendlichen von Relevanz war. Anschließend wurden vier Einrichtungen, für die dies zutraf, ausgewählt und sowohl ethnografisch wie auch mit Hilfe von Gruppendiskussionen näher beforscht. Dies resultierte in der Möglichkeit, Praktiken nicht nur der Rezeption, sondern auch der Produktion einschlägiger Songs aus dem Bereich Gangsta-Rap näher zu analysieren, da einige der kontaktierten Jugendlichen entsprechend aktiv waren. Die zugrundeliegende Forschungsfrage zielt darauf ab zu erschließen, welche Bedeutung Jugendliche Kriminalität im Gangsta-Rap zuweisen, wobei die Thematisierung von Kriminalität im Gangsta-Rap vorausgesetzt werden kann, insofern Kriminalität nicht unwesentlich das Genre definiert.

Es wurde bei den Erhebungen darauf geachtet, die Jugendlichen möglichst wenig durch Vorannahmen zu beeinflussen. Die Forschung fußt auf einer Haltung, die sich als „ethnomethodologische Indifferenz“ (Garfinkel & Sacks, 1976, S. 139) kennzeichnen lässt: Ob Sinnzuweisungen oder Praktiken der Jugendlichen situationsadäquat sind oder nicht, ob die Thematisierung von Kriminalität unterbunden werden sollte oder nicht, war für die Durchführung der Studie nicht von Belang. Das Interesse lag – auch vor dem Hintergrund mitunter stark normativ geprägter Forschungen zu Gangsta-Rap – in der Erschließung einschlägiger Bedeutungszuweisungen durch die Jugendlichen selbst, was durch Gruppendiskussionen realisiert werden kann (Bohnsack, 2007). Die Annäherung an das Feld erfolgte schrittweise im Rahmen einer ethnografischen Erkundung des Feldes. Die Forschenden verbringen mehrere Monate in den Einrichtungen und führen – das Projekt dauert gegenwärtig noch an – in jeder besuchten Einrichtung je zwei Gruppendiskussionen mit Gangsta-Rap affinen Jugendlichen.5 Die ethnografischen Erhebungen werden in Feldprotokollen festgehalten, die Gruppendiskussionen audiographisch aufgezeichnet und transkribiert.

1 Der Beitrag wurde ermöglicht durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Transformationen des Populären“, Kennzahl 438577023. Für die im Text analysierten Erhebungen danke ich Julia Rieger.
2 In diesem Beitrag wird unterschiedlich gegendert: Von „Rappern“ wird mit Blick auf die beforschten jungen, nur männlichen Produzierenden von Rap-Musik des Samples gesprochen; bei Bezügen auf Rap-Produzierende insgesamt wird auf weibliche und männliche „Rapper:innen“ hingewiesen.
3 Die Bejahung etablierter Werte wird in Forschungen zu Gangsta-Rap meist auf Werte wie Familie, finanziellen Erfolg und die Anerkennung lokaler sozialer Bindungen bezogen (z. B. Leibnitz & Dietrich, 2012), während mit dem Fokus auf Kriminalität die Kontrastierung gesellschaftlicher und rechtlich fixierter Wertvorgaben verbunden wird (z. B. Baier & Grimm, 2023). Dies muss kein Widerspruch sein. Die Art von Kriminalität, die im Rap inszeniert wird, folgt ihrerseits besonderen Wertbindungen (siehe unten).
4 Dass die Inszenierung von Kriminalität zwar ein zentrales Thema ist, das aber oftmals mit anderen verwoben ist, wird im Forschungsstand deutlich und kann im vorliegenden Beitrag nicht näher entfaltet werden. Für weitere Fokusse der Rezeption sei auf die zitierten Studien verwiesen; zur Darstellung von Geschlechtszugehörigkeit zudem z. B. Süß (2021).
5 „Gangsta-Rap“ ist eine Bezeichnung des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses, nicht der Jugendlichen selbst. Sie wird hier genutzt, um an die etablierten Diskurse anzuschließen.

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